Halb sieben. Hart war absichtlich früher gekommen. Er sah auf den Zettel, auf dem Suzanne ihm den Weg zu dem gemieteten Bungalow beschrieben hatte.
Offenbar plante sie, eine Weile zu bleiben.
Hart stieg aus und betrachtete das flache, gemauerte Gebäude. Die Wände waren hellbraun gestrichen, die Fensterrahmen türkisfarben, das Dach mit Ziegeln gedeckt – der übliche Stil im Südwesten. Gesteinsbrocken und einige Kakteen säumten den Pfad zur Tür.
Er drückte auf die Klingel und horchte auf den melodischen Glockenklang. Mehrere Sekunden vergingen. Keine Reaktion.
Hart schaute zu ihrem Mietwagen hinüber, der in der Auffahrt stand, dann zu einem halb geöffneten Fenster neben der Tür. Leise Musik drang durch die Spitzengardine. Er trat näher und stellte fest, dass man durch das ganze Haus bis zu einer offenen gläsernen Schiebetür und auf den Patio hinaussehen konnte. Suzanne saß auf einer Terrassenliege.
Er folgte dem gepflasterten Weg zur Rückseite. Da vernahm er Suzannes Stimme und blieb stehen.
„Ich weiß, es ist spät.“ Sie telefonierte. „Aber das Paket sollte in spätestens zwei Tagen abgehen.“ Sie machte eine Pause. „Sobald die Zahlung eingetroffen ist.“ Sie stand auf.
Hart trat hinter einen Rosenbusch an der Hausecke und beobachtete sie durch das Blätterwerk. Sie nickte, ging ans Ende der Terrasse und blickte in die Wüste hinaus.
Sie trug einen langen weißen Frotteebademantel, eine Sonnenbrille, und ihr Haar steckte unter einer Art Turban.
„Persönliche Übergabe ist wichtig“, sagte sie jetzt.
Erneut stiegen Zweifel und Misstrauen in ihm auf. Das Telefonat mochte völlig harmlos sein, doch solange seine Karriere, womöglich sein Leben auf dem Spiel stand, würde er auf der Hut sein. Auch Suzanne gegenüber.
Nachdem sie das Gespräch beendet hatte, blickte sie gedankenverloren zum Horizont. Dann legte sie das Handy auf den Terrassentisch und ging ins Haus.
Hart wartete angespannt, doch Suzanne kam nicht zurück. Lautlos überquerte er den Patio, griff nach dem Handy und zog sich wieder zurück. Entschlossen drückte er den Knopf für Wiederwahl und hielt den Hörer ans Ohr.
„Oui, hier Marsei.“
Hart fluchte und unterbrach die Verbindung.
Vor einer Stunde erst hatte er erfahren, dass das FBI einen bekannten französischen Spion verdächtigte, die gestohlenen Pläne gekauft zu haben. Der Mann war für jede Regierung, jede Terroristen- oder Mafiavereinigung tätig, die bereit war zu zahlen. Sein Name war Robert Marsei.
Zufall? Hart umklammerte das Handy. Obwohl Marsei in Frankreich kein ungewöhnlicher Name war, glaubte Hart nicht an einen Zufall.
Er holte tief Luft, legte das Handy zurück und eilte zur Vordertür. Hoffentlich hatte sie nicht aus dem Fenster geschaut und seinen Wagen bemerkt.
Wieder klingelte er, und sie öffnete fast augenblicklich.
Suzannes Puls ging schneller, als ihre Blicke sich trafen. Sie hatte ihn erst vor ein paar Stunden gesehen, doch sie musterte ihn so aufmerksam, als wäre es Jahre her. Er trug keine Uniform, sondern eine dunkelbraune Hose umhüllte seine langen sehnigen Beine. Unter dem weißen Hemd zeichnete sich seine muskulöse Brust ab, und eine braune Lederjacke betonte seine breiten Schultern.
„Komm doch herein“, brachte sie endlich heraus, überrascht davon, wie atemlos ihre Stimme klang.
Er ging an ihr vorbei in den Wohnraum und betrachtete die Einrichtung. „Hübsch hier, aber warum bist du aus dem Hotel ausgezogen?“ Er drehte sich zu ihr um, während sie die Haustür schloss. Sie sah ihn an, kam jedoch nicht auf ihn zu.
„Ach, ich mag keine Hotels und …“ Sie zuckte die Schultern. „Ich habe heute Morgen mit Clyde telefoniert, und er schlug mir vor, hier zu wohnen, wenn ich noch ein paar Tage bleibe. Das Haus gehört einem Bekannten von ihm, der sich meistens in L.A. aufhält.“
Hart nickte. „Klingt vernünftig.“ Erneut blickte er sich um. Dem Eigentümer schien es an Geld nicht zu mangeln, die Einrichtung wirkte sehr kostspielig.
„Ich hole nur eine Jacke und meine Tasche. Dann können wir gehen.“
Er begehrte sie, und er verfluchte sich dafür. Er hatte sich mit Überlegungen und Mutmaßungen ablenken wollen, doch nun verschlang er sie mit Blicken, sein Körper reagierte augenblicklich, er konnte an nichts anderes mehr denken.
Bademantel, Sonnenbrille und Turban waren verschwunden, die langen dunklen Wellen ihres Haars fielen auf ihre nackten Schultern. Sie trug ein schlichtes, rostrotes Seidenkleid, das sich verführerisch an jede Kurve ihres Körpers schmiegte und die Kupfertöne ihrer braunen Augen betonte.
Verlangen, heiß und hungrig, wuchs in ihm wie ein verzehrendes Feuer. Keine Frau hatte ihn so unmittelbar und so tief berührt, aber wenn er etwas im Leben gelernt hatte, dann waren das Wachsamkeit und Selbstbeherrschung.
Und als er sich all die Verdachtsmomente in Erinnerung rief, löschten kalte Wut und der Instinkt vor der Gefahr sein brennendes Begehren. Dennoch gelang es ihm, sie bewundernd anzulächeln.
Hart konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihnen jemand gefolgt war. Erneut sah er sich prüfend im Lokal um. Als sie Suzannes Haus verließen, war ihm ein schwarzes Auto aufgefallen, das auf der Straße parkte. Es war direkt nach ihnen gestartet und ihnen auf dem Weg zum Restaurant eine Weile gefolgt, wenn auch in gehörigem Abstand.
Irgendwann war der Wagen abgebogen, aber Hart blieb misstrauisch. Vermutlich war es jemand vom FBI, der sie beschattete.
Das italienische Lokal war von einer rustikalen Eleganz. Und es war ruhig. Suzanne setzte ihr Weinglas ab und warf einen Blick auf die Reste der Fettuccine mit Huhn. Es war ihr Lieblingsgericht, und sie hatte es kaum angerührt.
Aber es war nicht der Gedanke an die drohende jämmerliche Existenz in einem Staatsgefängnis, der ihr den Appetit nahm. Es war Harts Nähe, die sie nervös machte. Verstohlen sah sie ihn an, und sofort wurde sie von Empfindungen überschwemmt, die sie weder wahrhaben noch näher ergründen wollte.
„Es war sicherlich schwer für dich“, sagte Hart gerade, „noch einmal ganz von vorn anzufangen.“
Sie fragte sich, ob hinter der Bemerkung mehr stand als höfliches Interesse. „Ja und nein“, erwiderte sie mit der Schulter zuckend. Sie hatte keine Lust, auf Einzelheiten einzugehen.
Vor langer Zeit hatte sie beschlossen, es nicht wie ihre Mutter zu machen. Lyla Russell fiel von einer Romanze in die nächste und war mittlerweile bei ihrem sechsten – oder siebten? – Ehemann angelangt. Suzanne zählte nicht mehr mit.
Doch selbst wenn Rick von jenem Einsatz lebend zurückgekehrt wäre, hätte sie ihr Leben neu ordnen müssen. Die Ehe hatte am Abend seiner Abreise geendet. Doch das hatte sie nie jemandem gestanden.
„Trauerst du ihm noch immer nach?“
Die Frage riss Suzanne aus ihren Gedanken. Trauerte sie ihm nach? Sie überlegte eine Weile. Ja, sie trauerte um den Mann, den sie glaubte, geliebt zu haben, aber nicht um den, mit dem sie dann tatsächlich verheiratet gewesen war. „Ja“, sagte sie, weil sie wusste, dass Hart diese Antwort erwartete.
Eifersucht überfiel ihn, heiß und plötzlich, durchfuhr ihn, erschreckte ihn, bevor er dem Gefühl Einhalt gebieten konnte. Er wusste nicht, warum er sie nach all der Zeit, nach all den Geschehnissen noch immer begehrte. Was zum Teufel war mit ihm los? Schließlich war er in der Zwischenzeit mit anderen Frauen zusammen gewesen.
„Ja, ich auch“, stieß er hervor. Er sah ihr tief in die Augen, und wieder überrannte sein Misstrauen die unerwünschten Emotionen.
Was er in ihren Augen sah, stimmte jedoch nicht mit ihren Worten überein.
Suzanne strich mit dem Finger über den Rand ihres Weinglases. Im Geist verglich sie die beiden Männer. Rick war 1,76 Meter groß gewesen, Hart maß 1,83. Rick hatte ebenmäßige klassische Gesichtszüge sowie einen natürlichen ihm eigenen Charme besessen, dem niemand widerstehen konnte.
Harts Körperbau war schlank und sehnig, seine Züge wirkten unbehauen wie das unfertige Werk eines Bildhauers. Suzanne dachte an Granit, als sie die Nase mit der leichten Delle von einem längst vergessenen Bruch des Nasenbeins betrachtete; die unnachgiebige Kinnlinie; die hohen Wangenknochen, die sie an Wüstenfelsen erinnerten. Wenn sie dann aber in seine Augen sah, war es, als versänke sie in einem mitternächtlichen Himmel, der von Sternen übersät war.
Wie oft hatte sie früher in unbewachten Momenten in diese Augen geschaut, wenn er mit etwas anderem beschäftigt war? Und hatte dabei gewusst, wenn sie zu lange dorthinsah, würde sie sich nie mehr abwenden wollen. Wie oft hatte sie davon geträumt, ihre Hände in seinem Haar zu vergraben, sich gefragt, wie seine Lippen sich auf ihren anfühlen würden?
Und seine Stimme. Oh, wie sehr hatte sie diesen tiefen tröstlichen Klang mit dem texanischen Akzent vermisst.
Hart strahlte sowohl Härte als auch Verletzlichkeit aus. Diese Kombination hatte sie stets verwirrt – und gleichzeitig maßlos angezogen.
„So, so“, meinte Hart, riss sie damit aus ihren Erinnerungen und sich selbst aus einem Wirbel von Emotionen, die er lieber ignorieren wollte. „Du bist nach Los Angeles gezogen, hast neue Freunde, einen neuen Beruf – und ansonsten? Bist du liiert? In festen Händen? Verlobt?“
Er sah das schwache Lächeln um ihre Mundwinkel. Wieder empfand er Eifersucht, doch er sagte sich, dass ihr Privatleben ihn nichts anging – es sei denn, ihr Lover wäre zugleich ihr Komplize. Er wollte sich bloß mit ihr unterhalten und so viel wie möglich über sie erfahren, um sich ein klareres Bild von ihr machen zu können.
Hart merkte, dass sie bei seiner Frage offensichtlich an einen Mann dachte, genau wie er es beabsichtigt hatte. Jetzt wollte er wissen, an wen.
„Ist das zu persönlich?“, fragte er nach, als sie nicht antwortete.
Suzanne gab seinen Blick zurück. Unschuld lag darin, aber das musste nichts bedeuten. So naiv würde er nicht in die Falle tappen. Der Bericht über sie war nichtssagend, aber er war oberflächlich und in aller Eile verfasst worden.
Wenn sie schuldig war, und die Möglichkeit bestand durchaus, musste sie logischerweise einen Komplizen haben. Vielleicht stand sogar ein ganzes Land hinter ihr.
„Nein“, sagte Suzanne endlich und unterbrach Harts Spekulationen. „Es gibt keinen Mann in meinem Leben. Es sei denn, du zählst meinen Kater Dooby oder meinen Geschäftspartner Clyde dazu, der gleichzeitig mein Cousin und so sehr in Antiquitäten verliebt ist, dass er sich für keine Frau begeistern könnte.“
„Der Mann weiß nicht, was ihm entgeht“, bemerkte Hart.
Oder er weiß es nur zu gut, widersprach eine boshafte Stimme in seinem Kopf und erinnerte ihn damit an all den Verrat und Betrug, den er von Frauen erfahren hatte, die ihn angeblich geliebt hatten.
„Und du?“, erkundigte sich Suzanne mit einem neckenden Unterton. „Wo ist die Glückliche, die dein Herz gefangen hat?“
Plötzlich fühlte Hart sich von Sehnsucht erfasst, es kam gänzlich unerwartet und war beinah schmerzend.
Sie ist schuld an Ricks Tod, redete er sich ein, um die unerwünschten Gefühle abzuwehren. Und das FBI verdächtigt sie des Verrats.
Aber das FBI glaubt auch, Rick sei noch am Leben, entgegnete eine andere Stimme in ihm.
Er zwang sich zu lächeln und verwünschte die nagenden Zweifel ebenso wie den schier unwiderstehlichen Drang, ihr die Hand in den Nacken zu legen, sie an sich zu ziehen und zu küssen. Er wollte sie küssen, bis sie keine Luft mehr bekam und ihm die Wahrheit gestand.
„Das siehst du ganz richtig, Suzanne“, antwortete er schließlich. „Sie hat Glück. Weil sie ohne mich ist.“
Suzanne schüttelte den Kopf. „Nein, ich würde sagen, da hat sie Pech.“
„Ich hatte fast vergessen, wie wunderschön der Duft der Wüste ist“, sagte Suzanne, als sie neben Hart zu ihrem Bungalow ging. Sie hatten die Gründe, die sie nach Three Hills zurückgeführt hatten, nicht angesprochen, und Suzanne war dankbar dafür. Ein paar Stunden hatte sie die Bedrohung vergessen können, die über ihr Leben hereingebrochen war. An der Tür blieb sie stehen und wandte sich ihm zu. „Es war ein wunderbarer Abend, Hart. Danke.“
Offenbar wollte sie ihn nicht hineinbitten. Weil sie ihrem Komplizen Bericht erstatten musste?
Hart hielt ihren Blick fest, suchte die Antwort darin, und für den Bruchteil einer Sekunde wünschte er sich nichts anderes, als seine Zweifel zu vergessen, die Welt zu vergessen, alles außer seinem Begehren.
Sie war ihm so nahe.
Plötzlich flammte die bislang verleugnete, doch stets schwelende Leidenschaft hoch auf, Hart konnte sie nicht ersticken. Sie verzehrte ihn, er verspürte ein nie gekanntes Verlangen. Es nahm ihm alle Vernunft, machte seine jahrelang geübte, so hoch gehaltene Selbstdisziplin zunichte.
Hart schlang die Arme um Suzanne, zog sie an sich, presste ihren Körper an seinen und den Mund auf ihre Lippen, schnell und unerwartet, wie ein Jäger seine Beute ergreift. Die Grundlagen seines Lebens waren Kampf und Angriff. Niemand hatte ihm beigebracht, wie man sich etwas auf sanfte Weise verschaffte.
Doch sosehr die körperliche Nähe seine Leidenschaft schürte, so stark war auch sein Zorn. Sie war Ricks Frau gewesen, und sie hatte seinen Freund in den Tod getrieben. Schmerzlich durchfuhr ihn der Gedanke. Er wollte sie bestrafen – für Ricks Tod und für ihre Reize, dafür, dass er sie begehrte.
Doch er konnte es nicht, denn sie erwiderte seinen Kuss. Ihre Lippen waren weich, berauschend und ebenso begierig wie seine. Ein Feuersturm raste durch seinen Körper.
Alles versank in Leidenschaft. Die Realität verschwamm. Verlangen trübte sein Denken.
Suzanne war alles, was er sich wünschte und was er gleichzeitig meiden musste. Sie brachte Licht in sein Leben und zugleich die Dunkelheit, die ihn vernichten konnte. Sie war seine Hoffnung und sein Verderben.
Jetzt schlang sie ihm die Arme um den Hals, und seine Willenskraft verließ ihn. Eine Sehnsucht, die stärker war als alles andere, trieb ihn zu ihr.
Sein Kuss wurde intensiver, verzweifelter. Er spürte, wie ihre Zunge seine lockend umspielte. Sie stöhnte leise und erregte damit seine Leidenschaft noch mehr.
Suzanne presste sich an Hart. Mit jeder Faser ihres Körpers reagierte sie auf seinen Kuss, seine Berührung. Sie wusste, sie war kurz davor, sich zu vergessen. Zwar war Hart hier der Soldat, aber auch sie spürte Kampfeslust in sich aufsteigen. Sie begehrte ihn, und das schon so lange. Dennoch wollte sie ihn von sich stoßen und ihn zugleich näher an sich ziehen.
Plötzlich zerrissen Schüsse die Stille der Nacht.
Hart fuhr hoch und packte gleichzeitig Suzannes Arm. „Runter!“, befahl er und stieß sie zu Boden, indem er neben ihr auf die Knie sank und instinktiv dem Angreifer den Rücken wandte, um sie mit seinem Körper zu schützen.
Ein weiterer Knall.
Und da wurde Hart klar, dass es sich nicht um Schüsse handelte. Er rappelte sich hoch, sein Herz pochte laut sowohl vom Nachhall der Angst wie aus Ärger über sich selbst wegen diese dummen Irrtums. Er drehte sich um und blickte auf die Straße.
Ein altes, zerbeultes Auto ratterte mit stotterndem Motor und neuerlichen Fehlzündungen über die Kreuzung.
Düster starrte Hart ihm nach. Im Stillen fluchte er.
„Ich dachte, jemand schießt auf uns“, flüsterte Suzanne in die gespenstische Stille.
Hart stand auf. Er kam sich vor wie ein Idiot. Er war Soldat. Noch nie hatte er den Klang von Schüssen mit etwas anderem verwechselt. Bis jetzt.
„Wir sehen uns morgen“, erklärte er knapp. Ohne auf eine Antwort zu warten, machte er auf dem Absatz kehrt und ging zu seinem Wagen.
Fehlzündungen mit Schüssen zu verwechseln war nicht der einzige Fehler, den er an diesem Abend gemacht hatte. Er stieg in die Corvette. Was hatte er sich nur dabei gedacht, Suzanne zu küssen? Eine Falle so alt wie die Menschheit, die jede Frau benutzte, um bei einem Mann etwas Bestimmtes zu erreichen. Wie lieb und anschmiegsam sie wurden, sobald sie Männer hinters Licht führen wollten.
Aber dies war Suzanne, widersprach leise die Stimme der Vernunft. Er lachte spöttisch. Die Frau, die ihn in einem Motelzimmer allein gelassen hatte, war seine Mutter gewesen.
In seinem momentanen Zustand ließ er zu, dass Erinnerungen hochkamen, die er normalerweise unter Verschluss hielt. Immerhin würden sie ihn ablenken und das brennende Begehren in ihm abtöten.
„Bleib schön brav hier, Schatz“, hatte Corie Branson gesagt, „okay?“
„Darf ich noch ein bisschen Trickfilme sehen, Mommy?“, hatte Hart geantwortet, den Blick bereits wieder auf dem Bildschirm.
„Natürlich, Liebes. Und vergiss nie, ich habe dich lieb.“ Sie zupfte die Bettdecke um seine Beine zurecht. „Gib Mommy einen Kuss.“
Es war das letzte Mal, dass er seine Mutter gesehen hatte.
Viele Stunden später wachte er auf, als die Geschäftsführerin des Motels und ein Polizist ins Zimmer kamen. Sie waren nett, der Polizist hatte Hart einen Schokoriegel gegeben, und die Frau hatte ihm über den Kopf gestrichen. Sie sagten, er brauche keine Angst zu haben, und sie halfen ihm, seine Jacke anzuziehen. Dann hatten sie ihn in ein großes Haus gebracht, wo viele andere Kinder waren.
Damals hatte er nicht begriffen, was vorging. Später erklärte man ihm, dass seine Mutter die Polizei angerufen und gesagt hatte, sie könne nicht mehr zurückkommen. Dass sie ihren kleinen Sohn trotzdem sehr lieb habe und dass man sich bitte um ihn kümmern möge.
Es war eine gnädige Lüge, die die bittere Wahrheit überdecken und ihm Angst und Tränen ersparen sollte. Und diesen Zweck hatte sie auch erfüllt – für eine Weile.
Doch was immer die Sozialpflegerinnen und Erzieherinnen im Waisenhaus ihm auch erzählten, im Heranwachsen begriff Hart nur das eine: Seine Mutter hatte ihn verlassen und würde nie zurückkehren.
Die Erinnerungen waren ein Kaleidoskop des Schreckens, sie machten ihm das Herz schwer. Aber wenigstens vertrieben sie die Gedanken an Suzanne aus seinem Kopf und das Verlangen aus dem Körper.
Die Behörden hatten ihn zu seiner einzigen Verwandten gebracht, einer Tante. Die hatte jedoch bereits sechs eigene Kinder und einen Taugenichts zum Mann. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein weiteres Kind, noch dazu nicht einmal ihr eigenes.
Seine erste Pflegemutter war eine freundliche, großmütterliche Frau mit einem starken Hang zum Sadismus.
Die zweite liebte ihn wie ihr leibliches Kind, so glaubte er zumindest. Nach einer Weile gab er seine Abwehrhaltung auf und erwiderte ihre Liebe. Es war ein Fehler. Zwei Tage bevor die Adoptionsurkunde unterschrieben werden sollte, machte sie einen Rückzieher. Den Grund hatte Hart nie erfahren.
Die restlichen Jahre bis zum Erwachsensein verbrachte Hart im Waisenhaus. Er schloss sich niemandem an und erwartete von keinem tiefere Gefühle.
Dann lernte er Francie kennen, verliebte sich Hals über Kopf und heiratete sie. Ein halbes Jahr später kam er eines Tages überraschend nach Haus und fand sie im Bett mit einem Freund ihres Bruders. Die Scheidung war schnell erledigt, und er betäubte sich monatelang mit Alkohol. Schließlich begrub er mit einem letzten Versuch zu überleben all seine Gefühle und ging zur Army.
Hart seufzte. Er merkte, dass selbst die unangenehmsten Erinnerungen die Qualen nicht linderten, in die Suzanne ihn immer wieder stürzte.
Ihre Aussagen über Spione, Verhöre und Verfolgung klangen absurd. Und doch, trotz seiner Zweifel und des sogenannten gesunden Menschenverstands wollte etwas in ihm der Witwe seines Freundes glauben.
Vielleicht glaubte er ihr im tiefsten Innern bereits.
Es war albern, unprofessionell und höchstwahrscheinlich gefährlich. Er seufzte erneut. Ja, ein Teil von ihm glaubte ihr.
Minuten später bog Hart auf die schmale Landstraße ein, die zum Stützpunkt führte. Er wollte Antworten finden, also warum nicht gleich mit der Suche beginnen?
Suzanne stand auf der Veranda und sah Hart davonfahren. Noch lange, nachdem die Rücklichter bereits um die Ecke verschwunden waren, verharrte sie regungslos.
Warum hatte sie ihn so hemmungslos geküsst? Er vertraute ihr nicht, glaubte ihren Aussagen nicht, spielte vielleicht sogar mit ihren Gefühlen in der Hoffnung, sie würde Verrat, Mord und wer weiß was noch alles gestehen. Und sie war ihm hingebungsvoll in die Arme gesunken.
Sie wollte gerade ins Haus gehen, als sie ein anderes Auto herankommen sah, die Scheinwerfer gelöscht.
Instinktiv trat sie aus dem Lichtkreis der Verandalampe in den Schatten eines hohen Kaktus neben der Haustür.
Vor dem Haus gegenüber beleuchtete eine Lampe die Einfahrt. Suzanne bemühte sich, den Fahrer des Wagens zu erkennen. Fast hätte sie aufgeschrien. Sie war nicht ganz sicher, aber der Mann am Steuer schien eine Uniform zu tragen.
Mit einem Mal waren alle ihre Zweifel über Hart wie weggeblasen. Sie empfand nur noch Angst.
Sobald das Auto vorbeigefahren war, rannte sie ins Haus und knallte die Tür hinter sich zu. Hart wurde überwacht.
Sie stürzte in die Küche und zum Wandtelefon. Hart musste sofort gewarnt werden. Doch sie konnte nur hilflos das Schlüsselbrett anstarren – sie hatte seine Nummer nicht.
Furchtbare Fantasien von Spionen und Mördern erstanden in ihrem Geist. Sie eilte ins Schlafzimmer, ergriff ihre Tasche und suchte nach den Autoschlüsseln.
Dann hetzte sie wieder hinaus. Atemlos hielt sie auf der Veranda inne. Zu spät. Der Wagen war nicht mehr zu sehen.
Als Hart seine Wohnung betrat, klingelte das Telefon.
„Hart?“ Es war Suzanne.
Voller Sorge setzte sein Herz einen Schlag aus. „Was ist passiert, Suzanne?“
„Nichts. Ich meine, nicht direkt, aber ich glaube, jemand ist dir gefolgt, als du von mir weggefahren bist. Ungefähr eine Minute danach kam ein Wagen vorbei, er hatte kein Licht an und …“
Sie lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Sie wirkte hysterisch, und vermutlich glaubte er ihr nicht.
„Ich habe mir Sorgen gemacht“, setzte sie zögernd hinzu und kam sich plötzlich kindisch vor. Vielleicht bildete sie sich nur ein, dass der Mann hinter Hart her war. Ebenso wie sie meinte, der Fahrer habe ausgesehen wie Chief Carger. Vermutlich war es nur ein Nachbar gewesen, der noch irgendwohin wollte. „Aber ich lag wohl falsch, Hart. Du bist in Sicherheit. Und es ist spät.“ Sie redete einfach weiter, sie wollte nicht auflegen. „Ich lasse dich besser schlafen gehen. Wahrscheinlich habe ich das alles bloß fantasiert. Rick sagte immer, ich hätte eine blühende Fantasie. Wir sprechen uns morgen.“
„Suzanne“, erklärte Hart, bevor sie auflegen konnte, „mir ist niemand gefolgt.“
„Ich weiß. Schön.“ Ihr Lachen klang brüchig, sogar in ihren eigenen Ohren. „Sicherlich war es nur ein Nachbar. Er hatte seine Lichter noch nicht eingeschaltet. Gute Nacht, Hart.“
Damit legte sie auf.
Mit gemischten Gefühlen hängte Hart ein. Wenn sie nun doch recht hatte? Wurde er überwacht? Oder war es ein weiterer Trick von ihr, damit er verunsichert war und ihre verrückten Behauptungen für bare Münze nahm?
Er ging zum Fenster und spähte durch die Jalousie nach draußen. Niemand war zu sehen, kein fremdes Auto parkte auf der Straße.
Dennoch war es denkbar, dass jemand ihm gefolgt war. Wenn das FBI annahm, er sei Suzannes Komplize bei Verrat und Mord, würde es einen Mann auf ihn ansetzen.
Er wollte gerade die Lamellen loslassen, als er einen langen dunklen Wagen um die Ecke verschwinden sah. Mit gelöschten Scheinwerfern.
Ob das der Wagen war, den Suzanne meinte? „Ach, zum Teufel damit“, fluchte er und wandte sich vom Fenster ab. Für heute reichte es.
Eine halbe Stunde darauf lag Hart in seinem Bett, die Gefühle in Aufruhr. Er starrte ins Dunkel und sah nichts als die Szene auf der Veranda vor sich, wieder und wieder. Er hatte Suzanne in die Arme genommen, sie geküsst, ihren Körper an sich gepresst. Er hatte sich vergessen und sich in dem Moment so lebendig gefühlt wie seit Jahren nicht. Vielleicht wie noch nie in seinem ganzen kläglichen Leben.
Aber war sie schuldlos und wurde von jemandem benutzt? Oder war sie noch gerissener und durchtriebener als die anderen Frauen, die er kannte?
Er warf sich herum und hieb genervt mit der Faust auf das Kopfkissen.
„Verdammt.“ Hart sprang aus dem Bett und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Trotz aller Verwirrung und Wut hatte er nie eine Frau so sehr begehrt wie Suzanne Cassidy. Doch wenn er sich auf sie einließ, gefährdete er alles, was er sich inzwischen aufgebaut hatte.
Wenn die Regierung dieses Landes, für das er oft und oft sein Leben aufs Spiel gesetzt hatte, gegen eine schuldlose Frau intrigierte, sie gar vernichten wollte und ihn dazu gleich mit erledigen wollte, dann war sein Leben, seine Überzeugungen, dann war alles eine Farce.
Aber wenn sie schuldig war, bedeutete das …
Er mochte es drehen und wenden, wie er wollte. Was immer das Ergebnis sein würde, so oder so – er war geliefert.