Die Geschichte Kapitolos begann vor Tausenden von Jahren mit der ersten geflüsterten Erzählung am Feuer einer Kreatur, die bereits beinahe ein Mensch war.
Viele Generationen später erhob sich die Stadt auf den Überresten eines Dorfes, das auf den Grundmauern einer Siedlung errichtet worden war. Und das Flüstern am Feuer wurde eingefangen auf Pergament und Papier und zwischen die Seiten eines Buches gepresst. Die Stadt erhielt einen Namen und wuchs Jahr um Jahr und mit ihr die Wunder, die ihre Mauern beherbergten.
Kapitolo – die Stadt der Figuren.
Es heißt, wer nach Kapitolo kommt, dem ist es bestimmt, hier zu sein. Doch für niemanden ist die Stadt gleich. Manche sehen nur die breiten Alleen mit den zerfallenden Prunkhäusern und den vom Grünspan überzogenen Statuen auf den öffentlichen Plätzen. Andere wiederum spiegeln sich unentwegt mit den Wolken in den gläsernen Fassaden der Hochhäuser im Müntzviertel.
Selbst das Wetter ist für jeden anders. Regnet es in der einen Straße, bleibt es trocken in der nächsten. Hagelt es hühnereigroße Eisklumpen auf die Dächer von Autos und Booten drüben am Hafen, wirbeln weiche Schneeflocken zwischen den Windmühlenflügeln am westlichen Rand der Stadt.
Nur die Sonne brennt im Sommer für alle gleich und verpasst den Bewohnern gerötete Nasen.
Ich war zwölf, als ich die erste Figur sah, und sechzehn, als ich mit einer sprach. Den ersten Vertrag für ein Buch erhielt ich mit einundzwanzig. Natürlich war das nicht der erste Roman, den ich geschrieben habe, nur der erste, der seinen Weg aus meiner Schublade hinaus zu einer Agentur und anschließend zu einem Verlag gefunden hat.
Nach seinem Erscheinen nannte mich die wichtigste Tageszeitung der Stadt das Wunderkind der Literatur , nur um mein zweites Buch – eine Sammlung von Kurzgeschichten –, das genau ein Jahr später erschien, als Enttäuschung auf ganzer Linie zu bezeichnen. Ich solle mir mehr Zeit für das Schreiben nehmen, riet mir die Kritikerin.
Doch genau die besaß ich nicht. Immerhin musste ich das Eisen schmieden, solange es heiß war, das begriff ich bereits damals, so jung ich auch war. Die nächste fotogene Debütantin stand schon in den Startlöchern, um meinen Platz im Rampenlicht einzunehmen. Ich wollte Geld verdienen und allen beweisen, dass ich mit meiner Kunst auf eigenen Beinen stehen konnte, schließlich hatte ich das Studium dafür aufgegeben. Nach dem Erfolg des ersten Romans bildete ich mir ein, dass es nun ewig so weitergehen würde, ein Voranschreiten ohne Täler und Rückschläge. Ich war naiv und geschmeichelt – eine Kombination, die oft die Grundlage für Katastrophen bildet.
Es kam, wie es kommen musste: Mir rann das Geld nur so zwischen den Fingern hindurch, weil die Verkäufe leider nicht mit dem Kritikerlob mithalten konnten und sich das zweite Buch deutlich schlechter verkaufte. Also schrieb ich zunehmend schneller und verfasste zwei, manchmal sogar drei Romane pro Jahr, wechselte in beliebtere Genres, lieferte Kurzgeschichten für Magazine und Anthologien, um im Gespräch zu bleiben, und behauptete in jedem Interview, dass ich wenig Schlaf bräuchte.
Das stimmte natürlich nicht. Im Grunde befand ich mich während meiner Zwanziger in einem Zustand dauerhafter Erschöpfung, weil ich die meisten Nächte auf Partys und mit Schreiben verbrachte. Manchmal war ich so müde und verkatert, dass ich vergaß, an welchem Roman ich gerade arbeitete, und mit jedem Jahr wurde mein Stil schlampiger und die Anmerkungen meiner Lektorin länger.
Mit der Zeit bediente ich mich einer Reihe Pseudonyme, um gleichzeitig bei mehreren Verlagen zu veröffentlichen. Kate Winter schrieb fantastische Unterhaltungsromane für jedermann, Kate Raven verfasste Liebesromane zum Wegträumen und Kaden Andersson knallharte Krimis. Es fiel mir nicht schwer, zwischen den jeweiligen Autorenpersönlichkeiten hin und her zu wechseln. Während Kate Raven auf Lesungen stets süß und humorvoll auftrat, damit sie bloß niemandem auf die Füße trat, gab Kaden Andersson bärbeißige schriftliche Interviews (ich hatte einen Ex-Freund dafür bezahlt, dass er mir ein unscharfes Bild von sich als Autorenfoto zur Verfügung stellte), in denen er der Welt mehr Schlechtes als Rechtes unterstellte – und Kate Kowalski lag irgendwo dazwischen, doch auch ihre Interviews ließen ihr Leben deutlich interessanter erscheinen, als es in Wirklichkeit war.
Alles in allem war es jedoch ein einfacherer Job, als zum Beispiel jeden Tag schwere Möbel von einem Lkw herunterzuhieven, um sie anschließend in die vierte Etage zu tragen, das war mir schon bewusst. Mit anderen Worten: Ich kam zurecht. Mit einunddreißig war ich ein alter Hase und das Schreiben längst zur Routine geworden. Es diente dazu, Geld zu verdienen, von Kunst war schon lange keine Rede mehr, im Gegenteil. Wenn andere Autoren davon sprachen, dass Literatur nicht zu bloßem Handwerk verkommen dürfe, ärgerte ich mich darüber, wie geringschätzig auf meine Arbeit geblickt wurde, und hielt sie für hochnäsig und dünkelhaft. Tauchte in der Szene mal wieder ein sogenanntes Wunderkind auf, konnte ich nur noch nachsichtig lächeln. Ich hielt mich für abgeklärt. Fragte mich jemand, was ich beruflich tat, antwortete ich stets knapp und fügte hinzu: »Keine Angst, meine Figuren sind noch nie übergetreten, diese Art von Autorin bin ich nicht.«
Denn seien wir ehrlich, das ist es doch, was die meisten von Ihnen von uns Autoren glauben, deren Figuren nach Kapitolo kommen: dass wir die Kontrolle verloren haben, den Bezug zur Realität. Dass die Grenze zu unserer Fantasie durchlässig geworden ist, und diese Grenze, das wissen wir alle, muss unter allen Umständen aufrechterhalten werden. So tun, als ob ist nur in Ordnung, wenn wir Kinder sind. Tagträume sind gestattet, solange wir sie der Realität nicht vorziehen. Und was sind diese nach Kapitolo gelangten Figuren anderes als Ergebnisse eines Als-ob-Spiels, das wir mit uns und den Lesern spielen? Tagträume, die mit der Realität konkurrieren? Das ist es doch, was Sie denken, oder etwa nicht?
Sie nehmen an, dass wir einen Schritt zu weit gegangen sind und die Großzügigkeit der Öffentlichkeit, die es uns ermöglicht, vom Schreiben zu leben, damit entlohnen, sie durch unsere Figuren in Gefahr zu bringen. Sie sehen den Verdacht bestätigt, der von Anfang an auf uns liegt.
Dieses Misstrauen, das gebe ich zu, ist nicht ganz von der Hand zu weisen, immerhin machen wir etwas zu unserem Beruf, das uns in dieser Stadt stets an den Rand der Legalität führt. Dabei könnten wir an jedem anderen Ort der Welt schreiben, ohne die Konsequenzen des Übertritts zu befürchten. Trotzdem bleiben wir hier. Immer wieder werden wir daher gefragt, warum wir Kapitolo nicht verlassen – und immer wieder geben wir dieselben Antworten: Wir haben Familie hier. Wir haben schon immer hier gelebt . Hier gibt es die meisten Verlage, die meisten Messen und Veranstaltungen, das beste Publikum, die stärkste Kulturförderung, die besten Stipendien, überhaupt von allem das Beste! Und diese Antworten sind alle auf ihre Weise wahr, aber sie treffen nie den Kern. Die ehrlichste Antwort ist viel einfacher – und viel komplizierter, wie das immer mit solchen Dingen ist.
Sie lautet: Wir können uns dem Bann, den diese Stadt auf uns ausübt, einfach nicht entziehen; er bindet uns an ihre Straßen, Hügel und Plätze, wie Kinder an den Rockschoß ihrer Mutter, und gern nehmen wir das Risiko in Kauf, mit dem Gesetz in Konflikt zu geraten und die Missbilligung der Menschen auf uns zu ziehen. Denn das hier ist Kapitolo, die Stadt der Figuren! Wo sollten wir sonst leben?
Nur hier ist der Quell der Kreativität unerschöpflich. Schreibblockaden gibt es nicht, an jeder Ecke finden sich Dutzende Ideen, wenn man nur hinschaut. Die Stadt ist ein reich gefülltes Büfett der Sinne, das dazu einlädt, sich zu bedienen; für jeden Geschmack ist etwas dabei, kein Geist bleibt hungrig. Nur hier gibt es etwas, das außer uns niemand kann, weder Maler noch Bildhauer, weder Schauspieler noch Sänger. In jeder Figur steckt das Potenzial, in unserer Welt zu erscheinen, und wir können uns dem Reiz des Verbotenen nicht gänzlich entziehen. Schreibenden kann man nicht trauen, hat schon mein Professor an der Universität im Anfängerkurs für Kreatives Schreiben immer behauptet und damit nur ausgesprochen, was vermutlich wahr ist.
Denn wer möchte nicht etwas Besonderes sein? Seien Sie ehrlich, könnten Sie der Versuchung widerstehen?
Nirgendwo auf der Welt ist die Grenze zwischen Realität und Fantasie so durchlässig wie in Kapitolo. Dafür wurde die Stadt berühmt; das ist es, was Touristen anzieht und Einheimische nicht mehr groß überrascht. Jeder begegnet irgendwann einmal einer lebendig gewordenen Figur, wenn er nur lange genug hier lebt.
Doch jeder weiß auch, dass sie nicht hierhergehören. Figuren gehören in die Fantasie. Verlassen sie die Seiten eines Buchs, werden sie zum Problem.
Dies ist die Geschichte meines Problems.
Es wurde viel darüber geschrieben und berichtet, die Zeitungen waren voll damit, es gab Sondersendungen und mehrseitige Artikel – und über alles, was danach geschah und mit mir nur noch sehr wenig zu tun hatte. Doch kaum etwas davon kam der Wahrheit auch nur nahe. Mein Name wird auf ewig damit verbunden sein, und deshalb wird es Zeit, die Geschichte einmal so zu erzählen, wie sie wirklich passiert ist.
Ich tue also, was ich immer getan habe: Ich schreibe sie auf …