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W ie alles begann:
Ich kam an dem Tag in die Stadt, als der weiße Wal vor dem Kaufhaus der Wünsche starb.
Als ich das Tier durch die Autoscheibe erblickte, wusste ich sofort, dass der Wal nicht von dieser Welt war. Es ging ein Zittern von ihm aus, das sich auf jeden übertrug, der ihn ansah.
Bei seinem Anblick erfasste mich das Grauen wie zuletzt Jahre zuvor, als die Bäume vor meinem Fenster im Licht der Straßenlaternen Schatten an die Wand warfen. Jedes Kind kennt diese Angst, die mit den flackernden Schatten einhergeht. Weil aus ihnen Monster erwachsen können, die uns bis in unsere Träume verfolgen.
Der Gestank des sterbenden Wals zog durch die Straßen, und die Leute schlossen Fenster und Türen. Sie hielten sich Tücher und Ärmel vor die Nasen und rannten hastig an dem verendenden Tier vorbei, das ausgerechnet auf dem grauen Asphalt übergetreten war statt im Wasser des Uferlosen Flusses, der die Stadt in der Mitte teilte.
An jenem Tag war mein dreizehnter Geburtstag nur noch eine knappe Woche entfernt, und ich zog in eine Stadt, die ich nicht kannte. Meine Mutter trat eine neue Stelle in Kapitolo an, weshalb die ganze Familie ihre Sachen packte und in die legendäre Stadt der Figuren zog. Dabei hatte es Tränen auf meiner Seite und lautstarke Diskussionen aufseiten meiner Eltern gegeben, weil mein Vater zwar stets behauptet hatte, er könne als freiberuflicher Genealoge überall arbeiten, damit im Grunde jedoch nur meinte, dass er seinen Laptop in den Urlaub mitnehmen wollte. Ich war wütend darüber, dass ich mein vertrautes Umfeld und meine Freunde verlassen sollte, doch am Ende der Sommerferien waren die Kisten verstaut, und wir fuhren dem Umzugstransporter auf überfüllten Autobahnen voraus.
Nichts daran macht diese Geschichte bereits zu einer besonderen, sie ereignet sich so oder so ähnlich jeden Tag tausendfach in diesem Land.
Als meine Eltern und ich jedoch sechs Stunden später im Schritttempo an der Absperrung vor dem Kaufhaus der Wünsche vorbeifuhren, spiegelte ich mich für einen kurzen Moment im Auge des sterbenden Wals – und auf einmal schien die Welt stehen zu bleiben. Als hätte mich etwas aus der Zeit gerissen.
In der trüber werdenden Iris sah ich ein dünnes Mädchen mit langen Fingern, die über dem aufgerissenen Mund und der rechten Wange lagen. Meine Hand roch nach Schweiß und Gummibärchen, die ich kurz vorher gegessen hatte. Die leere Tüte lag noch zu meinen Füßen. Mein langes blondes Haar war vom Lehnen gegen die Scheibe zerzaust, und in meinem viel zu ernsten Blick lag damals noch so vieles – Angst, Neugier und ein seltsamer Hunger auf Abenteuer.
In diesem Moment wusste ich, dass es mein Spiegelbild war, gleichzeitig jedoch erschien mir das Mädchen wie eine Fremde. Zum ersten Mal fragte ich mich, ob mein Ebenbild in der Fantasiewelt genauso aussehen würde wie dieses Mädchen vor mir, mit den leicht abstehenden Ohren, die ich stets unter dem langen Haar verbarg. Seit einem halben Jahr schrieb ich regelmäßig Tagebuch, und meine Mutter hatte mich gewarnt, dass alles, was ich nach unserem Umzug nach Kapitolo verfasste, die Gefahr barg, in die reale Welt überzutreten. Das war die Natur dieser Stadt.
»Ach …«, sagte sie nun auf dem Beifahrersitz und seufzte, während sie sich mit einem Erfrischungstuch über die Hände rieb, dessen Zitronenduft den Gestank von draußen vertreiben sollte. »Ich mochte das Buch nicht besonders, aber das ist doch eine Schande. Das arme Tier.«
Mein Vater nickte und versuchte, einen anderen Wagen zu überholen, damit wir schneller an der Absperrung vorbeikamen. Aber die Autos fuhren alle nur Schritttempo. Der Kadaver des Wals war viel zu faszinierend, jeder wollte einen Blick darauf erhaschen. Beim Anblick der aufplatzenden, austrocknenden Haut wurde mir übel.
Als sich meine Mutter zu mir umdrehte, glänzte der Schweiß des viel zu heißen Sommers auf ihrer sommersprossigen Nase. »Alles in Ordnung da hinten, Kate?«, fragte sie, und ich nickte.
»Mir geht’s gut«, gab ich die typischste aller Teenagerantworten, wenn genau das Gegenteil der Fall ist. Der Anblick des Wals und meines Spiegelbilds in seinem Auge hatte etwas in mir in Aufruhr versetzt. Mir zitterten die Hände.
»Willkommen in Kapitolo«, erwiderte mein Vater trocken und bog endlich in eine Seitenstraße ab.
Ich verrenkte mir den Hals, um aus dem Rückfenster zu sehen, aber der Wal war längst hinter der Häuserecke verschwunden. Nur sein Geruch begleitete uns noch bis zu dem vierstöckigen Gebäude, das die nächsten Jahre über unser Zuhause sein sollte.
Fünf Tage später, zu meinem dreizehnten Geburtstag, schenkten mir meine Großeltern eine Schmuckausgabe von Moby Dick , damit ich mich immer an den Tag erinnern würde, an dem ich das erste Mal in die Stadt der Figuren gekommen war.
Meine Mutter hielt es für ein geschmackloses Geschenk, aber mein Vater klopfte mir auf die Schulter und erwiderte: »Willst du ihr ab jetzt etwa alle Bücher verbieten, Schatz? Es wird nicht das letzte Mal sein, dass sie einer Figur begegnet.«
Damit sollte er recht behalten.
Aber der sterbende weiße Wal war meine erste, und ich frage mich manchmal, ob meine eigene Geschichte nicht anders verlaufen wäre, wenn ich ihm an jenem Tag nicht ins Auge geblickt hätte.