Vorwort

In der Twelfth Street der Stadt Sparks in Nevada steht ein Haus, das so bescheiden ist, dass es sicher keine Aufmerksamkeit erregen würde, gäbe es da nicht den auffälligen Nippes im Vorgarten. Singvögel schwirren durch das Geäst eines kümmerlichen Baums, der ihnen mit seinen Samen und Früchten ein Festmahl bereitet, und eine selbst gebaute Rasensprenger-Konstruktion bewässert das winzige Rasenstück zwischen dem Haus und einem Maschendrahtzaun. Zwei Plastiknachbildungen von Jack-Daniels-Statuen bewachen die Tür zur verglasten Veranda.

Vor der Tür steht ein alter Mann, der uns erwartet. Kerzengerade steht er da, wirkt größer als seine 1,80 m und um ein Jahrzehnt jünger als seine über achtzig Jahre. Die in die Stirn gezogene Schirmmütze kann die Aura der selbstverständlichen, ansteckenden Freude nicht verbergen, die aus seinen himmelblauen Augen strahlt. Mit einem Lächeln kommt er uns entgegen.

»Ich bin Mitka«, sagt er und streckt uns eine breite Hand mit Fingern, die sich wie Hammerstiele anfühlen, entgegen. »Kommt rein, kommt rein.«

Er dreht sich um und öffnet uns die Tür.

Wir suchen uns einen Weg durch die enge Veranda, die vollgestopft ist mit solarbetriebenen Spielzeugen (»Die schenkt uns unser Enkel Stephen«), Postern mit abgedroschenen Parolen und diversen Kartons. Im Wohnzimmer hängt eine Elvis-Uhr, deren Zeiger im Sekundentakt vorrücken, neben einem Jesusbild. Eine Menora steht auf einem Bücherregal, eine andere schmückt den Kaminsims. Überall stehen und hängen Fotos.

Mitka erläutert uns die Sammlung, Stück für Stück, jedes mit seiner eigenen Geschichte. Oft erinnert etwas an die Person, die es ihm geschenkt hat. Manchmal beschreibt er, wie er ein Teil auf einer Reise mit der Familie gekauft hat. Während er spricht, werden die Gegenstände zu mehr als nur Souvenirs. Sie bergen persönliche Erinnerungen und verbinden Mitka mit Menschen und Orten.

Lynn Beck und Joel Lohr – meine Co-Autoren – gehen mit mir in den großen, aber dürftigen Raum, der sowohl Ess- als auch Wohnbereich ist. Wir finden unsere Plätze an einem Vierertisch. Mitkas Frau Adrienne sitzt am Kopf des Tisches, Mitka an ihrer Seite.

Es ist zwei Wochen her, dass mein Freund Joel, ein Professor, mit einer fantastischen Geschichte an mich herantrat. Bei einem zwanglosen Abendessen mit mir und Lynn (die auch meine Frau ist) erzählte er in groben Zügen die Geschichte von Mitka. Es handelte sich um eine Geschichte, die sein Nachbar Robert Lucchesi schon seit 25 Jahren hartnäckig versucht hatte, auf die Leinwand zu bringen, seit er Mitka beim Camping in Bodega Bay kennengelernt hatte. Interessenten an dem Projekt waren gekommen und gegangen, aber Mitkas Frau Adrienne hatte unerschütterlich auf ihrer Überzeugung beharrt, dass erst ein Buch geschrieben werden müsse, bevor man an einen Film denken könne.

Als Autor, der bereits einiges veröffentlicht hatte, hatte Joel Feuer gefangen und anfängliche Überlegungen angestellt, wie er Mitkas Geschichte in Buchform bringen könnte.

Aber er hatte Fragen. Er wusste, dass dies eine große Geschichte war. Meine Erfahrung als ehemaliger Agent einer Literaturagentur hatte Joel veranlasst, sie mir zu stellen. Ich beantwortete seine Fragen und dann pokerte ich ein bisschen: »Würden du und Robert – also, würdet ihr in Betracht ziehen, dass ich Mitkas Geschichte schreibe?«

Ich schickte Joel einige Probetexte, er las sie, und ein paar Tage später rief er an. »Kannst du einen Termin für eine Fahrt nach Sparks machen, um Mitka und Adrienne kennenzulernen? Am besten nächste Woche?«

Joel erklärte, dass diese Reise nur aus einem einzigen Grund notwendig war. Wenn ich – mit Unterstützung durch Lynn und Joel – der Autor von Mitkas Geschichte sein sollte, dann würde es auf eine einfache Frage hinauslaufen: Konnten Mitka und Adrienne uns ihre Geschichte anvertrauen?

Und so saßen wir in einem Haus, das seit sechs Jahrzehnten das Zuhause von Mitka und Adrienne Kalinski ist, zwei ungewöhnlichen Menschen, denen man nicht ansah, dass ihr Leben von einem der größten Verbrechen der westlichen Zivilisation geprägt wurde: dem Holocaust. Und jedem von uns, die wir dort um diesen Tisch saßen, wurde eines klar: Endlich war Mitka bereit, seine Geschichte erzählen zu lassen.

Mitka und Adrienne hatten dieses Haus 1961 gekauft, zwei Jahre, nachdem sie von North Tonawanda in New York nach Sparks gezogen waren. In Nevada hatte Mitka eine feste Arbeit gefunden und damit die Genugtuung, seine Familie ernähren zu können. Aber da gab es immer noch dieses Geheimnis, das er mit sich herumtrug: die Erinnerungen an seine Kindheit. Eine Kindheit in Eisenbahnwaggons, in Todeslagern und in der Sklaverei. Erinnerungen, die er sorgsam verborgen hielt, sogar vor seiner Frau und seinen Kindern.

Es war an einem Tag im Jahr 1981, als die Schrecken aus Mitkas früherem Leben – Schrecken, die jahrelang in ihm geschwelt hatten – schließlich in hellen Flammen aufloderten. Und wie bei einem Lauffeuer konnte sein Bedürfnis, seine Geschichte immer und immer wieder zu erzählen, von da an nicht mehr ausgelöscht werden.

Von diesem Tag an dokumentierte Adrienne alles, was Mitka sagte. Danach gingen die beiden akribisch jeder Spur nach, die sie finden konnten, um seine Erinnerungen zu überprüfen und zu bestätigen und die Wahrheit herauszufinden. Mitkas Erinnerungen beginnen um 1939, als Hitler gerade begonnen hatte, Tod und Zerstörung über Europa zu bringen.