16. Dezember 2018

Bei jeder Weihnachtskugel, die Simon aufhängte, schaute er zögernd in meine Richtung. Er war dicker geworden; sein The-Simpsons-T-Shirt fiel anders, Homers Schnute saß nicht länger genau auf Nabelhöhe, sondern zwei Zentimeter darüber.

Seit Anfang der Woche waren wir zusammen zu Hause geblieben, ohne das Geschäft, das offen gehalten werden musste, oder anderweitige Pflichten. Wir hatten uns hauptsächlich Animationsserien angeschaut, deren Folgen Simon schon alle kannte. Die Nordmanntanne hatte während dieser ganzen Zeit kahl in der Wohnung gestanden, durch die Wärme hatten sich die Zweige gesenkt, sie selbst hatte immer weniger Hoffnung.

Nicht nur beim Baumschmücken brauchte Simon meine Bestätigung, er konnte nicht einmal mehr ein Spiegelei

Bei Tisch rückte er mit seinem Stuhl immer weiter an meinen heran, bis es fast praktischer wäre, uns einen Teller zu teilen. Die meiste Zeit, die ich zu Hause war, folgte er mir durch die Wohnung, wie Hunde es bei ihren Herrchen tun, die etwas zu essen in der Tasche haben. Er stellte sich hinter mich, wenn ich kochte, folgte mir in jedes Zimmer, setzte sich neben mich, wenn ich mir auf der Bettkante die Schuhe zuband, wartete schweigend, wenn ich mir den Mantel anzog, und wenn ich auf der Toilette saß, schaute er mich von der offenen Tür her an, immer mit dem gleichen leeren, traurigen Blick – ein hungriger Hund, der auf etwas anderes hofft als das, was bereits in seinem Napf liegt. Ich besaß Geduld wie eine Tube Zahnpasta: Solange man nicht aufgibt, kann man zur eigenen Überraschung immer noch etwas herausdrücken.

 

»Simon, sorry, aber darf ich mal in Ruhe kacken?«, sagte ich eines Morgens. Er trat einen Schritt zurück, schloss die Toilettentür, ich konnte hören, dass er auf der anderen Seite stehen blieb.

»Sorry, Schatz, komm ruhig wieder rein«, sagte ich.

Er sah zu, wie ich mir den Hintern abwischte.

Aus Angst, dass Nachbarn und Bekannte ihn aus den Augen verlieren könnten, versuchte ich, den sozialen Kontakt in seinem Namen aufrechtzuerhalten. Ich machte einen kleinen Schwatz auf der Straße und legte dabei den Arm um Simon, um zu betonen, dass das Interesse von uns beiden ausging,

Ich lebte abgesehen von einem Doppelleben auch noch anderthalb Leben. Ich war zu dem »i« in seinem »ich« geworden, hielt seinen Punkt in der Luft.

Unter einer Depression hatte ich mir wie unter einem Vulkanausbruch immer etwas Falsches vorgestellt. Von einem Vulkanausbruch hatte ich inzwischen Bilder gesehen, einen Film vom Kīlauea auf Hawaii – mit gnadenloser Beherrschung verschlang die Lava alles, was auf ihrem Weg lag, im Film war zu sehen, wie ein Mann zuschaute, während der dicke Brei die Straße überwand und quälend langsam seinen Wagen, seinen gesamten Garten und danach auch sein Haus versengte. Ich hatte es mir wieder und wieder angeschaut, um etwas daraus lernen zu können, es war ein Tutorial – exakt so bewegte sich eine Depression, träge war sie auf Simon gekrochen, hatte seine Geräteschuppen, sein Terrain, seine Fähigkeiten, seine Eigenschaften verschlungen und versengt.

Wenn wir gemeinsam auf einem Bürgersteig standen und ein Riesenfahrzeug donnerte vorbei, fasste ich seine Hand fester. Von Zeit zu Zeit sah ich mir seine Registerkarten und seinen Suchverlauf an, forschte nach, ob er Informationen über Selbstmord gegoogelt hatte, ich checkte auch unter »P« in der Hoffnung, er habe sich mit Pornos Vergnügen verschafft, doch das Einzige, wonach er gesucht hatte, war die Zubereitungsdauer eines Omeletts.

 

»Hast du deine Pillen genommen?«, war meine Standardfrage vor dem Schlafengehen und bei Tagesbeginn. Danach zählte ich die Lücken in den Durchdrückstreifen jedes Mal nach, um sicher zu sein. Es kam vor, dass Simon felsenfest

Um zu verhindern, dass er eine doppelte Dosis schluckte, kaufte ich in der Apotheke eine Pillendose, eine längliche Schachtel mit sieben herausschiebbaren kleinen Schubladen, jede von ihnen mit vier Fächern, die ich zu Wochenbeginn mit den richtigen Tabletten füllte. Wenn die Schachtel senkrecht auf der Anrichte stand, glich sie einem siebenstöckigen Wohngebäude im Miniformat mit bleichen Köpfen hinter jedem Fenster.

Regelmäßig sah ich die Skizze vor mir, die das Einhorn während Simons Entlassungsgespräch mit seinem Vierfarbenstift gezeichnet hatte, die beiden Linien, zwischen denen Simon ab jetzt bleiben würde. Auf der Zeichnung war zwischen den beiden roten Linien ein Abstand von ungefähr zwei Zentimetern gewesen, doch in Wirklichkeit blieb von diesem Raum kaum etwas übrig, man hatte ihn mit den Medikamenten in einem Bereich eingeklemmt, der fast zu schmal war zum Atmen, zum Existieren.

 

Eine Anpassung seiner Medikation erfolgte vorerst nicht. Zweimal hatte sich Simon im Labor Blut abnehmen lassen, um danach die Ergebnisse mit dem Einhorn zu besprechen, Gespräche, bei denen Simon mich lieber nicht dabeihatte. Dass er das Haus allein verließ, fand ich spannend, aber es passte mir auch gut in den Kram – ich konnte daheim ein oder zwei Stunden ungestört schreiben.

Das Einhorn fand, alles laufe recht gut, und Simon bestätigte das, erzählte er mir hinterher. Natürlich, Simon wollte nichts lieber, als die Tage dahingehen zu lassen, so wie jemand, der an einer Haltestelle steht und wartet, bei jedem halbvollen Bus zurückweicht und ihn in der Hoffnung weiterfahren lässt, dass noch ein halbleerer kommt.

 

Ich hörte es daran, wie Simon die Treppe heraufkam, wie er den Reißverschluss an seinem Mantel aufzog, an den Schritten, mit denen er zur Couch schlurfte: Man hatte ihn im Stich gelassen, jetzt hatte er nur noch mich.

Beim Einhorn hatte ich immer die Idee, er habe den wahren Simon nie gekannt, und damit habe er auch keinerlei richtigen Referenzpunkt. Bei seinem Nachfolger, bei dem auf der Website des Krankenhauses no image found als Porträtfoto stand, würde es ganz hoffnungslos sein.

In meinem Handy hatte ich kleine Videofilme aus unserer Anfangszeit, Ereignisse, die ich meiner Erinnerung nach festgehalten hatte. Der Zusammenbau des IKEA-Kleiderschranks, bei dem wir uns selbst gefilmt hatten, weil wir uns dann weniger zu kabbeln wagen würden; ein Zaubertrick, den Simon immer wieder vergeblich versuchte, bis wir uns vor Lachen kaum noch halten konnten; dass er unter Wasser einen fahren lassen würde und ich die Luftbläschen filmen sollte; ein Tor, das er als Stürmer beim FC Tollers erzielte, wonach alle ihm um den Hals flogen; unsere Übertragung der Weltmeisterschaft im Nabelflusengolf mit Simon als seriösem Kommentator; seine versteckten kleinen Angewohnheiten, die ich heimlich festgehalten hatte; das Singen unter der Dusche, die Freudentänze; alle diese Momente wollte ich Doktor Khany zeigen, obwohl ich wusste, dass es so nicht funktionierte, es war nicht das Gleiche, war so, als würde man mit einem Modellfoto zum Friseur gehen.