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I ch rannte die Treppe bis ganz nach oben zur Dachterrasse. Das Straßenlicht fiel schwach durch die Milchglasscheiben der runden Treppenhausfenster, und es roch nach Weichspüler. Auf den letzten Stufen lagen Erde und ein Paar dreckige Gartenhandschuhe. Immer wieder warf ich einen nervösen Blick über die Schulter, spähte ins Dämmerlicht des Treppenhauses und lauschte. Doch es blieb still. Mit klopfendem Herzen drehte ich den stets im Schloss steckenden Schlüssel um. Nichts regte sich, die Nachbarn schliefen noch, niemand war mir gefolgt. Vorsichtig trat ich hinaus.

Auf dem Flachdach standen zahlreiche Pflanzkübel und Hochbeete, die jetzt im Winter abgedeckt waren. Einige Bereiche hatte der Vermieter bepflanzen lassen, andere die Mieter selbst. Ich schlitterte an der Loungeecke mit den gusseisernen Bänken und zusammengefalteten Sonnenschirmen vorbei, die allen Mietparteien zur Verfügung standen, und weiter zu dem schmalen Hochbeet auf der östlichen Seite des Hauses hinüber, das mir gehörte und in dem ich im Sommer Tomaten und Küchenkräuter anbaute. Daneben standen die Gewächshäuser der Nachbarn, die wesentlich mehr Interesse am Gärtnern besaßen als ich. Auch hier lag über allem eine feine Schneeschicht, Fußspuren konnte ich jedoch nicht erkennen, das ließ mich hoffen.

Mein Hochbeet hatte ich vor einer Ewigkeit gebraucht erstanden, das Holz war bereits dunkel verfärbt. Es bestand aus dem eigentlichen Pflanzkasten und einem direkt daran anschließenden, vierzig Zentimeter breiten, kleinen Schrank in derselben Höhe wie das Beet. Der Schrank, der durch ein Schloss gesichert war, dessen Schlüssel an meinem Schlüsselbund hing, enthielt hauptsächlich Gartenutensilien und ein paar Plastikbecher, in die man an lauen Sommerabenden Wein einschenken konnte.

Als ich mich davorkniete, kroch mir die Kälte bereits in die Glieder, weil ich keinen Schal trug. Mit klammen Fingern und wild schlagendem Herz öffnete ich den Schrank und holte aus dem mittleren Fach einen Beutel mit Erde heraus, bevor ich an die Rückseite des Schranks tastete.

Sie waren noch da! Erleichtert zog ich eine Plastiktüte aus ihrem Versteck, in der sich die alten, gegen die Feuchtigkeit eingewickelten Tagebücher aus der Zeit mit Rosalie befanden. Meine zitternden Finger berührten die Seiten, die bis in die Ecken mit meiner Vergangenheit gefüllt waren. Mir stieg der schwache Geruch nach altem Papier und Leim in die Nase. Aufgewühlt ließ ich den Daumen über die scharfen Ränder fahren, und die Seiten blätterten vor mir auf. Wörter und Sätze stachen mir ins Auge, aber die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen zu blauen Balken. Zu schmerzhaft waren die Erinnerungen an jene Zeit.

Vor Erleichterung darüber, dass die VdF sie nicht gefunden hatte, wurde mir schwindlig. Die Beamten hatten nicht daran gedacht, die für alle Bewohner zugängliche Dachterrasse zu durchleuchten.

Als ich die Notizbücher wieder zurück in die Tüte legen wollte, fiel aus einem eine braune, glänzende Taubenfeder in den Schnee zu meinen Füßen. Einen Moment lang starrte ich sie an, dann streckte ich zaghaft die Finger danach aus. Mich traf jener leichte Schlag, den man immer verspürt, wenn man eine Figur berührt.

Von dieser Feder hatte ich nie jemandem erzählt, nicht einmal meiner besten Freundin Olga, die ich seit der Grundschule kannte. Manchmal dachte ich wochenlang nicht an sie, dann wieder fiel sie mir unvermittelt ein, wenn ich Jugendliche beim Grillen im Park beobachtete oder mich im Sommer das Glitzern auf dem Wasser blendete. Wenn ich nachts durch eine hell erleuchtete Straße ging, in der niemand außer mir unterwegs war, überkam mich das Gefühl, beobachtet zu werden. Aber ich wusste, dass es nur Einbildung war. Fünfzehn Jahre lang hatte ich niemanden aus dem Sommer damals gesehen. Trotzdem konnte ich mich nicht von der Feder trennen. Selbst jetzt nicht, obwohl ich keine forensische Literaturwissenschaftlerin sein musste, um zu wissen, wie es aussehen würde, wenn die VdF sie bei mir fand.

Ich legte alles wieder zurück in die Tüte und drückte sie an mich wie einen Schatz. Dann erhob ich mich mit knackenden Knien. Am Horizont zeigte sich bereits ein schmaler heller Streifen unter dem Dunkel der Nacht. Es würde nicht mehr lange dauern, bis die Sonne aufging. Die ersten Vögel zwitscherten bereits. In der Ferne konnte ich einige Hochhäuser des Müntzviertels und die Silhouette des Schwarzen Tempels erkennen, deren Anblick mir einen Schauer über den Rücken jagte. Ich fühlte mich von ihm gleichermaßen angezogen wie abgestoßen. Eine eisige Böe zerrte mir an den Haaren. Fröstelnd wandte ich mich ab. Die Tüte mit den Tagebüchern und der Feder nahm ich mit.

Die Wohnung sah weniger schlimm aus, als ich befürchtet hatte. Manche Schranktür stand noch offen, ebenso wie die eine oder andere Schublade. Einige Bücher standen verkehrt in dem Regal, das eine gesamte Wand einnahm. Doch sie stapelten sich ohnehin zweireihig hinter- und übereinander. Ich hatte schon vor langer Zeit aufgegeben, irgendeine Art von Ordnung in meine private Bibliothek zu bringen. Die Bücher waren wie wunderschönes Unkraut, dem man einfach nicht Herr wurde und das man am Ende wachsen ließ, wie es wollte. Ich schob die gerahmten Coverdrucke meiner ersten veröffentlichten Bücher, die über dem Sofa hingen, gerade und rückte die Statue eines Leserpreises auf dem Regalbrett im Wohnzimmer zurecht.

Als ich das Arbeitszimmer betrat, fiel mir sofort auf, dass sowohl Computer als auch Laptop fehlten. Doch das war nicht das Einzige. Die Ordner mit Notizen, Kapitellisten und Recherchematerial für meine Romane waren ebenfalls verschwunden. Man sah nur noch die staubfreien Ränder an den Stellen, wo sie sich zuvor im Regal befunden hatten. Es fehlten sogar die angefangene Einkaufsliste vom Kühlschrank, der Wandkalender aus dem Bad, in dem ich Geburtstage von Freunden, Bekannten und Kollegen notierte, und natürlich das Notizbuch mit dem Einband aus künstlichem Kuhfell, das stets auf dem Nachttisch im Schlafzimmer lag, falls mir mitten in der Nacht eine Idee in den Sinn kam und ich zu faul zum Aufstehen war. Nur die dreckige Teetasse vom vorangegangenen Nachmittag stand wie zum Hohn noch darauf.

Außerdem hatten sie sämtliche Belegexemplare meiner Bücher mitgenommen. Dieses Vorgehen schien mir nichts anderes als Schikane. Was wollte die VdF in einem Buch finden, das nicht auch in jedem anderen identischen Exemplar stand? Ärgerlicherweise hatten die Beamten damit auch alles mitgenommen, was ich selbst für meine Recherche benötigte. Ich fühlte mich beraubt und bloßgestellt, obwohl ich meine Sachen vermutlich zurückbekommen würde.

In diesem Moment röhrte ein Motorrad auf der Straße, und ich zuckte heftig zusammen. Beklommen sah ich aus dem Fenster. Mir fielen Hensens Worte wieder ein, dass die Figur vielleicht den Kontakt zu mir suchen würde. Mit angehaltenem Atem spähte ich durch die Jalousie und versuchte, in den Schatten der gegenüberliegenden Häusereingänge etwas zu erkennen. Aber da war nichts. Nur die frühmorgendliche Einsamkeit der Straße.

Entschlossen wandte ich mich ab. Mir blieb keine Zeit für lange Grübeleien, daher rief ich meine Eltern an, die noch geschlafen hatten, und erzählte ihnen mit hastig hervorgebrachten Sätzen dasselbe wie Wera.

»Kate, red langsamer, wir verstehen ja kein Wort!«, rief meine Mutter in den Hörer.

Ich versuchte es, aber es wurde kaum besser. Auch ihnen verschwieg ich, was ich vorhatte, weil ich nicht wollte, dass sie sich zu sehr sorgten. Außerdem schämte ich mich dafür, dass meine Figur nach Kapitolo gekommen war. Die nächsten großen Familientreffen würden für meine Eltern sicher kein Vergnügen werden. Sie würden sich für ihre Tochter rechtfertigen müssen, die das Unglück ja geradezu herausgefordert hatte, indem sie sich Geschichten ausdachte, aufschrieb und veröffentlichte! Ich sah Tante Luise schon vor mir, wie sie in schneidendem Ton große Reden schwang und dabei den trockenen Zitronenkuchen meines Großvaters herunterschluckte.

Während ich mit meinen Eltern sprach und mich ein paarmal verhaspelte, hörte ich, wie meine Mutter im Hintergrund die Kaffeemaschine anschaltete. Kaum hatte ich meinen Bericht abgeschlossen, forderte sie mich auf, zu ihnen zu kommen.

»Du kannst in deinem alten Kinderzimmer den schlimmsten Sturm abwarten«, sagte sie.

»Wenn ich mich richtig erinnere, dient der Raum inzwischen hauptsächlich als Rumpelkammer.«

Mein Vater klapperte mit dem Geschirr für das vorzeitige Frühstück, als hätten sie alle Zeit der Welt. Ich würde keinen Bissen herunterbringen.

»Seit deinem Auszug muss eine ganze Spinnenarmada dort eingezogen sein«, plauderte er. »Die Spinnweben in allen vier Ecken des Raums nehmen eine unglaubliche Größe an.«

»Du könntest dir eine Leiter nehmen und sie wegmachen«, erwiderte meine Mutter, und ich schüttelte den Kopf.

»Können wir uns vielleicht ganz kurz auf mein Problem konzentrieren?«

»Natürlich, Schatz«, sagte sie, und ich lauschte, wie sie den Kühlschrank öffnete. Vermutlich, um die Milch herauszuholen.

All die Geräusche, die zu mir durch den Hörer drangen, waren mir so vertraut, dass mir beinahe die Tränen kamen. Ich wünschte, ich könnte jetzt bei ihnen sein und den Tag mit ihnen verbringen. In letzter Zeit hatten wir uns viel zu selten gesehen, weil immer irgendetwas gewesen war. Abgabe eines Buchs, Lesungen, Buchmessen, Konferenzen, immer gab es einen Grund, der wichtiger war, als bei ihnen vorbeizugehen, aus Angst, etwas zu verpassen.

»Ich kann nicht bei euch untertauchen«, erwiderte ich mit zitternder Stimme, »da sucht mich die Presse doch zuerst. Vielleicht ist es nicht verkehrt, wenn ihr auch für ein paar Tage nicht zu Hause schlafen würdet. Nur so als Vorsichtsmaßnahme. Die werden euch sicher ganz schön belagern, und außerdem … nur, falls meine Figur nach mir sucht und zu euch kommt …«

»Was meinst du damit?«

»Wir wissen doch nicht, wie gefährlich sie ist, und … Ich würde mich einfach wohler fühlen, wenn ich wüsste, dass ihr irgendwo gut aufgehoben seid.«

»Mhm.« Meine Mutter klang nicht begeistert, aber sie widersprach nicht.

»Sicher wird sich auch die VdF bei euch melden, um euch zu befragen.«

»Keine Bange, wir kriegen das hin«, antwortete sie bestimmt. »Deine alten Sachen aus dem Kinderzimmer, Texte und so, sind in drei Kisten an einem sicheren Ort untergebracht. Die kriegen sie nicht zu Gesicht.«

»An welchem Ort?«

»Na … einem sicheren«, wiederholte mein Vater.

Sie klangen erstaunlich gefasst, dafür, dass ich bei Tagesanbruch anrief und ihnen mitteilte, ich sei gerade auf dem Polizeipräsidium gewesen.

»Warum habe ich das Gefühl, dass ihr nicht besonders überrascht seid und jetzt so eine Art Notfallprotokoll wie aus einem James-Bond-Roman bei euch eingeleitet wird?«

Es herrschte einen Moment Stille, dann räusperte sich meine Mutter. »Weil gerade das Notfallprotokoll in Kraft getreten ist?«

»Du lieber Himmel, welches Notfallprotokoll denn?«

»Na … unseres.«

Ich starrte den Hörer an. Dann hielt ich ihn wieder ans Ohr. »Ich kann nicht ganz folgen.«

»Ach, Schatz, weißt du, es ist doch nicht so, dass solche Dinge bei anderen Autoren noch nie vorgekommen wären, und wir wollten einfach …«

»Vorbereitet sein?«, fragte ich schrill und erschreckte vor mir selbst, als ich im Flur am Garderobenspiegel vorbeilief. Mein Haar sah zerzaust aus, und der Rest Wimperntusche vom Vortag, den ich offenbar nicht vollständig abgewischt hatte, verband sich inzwischen mit meinen Augenringen zu einer Art Waschbärenmaske. Ich beugte mich vor und wischte hastig das gröbste Desaster weg.

»So etwas in der Art. Manche Berufe bringen einfach ein höheres Risiko mit sich. Wenn dein Kind bei der Feuerwehr arbeitet, weißt du doch auch, dass die Möglichkeit besteht, dass es sich irgendwann einmal verbrennt.«

Hatten sie wirklich die ganze Zeit über damit gerechnet, dass eine meiner Figuren nach Kapitolo kommen würde? Seit wann? Seit der ersten Veröffentlichung? Oder schon vorher, als ich mit dreizehn die ersten Texte über das unglücklich Verliebtsein in fleckige Deutschhefte geschrieben hatte?

»Und was beinhaltet dieses Notfallprotokoll genau, wenn ich fragen darf? Abgesehen von den drei versteckten Kisten?«

»Möglicherweise eine gepackte Reisetasche?«, gab meine Mutter zu.

»Eine Reisetasche? Etwa für mich?«

Ihr Schweigen war Antwort genug.

»Herrje, habt ihr etwa für meine Flucht vorgesorgt, mit Bargeld und so?«

»Die Schokoriegel tauschen wir regelmäßig aus, wenn ihr Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist.«

Ich konnte es nicht fassen. »Meine Eltern sind heimliche Agenten!«

»Mach dich nicht lächerlich, Kate, wir sind nur …«

»Vorbereitet, ich weiß.«

»Genau.«

»Ich bin mir nicht sicher, ob mich das rühren oder beunruhigen sollte.«

»Tja«, machte meine Mutter und öffnete ein weiteres Mal den Kühlschrank. Vermutlich, um die Milch zurückzustellen. »Wirst du denn fliehen?«

»Hatte ich eigentlich nicht vor. Ich verlasse erst einmal nur meine Wohnung.« Ich räusperte mich. »Du?«

»Ja?«

»Warum habt ihr damit gerechnet, dass das passieren würde? Ich meine, mir.«

Es dauerte einen Moment, bis sie antwortete. »Vielleicht weil wir manchmal nicht wussten, ob du uns von Büchern erzählst, die du gelesen hattest, oder von Freunden.«

»Das ist doch schon lange her …«

»Vielleicht weil du diesen Papierseiten schon immer mehr anvertrauen konntest als uns«, sagte sie sanft, und ich schluckte. »Wirst du zurechtkommen, Kate?«

»Mir geht’s gut«, erwiderte ich wie schon so viele Jahre zuvor und versprach, mich regelmäßig zu melden.

Nachdem wir aufgelegt hatten, holte ich in aller Eile den alten Rucksack aus dem Flurschrank, mit dem ich durch sechs Länder gezogen war und der seit dem Trip durch die Anden immer noch Flecken einer unbekannten Substanz auf einer Seite hatte und seltsam nach saurer Milch roch. Ohne große Überlegungen legte ich Wechselsachen und Hygieneartikel hinein. Ich wusste nicht, wie lange ich bei Jop bleiben und wie sich diese Geschichte entwickeln würde. Es konnten wenige Tage oder auch Wochen werden.

Außerdem steckte ich eine alte, vergilbte und mit Knicken versehene Ausgabe von William Goldings Herr der Fliegen ein, deren Anblick mich stets daran erinnerte, wie ich den Roman zum ersten Mal gelesen hatte – an dieses Gefühl, ein Geheimnis über die Welt durch die Seiten eines Buchs zu erfahren. Es war diese Fähigkeit, Erfahrungen zu vermitteln, ohne sie wirklich erlebt haben zu müssen, die mich als Jugendliche angezogen und mich dazu gebracht hatte, selbst mit dem Schreiben zu beginnen. Es ging nicht nur darum, mich in diesen Büchern wiederzufinden, sondern vor allem darum, eine Tür zu öffnen – in die Köpfe anderer Menschen. Wenn ich Goldings Buch berührte, kam es mir vor, als würde mir ein Freund die Hand auf die Schulter legen.

Zum Schluss steckte ich einen Stift und ein unbeschriebenes Notizbuch ins Seitenfach des Rucksacks, weil ich auch das stets bei mir trug. Danach goss ich die Blumen, sortierte verderbliches Essen aus und erledigte sämtliche Überweisungen für die nächste Zeit, damit in meiner Abwesenheit nicht noch mehr Chaos über mein Leben hereinbrechen würde. Eine spontane Flucht ging gar nicht so schnell, wie ich mir immer eingebildet hatte.

Ein letztes Mal schaute ich mich um, dann schloss ich hinter mir die Wohnung ab. Auf dem Weg nach unten lauschte ich bei jedem Schritt, ob mir jemand von oben aus nachging oder sich etwas unter mir bewegte. Ich rechnete damit, dass mir die entflohene Figur plötzlich entgegenspringen und mich anfallen würde. Doch im Treppenhaus herrschte nach wie vor eine gespenstische Stille, die nur durch meine Schritte und das Flackern der Flurlampe unterbrochen wurde.

Während ich hinunterstieg, schloss ich die Hand so stark um den Zündschlüssel des Snow Scooters, dass seine Zacken mir ins Fleisch schnitten. Vor Nervosität verpasste ich eine Stufe und wäre beinahe den letzten Treppenabsatz hinuntergestürzt. Ich besaß kein Auto, weil die Parkplatzsuche jedes Mal eine Katastrophe war, und ein Taxi wollte ich nicht nehmen. Der Scooter war nicht gerade das ideale Fahrzeug für ein großes Abenteuer, aber das ist eben die Realität hinter der Geschichte: Normale Menschen besitzen kein Batmobil, wenn sie eine Verfolgung beginnen.

Als ich auf die Straße trat, hörte ich in der Nähe eine Taube rufen. Ich erstarrte, hielt die Luft an und sah mich nach allen Seiten um. Erneut konnte ich niemanden entdecken. Wütend über mich selbst, schüttelte ich den Kopf. Ich durfte jetzt nicht die Nerven verlieren! Es war niemand hier, sagte ich mir. Ich war immer noch allein.

Die Straßen waren zum Glück noch nicht stark befahren, ein paar Streufahrzeuge zogen ihre langsamen Runden, trotzdem war die Fahrt kein Vergnügen. Wera hatte mit ihrem Wagen schon Probleme gehabt, mein kleiner Scooter schlingerte heftig hin und her, und an manchen Stellen konnte ich kaum erkennen, wo der Bordstein begann. Ein paarmal kippte ich gefährlich zur Seite.

Als ich die Nördliche Brücke überquerte, die eine Seite der Stadt mit der anderen verband, glitzerte der frisch gefallene Schnee wie Diamanten im Licht der gusseisernen Laternen, die über den alten Statuen hingen, die die Brücke rechts und links säumten. Sechs Stück auf jeder Seite, eine für jedes Sternzeichen. Brüllend hob Leo den Kopf, während die Jungfrau neben ihm kokett die Hand in die Hüfte stützte. Ihre Schatten bildeten ein Zebramuster auf der durch den Schnee kaum noch zu erkennenden Straße.

Der Fluss trieb träge als pechschwarzes Band unter der Brücke dahin. Bei seinem Anblick überkam mich eine seltsame Angst, als würde ich jeden Moment über die Brüstung stürzen und in die Tiefe fallen können. Ich stellte mir vor, wie mich die eiskalten Fluten erfassen und nach unten ziehen würden. Das Wasser erschien mir auf einmal bedrohlich. Es kam mir vor, als würde der Übergang von einer Stadtseite zur anderen auch meinen Übergang in eine andere Welt markieren. Eine Umkehr schien mir unmöglich.