Wir aßen immer häufiger schweigend. Er schlingend, ich langsam schluckend. Wenn Simon den Mund für einen neuen Bissen weit aufmachte, konnte ich die Leere fast sehen, die Wertlosigkeit steckte in allem, was er ausstrahlte, in seinem Schweiß, in den Augen. Ich versuchte, mich möglichst gut in seine Empfindungen hineinzuversetzen. Ich brachte ihm ein Mitgefühl entgegen, so groß, dass sein ganzes elendes Dasein hineinpassen würde, kein einziger Winkel durfte unbedeckt bleiben, doch er sah an meinem besorgten Blick, dass ich mir alle Mühe gab, mit ihm mitzuempfinden, wodurch seine Schuld noch größer wurde und seine Schultern noch stärker herabfielen – es sei seine Schuld, sorry, sorry –, und dann fühlte ich mich zusätzlich schuldig, weil ich sah, dass er sich deswegen schuldig fühlte, und so weiter und so fort. Wir waren wie ein Lautsprecher und ein Mikrophon, die sich zu nah beieinander befanden, wir verstärkten uns gegenseitig, bis bloß noch ein alles übertönendes Piepen zu hören war.

Ständig wollte ich ergründen, was er dachte, was er fühlte, was in ihm vorging, ich wollte, dass er sich in Worten ausdrückte, diese Worte würden es konkret machen, eingrenzen, erträglich machen.

Das hatte ich bei Lotte auch gemacht, sie in den ersten Monaten ihrer Schwangerschaft so oft gefragt, ob alles in Ordnung sei, ob ihr übel sei, bis es sie nervte. »Ich weiß, du meinst es nur lieb, aber du brauchst mich nicht bei jedem Aufstoßen zu fragen, ob ich mich übergeben muss, dann fühle ich mich nur noch elender.«

Ich hatte versucht, ihr zu erklären, dass ich sie nicht einfach ihrem Schicksal überlassen konnte. Ich musste mitfühlen, und um das tun zu können, musste ich genau wissen, wie schlimm es war.

Natürlich, Übelkeit oder Elend waren keine Einkaufstaschen, sie hatten keine Henkel, mit deren Hilfe man sich das Gewicht teilen konnte. Aber die Vorstellung, dass jemand genau wusste, wie schwer deine Tasche war, konnte doch auch schon helfen, oder?

»Du brauchst dich nicht schuldig zu fühlen, wenn du nicht die ganze Zeit daran denkst, wie übel es mir ist. Wenn ich einen Kotzeimer brauche, wenn du etwas tun kannst, um mir zu helfen, dann sag ich dir das schon.«

Einen Tag später war Lotte darauf zurückgekommen. »Vielleicht«, sagte sie vorsichtig, »solltest du mal mit einem Psychologen reden.«

 

Im Gegensatz zu Lotte ertrug Simon meine vielen Fragen – mit der gleichen bewunderungswürdigen Gelassenheit, mit der Kühe Dungfliegen an ihren Augen ertragen. Ich wünschte, er hätte wie Lotte die Kraft, mich wegzuschlagen, sein Recht auf ein eigenes Innenleben einzufordern, mich von allem Mitgefühl zu entbinden.

Es dauerte immer ein bisschen, bevor er eine Antwort auf meine Gefühlsfragen fand, als müsse er auf einer meterlangen Leiter in sich hinabsteigen, um dort nachzusehen.

»Och, ich fühle oder denke nicht viel Besonderes«, sagte er, wenn er die Leiter wieder ganz hinaufgestiegen war.

»Und wie fühlt sich das an, nichts Besonderes? Man denkt doch immer irgendwas, und sei es nur, dass man an das denkt, was man sieht, oder man hat ein Lied im Kopf. Freust du dich denn nicht auf irgendwas oder blickst zurück auf etwas?«

Ich hoffte für ihn, dass es in ihm nicht so leer war, wie es jetzt den Anschein hatte, dass er zumindest an Essen dachte.

Ich wusste genau, wie schlimm alles war, S. ging es schlechter, als es S. selbst bewusst war.

 

Ungefähr drei Monate nach unserem ersten und einzigen Gespräch traf ich Marianne vom CGG plötzlich im Supermarkt. Ich erkannte sie schon von weitem an ihrem runzligen Hals. Wir lächelten uns kurz an, und sie kam auf mich zu. Sie hielt eine Flasche Obstsaft und ein Brot in der Hand, vielleicht kam sie jeden Mittag zwischen zwei Sitzungen hierher, um sich etwas zu essen zu holen. Ich kaufte fürs Weihnachtsessen ein, hatte mich entschlossen, es doch festlich zu gestalten – drei Gänge, ein Curry mit Scampis, das ich noch nie gemacht hatte.

»Hallo, Leo, wie geht’s?«, fragte sie.

»Och, gut«, sagte ich, erstaunt, dass sie meinen Namen noch kannte. Ich wusste nicht, ob Psychologen auch im Delhaize das Berufsgeheimnis wahren mussten, sonst hätte ich ihr berichten können, dass sie sich mal die Seite drei der Libelle anschauen solle – dann könne sie sehen, dass ich genau das getan hatte, was sie mir aufgetragen hatte: Ich dachte jetzt auch an mich selbst.