Vor zehn Jahren

Simons Teil von Tinnekes Erbe hatte zunächst ein paar Monate lang unangerührt auf seinem Sparkonto gelegen. Er gab es nicht aus; er schenkte ihm nicht einmal Beachtung, es war ein Deal, den er nicht gutheißen wollte, Schmiergeld, mit dem der Tod seiner Mutter zu billig erkauft worden war.

Bavo hatte den Plan gefasst, das elterliche Herrenhaus renovieren zu lassen, um es an Expats zu vermieten, Simon hatte sich von seinem Vater auskaufen lassen. Als ich hörte, welchen Gesamtbetrag Simon danach besaß, hatte ich auf Immoweb eine Suche nach einer Wohnung gestartet, höchstens hundertachtzigtausend Euro, mindestens zwei Zimmer, im Zentrum von Brüssel gelegen. Wer in Brüssel wohnen wollte, durfte sich nicht am Rand einnisten, fand ich, das war genauso unbegreiflich wie Leute, die von der Kirschtorte die Kruste am leckersten fanden.

Vielleicht wollte ich auch im Herzen der Großstadt wohnen, um meinem Vater zu beweisen, dass er unrecht hatte. Er hatte immer behauptet, wenn im Fernsehen mal was über Brüssel kam, dass es die Stadt für Menschen war, die sich selbst nicht liebten, die glaubten, sie verdienten ein so mieses Leben inmitten all dieser Ausländer.

Jeden Morgen zur ungefähr gleichen Zeit bekam ich eine Benachrichtigungsmail mit einer Übersicht über alle kürzlich angebotenen Immobilien, die im Rahmen meines Budgets lagen. Ich sah mir die Fotos von Häusern an, die mich

Dass Simon dieses Erbe bekommen hatte, machte meine Beziehung zu ihm noch sicherer. Er konnte für sich selbst aufkommen, konnte im Notfall die teuersten Ärzte bezahlen, würde nicht aus heiterem Himmel abstürzen oder auf der Straße landen, und solange er mich liebte, würde er auch nicht zulassen, dass ich abstürzte.

Die passendsten Suchergebnisse legte ich auch Simon vor, um ihm eine Vorstellung davon zu geben, was er mit seinem Geld anfangen könnte. »Du kannst es ebenso gut in eine Immobilie investieren, sonst verkümmert es nur auf einem Sparbuch«, sagte ich, stolz darauf, dass ich mit jemandem über solche seriösen Themen reden konnte.

Simon stimmte zu. Ob es eine Etage in einem herrschaftlichen Haus mit Holzfußböden und bronzenen Türklinken werden sollte oder ein Neubauprojekt, das durfte ich entscheiden, er vertraute meinem Geschmack und hatte auch keine Zeit, sich mit so etwas zu beschäftigen, nur bei der Lage wollte er mitreden: Die Immobilie musste sich in Fahrradnähe zum Büro von Think Out Loud befinden.

In diesem kleinen Werbebüro in Schaarbeek, von zwei Brüsseler Dreißigern gegründet, hatte Simon im letzten Jahr seines Studiums ein Praktikum gemacht, und nachdem er sich gründliche Kenntnisse in Adobe InDesign, Illustrator und Sketch angeeignet hatte, indem er abende-, nächte- und wochenendenlang Online-Tutorials verfolgt hatte, hatten sie ihn nach dem Praktikum sofort eingestellt. Er hatte einen unbefristeten Vollzeitjob als Grafikdesigner bekommen, und den kombinierte er mit sozial-kulturellen Aktivitäten, die er ehrenamtlich lancierte – zum Beispiel, indem er bord-uurtjes, StickStunden, ins Leben rief, ein Projekt, bei dem er zusammen mit einer Modedesignerin Jugendlichen aus prekären

 

Ich vereinbarte Termine für Hausbesichtigungen und begab mich allein zu Vorsondierungen, um schon mal die Spreu vom Weizen zu trennen. Ich spielte die Erwachsene – dass ich, ein Mädchen aus dem Dorf, bei der Frage, wie so viel Geld angelegt werden sollte, etwas mitzureden hatte, nie zuvor hatte jemand so viel Vertrauen zu mir gehabt, und die Makler kamen nicht umhin, mich ernst zu nehmen. Zeitweise wünschte ich mir, mein Vater könnte mich sehen, könnte hören, wie ich mich auf Französisch durchschlug.

Wir gaben ein Angebot für die zweite Wohnung ab, zu der ich Simon schleppte, Schaarbeek war von dort aus gut mit dem Fahrrad zu erreichen und ebenso Buik & Boek, wo ich inzwischen angefangen hatte. Mittlerweile hatte Simon ungefähr viertausend Euro von seinen Ersparnissen in das Stickprojekt investiert, eine Großzügigkeit, für die ich ihn bewunderte, obwohl ich schweren Herzens auf Immoweb den Höchstbetrag für den Kauf unserer Wohnung entsprechend geändert hatte. Je länger es dauerte, bis wir etwas fanden, umso kleiner würde die Wohnung sein, die wir uns leisten konnten.

Unser Angebot wurde glücklicherweise noch in derselben Woche akzeptiert. Wir kauften die zweite Etage in einem dreistöckigen Haus, das am Boulevard de la Révision in Anderlecht lag, ganz in der Nähe der ehemaligen Veterinärhochschule. Die Wohnung hatte nur ein Schlafzimmer und würde renoviert werden müssen, besaß aber »enorm viel Potenzial«, mit großen Holztüren und Dielenboden, »eine perfekte Starterwohnung«.

Er war viel mehr als nur mein Fels in der Brandung, er war der aus Tausenden von Riffeln bestehende, vom Wind geformte, sich aus Pfützen zurückgebliebenen Meerwassers aufwölbende Sandstrand, über den man kilometerlange Spaziergänge machen konnte, ohne auch nur ein Mal nasse Füße zu bekommen.

So hatte er bei unserem zweiten Besuch vorab mit dem Makler geregelt, kurz bevor wir unser Angebot abgegeben hatten, dass wir bei den Nachbarn darüber und darunter klingeln konnten, um auch ihre Etagen einmal von innen zu sehen. Er wusste, mich würde das Wissen beruhigen, zwischen welchen Räumen ich eingeklemmt war, so dass ich mir bei den Geräuschen scharrender Tischbeine oder Schritte etwas vorstellen konnte, die von oben oder von unten zu hören waren.

Wir hatten ein paar Monate Zeit, die Umbauarbeiten durchzuführen, dann würden wir Simons Elternhaus räumen müssen – Bavo hatte sich entschlossen, das Anwesen doch zu verkaufen, um in Mailand ein Bed and Breakfast eröffnen zu können.

Dass sein Vater das Haus mit Gewinn veräußerte, machte Simon nichts aus. Er schaute nur nach vorn, baute mit unbändiger Energie detailversessen an unserem neuen Leben: Stundenlang konnte er zweifeln, ob in einem Werbeposter ein Komma hingehörte oder nicht, aber am Abend riss er dann mit ein paar kräftigen Hammerschlägen eine Wand ein, die zu nichts nötig war. Seine Lebhaftigkeit ängstigte mich

Die Abende und freien Wochenenden verbrachten wir zusammen im Staub. Wir nahmen Zwischendecken heraus, schliffen Holzböden und -türen, lackierten unbehandelte Oberflächen. Am Ende des Tages führten wir einander unsere staubigen hellbraunen Popel vor, die wir aus unseren Nasen gruben und auf einem Taschentuch nebeneinanderlegten, um zu schauen, wer auf Anhieb das längste Exemplar hervorgeangelt hatte, und dann wuschen wir uns mit demselben nassen Waschlappen.

Wir waren dort zu Hause, noch bevor wir dort wohnten.

 

In den ersten Monaten nach unserem Einzug redeten wir unheimlich viel über praktische Dinge. Wir wollten uns gegenseitig alles recht machen, uns die richtigen Angewohnheiten zulegen für unser kleines Reich. Es war wichtig, dass die Details stimmten, denn wir hatten keine Elternhäuser, keine Startrampen, zu denen wir zurückkehren konnten. Simons Vater ließ sich endgültig in Italien nieder, auf der Suche nach einem geeigneten Haus für sein Bed and Breakfast, das Bravissimo heißen sollte.

Unsere Wohnung sollte nicht nur ein Heim für uns beide sein, sondern auch eine Ehrerweisung an unsere Mütter. Wir legten fest, welches Gericht wir in Zukunft nach dem Rezept welcher Mutter zubereiten würden – meine Mutter gewann mit ihrem Schinken im Backofen und Simons Mutter mit ihrer Zubereitungsweise von Fleischbällchen in Tomatensoße. Wir wählten die Methoden, nach denen wir Hausarbeiten erledigen würden (beide wollten wir, dass der andere ein paar Gewohnheiten aus seinem Elternhaus beibehalten konnte,

 

Es entstanden stillschweigende Übereinkünfte. Ich zahlte Simon jeden Monat Miete, er bezahlte die Einkäufe, weil er bei TOL mehr verdiente und weil er wusste, dass ich nicht geneigt war, viel Geld in Supermärkten auszugeben, dass ich problemlos eine Woche lang mit drei Packungen Milch und ein paar Schachteln Frosties überleben könnte. Er wollte ausgewogene Mahlzeiten kochen, war von daheim gewöhnt, Mozzarella aus echter Büffelmilch zu essen und nicht den nach Pappe schmeckenden von der billigsten Hausmarke, er verwendete beim Kochen möglichst frische Kräuter und Biohühner und wollte, dass ich das auch lernte. Wir kochten jeden Abend zusammen, und weil es jetzt jemanden gab, für den ich sorgen konnte, sorgte ich auch besser für mich selbst. Er gewöhnte es mir ab, mich schuldig zu fühlen, wenn ich mir etwas gönnte, weil es keine Instanz gebe, die den Überblick behalte und am Ende des Jahrhunderts postum Medaillen an die Menschen verteile, die sich selbst am meisten versagt hatten.

 

Die Katze hatten wir schließlich über Lotte gefunden. Sie hatte mir von dem Wurf bei ihren Eltern erzählt, genau in einer Zeit, als Simon viel Arbeit hatte und ich abends oft allein zu Hause saß. Simon fand, es sei eine gute Idee, dass ich Gesellschaft von einem Haustier bekäme, und gönnte es mir, dass ich alles Notwendige bezahlte wie zum Beispiel das Katzenklo, damit ich auch etwas beisteuern konnte – er war so lieb, so zu tun, als ob der Kauf einer Wohnung und der eines Haustiers gleichwertige Ausgaben wären und wir jetzt quitt waren.

»Sieh uns an, Spruitje«, wiederholte ich bestimmt zehn Mal, als wir mit dem Kätzchen die Straße entlanggingen. Ich ließ Simon den Karton tragen. Es war fast nicht zu glauben, dass Lottes Eltern uns einfach hatten gehen lassen. Ich beeilte mich, aus Angst, sie könnten uns doch nachlaufen, weil sie es sich anders überlegt hatten – so ein Tier bei zwei Menschen mit verstorbenen Müttern, das konnte nicht gutgehen, die würden es viel zu sehr verhätscheln. Doch es geschah nichts, niemand verbot uns diesen impulsiven Entschluss, wir kamen zu Hause an, hoben die Katze aus dem Karton, und ich begriff, was passiert war: Simon und ich waren erwachsen geworden. Jetzt, wo wir zusammenlebten und eine Wohnung besaßen, gab es niemanden, der rangmäßig über uns stand, niemanden, der etwas über unsere Entscheidungen zu sagen

Jetzt hatten wir selbst ein Wesen in unsere Obhut genommen, ein Tier, das auf den Namen hören würde, den wir ihm geben würden. Stunden blätterten wir durch Namenswörterbücher, bis jeder von uns schließlich zwei Scrabble-Buchstaben zog und schaute, welcher Name sich damit bilden ließ. Zum Glück zog Simon einen Joker.

Wir ließen Daan in der ersten Nacht im Badezimmer zu sich kommen, dem kleinsten und geborgensten Raum der Wohnung, so dass sie von dort aus ihr neues Terrain um jeweils ein Zimmer erweitern konnte. Diesen Tipp hatten wir in einem Katzenratgeber gefunden. Sie war schon bald auf Erkundung losgezogen.

Daans Anwesenheit sorgte immer für ein Gesprächsthema, sie schlief zwischen uns, setzte sich mit an den Tisch und bettelte, und wenn man mit ihr allein zu Hause war, folgte sie einem in jedes Zimmer, so dass man nie einsam war. Wenn man in der Badewanne saß, setzte sie sich auf den Rand und trank einem schlückchenweise Wasser aus der Hand. Sie liebte Badewasser, besonders wenn man lange darin gelegen hatte. Manchmal füllte Simon, bevor er sich die Haare wusch, ein Fläschchen mit Badewasser und stellte es in den Kühlschrank, damit wir es später der Katze geben konnten. Er schrieb darauf: »Simon-Bouillon«.

Ziemlich schnell, nachdem Daan bei uns eingezogen war, nahm die Wohnung den Geruch an, den sie noch jahrelang haben sollte, eine Mischung aus unseren Körpergerüchen, angereichert mit Soupline-Weichspüler »Himmlische Frische« und der Holzstreu von Daans Katzenklo. Ein Geruch, den ich nie ohne weiteres heraufbeschwören konnte, den ich auch