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J op wohnte im Hafenviertel in einem der unmittelbar am Fluss stehenden Häuser, in denen es am Morgen stets nach Brackwasser roch und im Laufe des Tages nach Benzin und schwerer Maschinerie. Über den Straßen lag zu jeder Tageszeit ein leises Brummen, das von kleineren Containerschiffen stammte, die sich stündlich den Fluss hinauf und hinab schoben. Dutzende Kräne säumten den Hafen in einer nie endenden Baustelle.

Jops Büro lag nach vorn zur Straße, im hinteren Teil der Wohnung befanden sich die Privaträume. Es waren keine imposanten Zimmer, eher dunkel und niedrig, doch es gab etwas, das sie von allen anderen in der Stadt unterschied. Der Uferlose Fluss trägt seinen Namen nämlich nicht umsonst – er besitzt einfach keine Ufer. Er hat sich auch nicht tief in die Erde gegraben, wie das andere Gewässer tun. Die Erbauer der ersten Hütten haben die Holzwände einfach an seinen Seiten in die Höhe gezogen. Auf diesen Unterkünften sind im Laufe der Zeit weitere Häuser errichtet worden, und auf jenen wieder andere Häuser. Auf diese Weise vereinen die Gebäude viele unterschiedliche architektonische Stile in sich, weshalb sie manche abfällig Patchworkhütten nennen.

Die Flussfassaden sind in den letzten Jahrzehnten allerdings durch transparente Wände aus Acrylglas ergänzt worden, die mit glasfaserverstärktem Kunststoff stabilisiert sind, um der erheblichen Erosion durch das Wasser entgegenzuwirken. Vom Fluss aus sehen die Häuser daher wie glasierte, bunte Bonbons aus. Es ist ein alter Streit zwischen den Einwohnern, ob der Fluss nun zu hoch liegt und zwischen den Häusern hindurchfließt oder die Häuser zu tief in der Erde stecken und damit das Fundament des Flusses bilden. Der Zwist wird ähnlich enthusiastisch ausgetragen wie die Begegnung zweier Fußballclubs bei einem Lokalderby. Auf jeden Fall führte die Bauweise dazu, dass die Flusshäuser eine lange Kette auf beiden Seiten des Wassers bilden, wodurch immer wieder auch ihre Dächer miteinander verbunden sind. Im Sommer finden darauf oft Konzerte statt, und im Winter werden die Dächer als Curlingbahnen genutzt. Auch der eine oder andere fliehende Liebhaber macht sich diese Eigenart auf der Flucht vor einem zornigen Ehemann zunutze.

Während ich durch die Straßen im Hafenviertel fuhr, leuchtete über mir ein Stern zwischen den wie aufgemalten Wolken. Der eisige Wind zog durch meinen Mantel, und mir taten die Oberschenkel weh, weil ich das Gewicht ausbalancieren musste. Als ich schließlich vor Jops Haus anhielt, zitterten mir Knie und Hände. Mit letzter Kraft schob ich den Snow Scooter in die Einfahrt, die auf keinen Hinterhof führte, weil hinter der moosbewachsenen Mauer das Wasser begann. Dort standen die Mülltonnen und ein Dutzend Fahrräder. Ich schloss den Scooter an einer dafür angebrachten Bodenstange an und schlitterte weiter zur Eingangstür.

Es dauerte eine Weile, bis Jop auf das Klingeln reagierte. »Was zum Henker!«, raunzte er in die Gegensprechanlage.

»Ich bin’s«, sagte ich drängend. »Mach auf.«

»Hä?«

»Jop! Jetzt!«

Der Summer ertönte, ich drückte die Tür auf und trat in den dunklen Hausflur. Die Glühlampe war schon seit Wochen kaputt, und aus dem Keller zog der Geruch von Salpeter nach oben. So imposant die Häuser von außen wirkten, von innen nagte der Zahn der Zeit an ihren Mauern.

Verschlafen stand Jop in der Tür im zweiten Stock. Er trug einen erdbeerroten Seidenpyjama, und seine dichten Locken hingen ihm wirr ins Gesicht. Er sah immer ein bisschen so aus, als hätte er die Schule gerade erst verlassen und den letzten Wachstumsschub noch vor sich. Er war schmal und blass, und der letzte Kinderspeck lag ihm noch auf den Wangen. Jemanden wie ihn nannte meine Großmutter einen süßen Bengel , dabei war der Verstand unter diesen Locken messerscharf und zuweilen ein bisschen seltsam. Eine Schule hatte er seit zehn Jahren nicht mehr von innen gesehen, und wachsen würde er auch nicht mehr.

»Was machst du hier?«, fragte er irritiert und gähnte, als ich mich an ihm vorbei in die Wohnung schob.

»Mich vor der VdF verstecken.«

»Wie bitte?«

Mitten im Flur blieb ich stehen und atmete tief durch. Dann ließ ich den Rucksack von den Schultern gleiten, der mir direkt vor die Füße plumpste. Noch immer gähnend schloss Jop die Tür, während ich mich langsam aus dem dicken Wintermantel schälte. Er landete nebst Helm und Handschuhen auf der umgestülpten alten Bananenkiste, die seit dem Einzug vor sechs Jahren als Garderobe fungierte.

»Ich mach mal Kaffee«, sagte Jop und schlurfte blinzelnd an mir vorbei, während er sich den Kopf kratzte. »Es ist zu früh für Katastrophen«, murmelte er dabei.

»Ich hab’s mir nicht ausgesucht.« Nervös folgte ich ihm in die kleine Küche, in der es beständig nach Frittieröl roch, weil Jop viermal in der Woche Fish and Chips aß, das die Friedmans am Ende der Straße in den gelben Papierschalen mit dem Netzlogo verkauften, das im Hafenviertel jeder kannte.

Er setzte Kaffee auf und ließ sich auf den Stuhl fallen, der neben der Heizung unter dem Fenster stand, das sich nicht öffnen ließ. Das Wasser dahinter war trüb, kein einziger Fisch war zu sehen. Einmal vor Jahren hatten wir eine Meerjungfrau vorbeischwimmen sehen. Das war kurz vor ihrer Gefangennahme durch Taucher der VdF gewesen. Sie war weniger hübsch gewesen, als ich es mir immer vorgestellt hatte, aber ihr Schwanz hatte moosgrün und golden geschimmert, und irgendwie hatte sie mir leidgetan, als man sie in feuchte Tücher gewickelt in einen Laster verfrachtet hatte.

Ich setzte mich auf das große Kissen neben dem Stuhl. Einen Küchentisch gab es nicht, nur eine weitere alte Bananenkiste, auf der man auf den Leisten eine Tasse abstellen konnte. Platz für mehr als einen Teller gab es nicht.

»Wenn du nicht bald etwas für deine Inneneinrichtung tust, wirst du Estelle nie dazu kriegen, dass sie mit dir ausgeht. Das ist die typischste Junggesellenbude, die ich je gesehen habe.«

»Ich weiß.« Er seufzte und kratzte sich erneut am Kopf. »Ich kümmere mich darum. Demnächst.«

Demnächst. Das sagte er, seit ich ihn kannte. Demnächst war ein dehnbarer Begriff. Denn genauso lange, wie er sich schon einen Küchentisch zulegen wollte, war er auch in Estelle verliebt, die den Zeitungskiosk drei Häuser weiter betrieb, genau zwischen Jops Büro und den Friedmans. Jeder in der Straße wusste, dass Jop in sie verliebt war. Auch Estelle selbst. Es war nicht zu übersehen, wie er jeden Tag an ihrem Kiosk haltmachte und etwas kaufte, das er nicht benötigte. Zeitschriften, Kaugummis, Getränkedosen, hin und wieder ein Lotterielos. Dabei plauderte er zwanzig Minuten mit der Inhaberin, sehr zum Amüsement der anderen Kunden, die nicht so genau wussten, ob sie ihn bemitleiden oder anfeuern sollten.

Dass Estelle Jops Anträgen bisher widerstanden hatte, lag vor allem daran, dass sie zwanzig Jahre älter war als er und der Verliebtheit eines jungen Mannes nicht traute. Womit sie vermutlich recht hatte. Leid tat er mir trotzdem, denn seit ich ihn kannte, hatte ich ihn nie von einer Frau so schwärmen hören wie von ihr, und das waren jetzt immerhin schon fünf Jahre. Das ist in jedem Alter eine lange Zeit.

Nachdem er uns Kaffee in fast saubere Becher eingeschenkt hatte, fragte er blinzelnd: »Also, warum bist du hier, bevor die Zeitung und der Milchmann kommen?«

»Wegen der Sache mit meiner Figur.«

»Welcher Sache?«

»Mord?«

Entsetzt schaute er mich an. »Mord?«

Ich schob seinen Becher gerade, der in seiner Hand auf halbem Weg zum Mund in eine gefährliche Schieflage geraten war.

Auf einmal war Jop wach. Kerzengerade saß er auf dem Stuhl. »Du hast jemanden umgebracht?«

»Sei nicht albern, ich doch nicht. Die Figur. Oder … vielleicht hat sie jemanden umgebracht, sicher weiß man das noch nicht.« Ich hob die Hand. »Nein! Wir gehen jetzt erst einmal davon aus, dass sie niemanden umgebracht hat. Man muss ja nicht immer das Schlimmste annehmen, nicht wahr?«

Ich erzählte ihm, was mir in den letzten Stunden widerfahren war, während er Kaffee trank. Dabei wippte ich mit dem Bein, bis mir Jop die Hand aufs Knie legte. Am Ende meines Berichts standen seine Locken noch wilder ab als zuvor, weil er sich immer wieder mit der Hand hindurchfuhr.

»Mit einer Sache hatte Hensen recht«, sagte er schließlich. »Wenn du einmal in die Mühlen der VdF gerätst, kommst du schwer wieder raus.«

Er wusste, wovon er sprach. Seit Jahren arbeitete er als Versicherungskaufmann mit Schwerpunkt Autoren und Figurenhaftpflichtversicherung. Auf diese Weise hatten wir uns auch kennengelernt.

»Die Versicherung wird mögliche Schäden zahlen, oder?«, war meine erste Frage an ihn.

»Nicht, wenn deine Figur wegen Mordes schuldig gesprochen wird. Die Versicherung greift nicht bei Kapitalverbrechen. Hast du denn nie zugehört, wenn ich dir die Police erklärt habe?«

Entsetzt stellte ich die Tasse auf dem Fensterbrett ab. »Aber dann bin ich die nächsten hundert Jahre damit beschäftigt, Romane zu schreiben, die meine Schulden abbezahlen, wenn ich schuldig gesprochen werde!«

Betreten blickte er zur Seite.

»Was?«

»Das ist das nächste Problem. Wenn du deswegen verurteilt wirst, erhältst du nur noch schwer eine Lizenz zum Schreiben. Zumindest nicht in den kommenden Jahren.«

»Aber es gibt doch Leute, die im Gefängnis Bücher schreiben!«, fuhr ich empört auf.

»Kaum jemanden, der wegen seiner Figuren verurteilt wurde. Deine Lizenz lag sowieso ab dem Zeitpunkt auf Eis, in dem die Ermittlungen begonnen haben.«

»Wie bitte? Das darf doch nicht wahr sein.«

Er hob die Hand, als wolle er sagen: Tut mir leid, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein.

Ich sackte in dem Kissen wieder nach unten. »Wenn das so ist, muss ich vielleicht den Vorschuss zurückzahlen, den mir der Verlag gegeben hat. Wovon soll ich dann bitte schön leben?«

»Erspartes?«

Ich schnaufte. »Seit wann haben Kunstschaffende Erspartes? Den meisten Autoren graut’s schon vorm Zahnersatz. Was glaubst du, warum alte Autoren nie lächeln?«

»Nun übertreib mal nicht. Ich kenne welche, die haben einen Pool.«

Stöhnend nahm ich den Kopf zwischen die Hände. »Was soll ich denn jetzt nur machen?«

Mitfühlend legte mir Jop eine Hand auf die Schulter. »Darauf hoffen, dass deine Figur unschuldig ist und du nur die Übertrittsstrafe zahlen musst.«

»Däumchen drehen?« Ich schüttelte den Kopf und erzählte ihm von meinem vagen Plan, meine Figur zu finden, bevor es die VdF tat, um die Chancen auf einen fairen Prozess zu erhöhen. Dabei hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm verschwieg, dass ich eigentlich vorhatte, die Figur zum Schwarzen Tempel zu bringen. Doch ich sagte mir, dass es besser sei, wenn er zu diesem Zeitpunkt nicht alles wusste; immerhin konnte ihm dann niemand vorwerfen, dass er an dem Plan beteiligt gewesen war. Ich würde gern behaupten, dass ich nur sein Bestes im Sinn hatte, aber die Wahrheit ist wohl eher, dass es leichter war, ihm Dinge zu verschweigen, als mich seiner Meinung zu stellen. Vielleicht lag es daran, dass Autoren so viel Zeit allein verbringen (die meiste Zeit müssen wir uns nicht mit anderen Menschen arrangieren), aber ich fürchte, es lag wohl eher an mir und daran, dass ich mich schon vor langer Zeit daran gewöhnt hatte, Dinge zu verschweigen.

»Die Zeit drängt, die VdF wird auch keine großen Pausen einlegen«, sagte ich.

Nachdenklich nickte er, erhob sich und bedeutete mir, ihm ins Wohnzimmer zu folgen, dessen großes dreiteiliges Fenster den Blick auf die Pfeiler eines Stegs frei gab. Ich setzte mich auf ein abgewetztes Kissen auf der breiten Fensterbank und starrte ins trübe Wasser, in dem dunkle Schatten vorüberglitten. Vermutlich Fische.

Jop brachte mir inzwischen Stifte und Papier, ebenso Ausgaben meiner Bücher, bis alles zwischen uns auf der Bank lag. Das Licht eines grünen Lampenschirms über dem Fenster verlieh dem Raum eine beruhigende Aquariumsatmosphäre.

Überwältigt blickte ich auf die vierundzwanzig Romane und siebzehn Kurzgeschichten in Anthologien und Magazinen, die mein veröffentlichtes literarisches Werk darstellten. »Konzentrieren wir uns darauf. Ich glaube nicht, dass es eine Figur ist, die ich irgendwann einmal als Teenager erfunden habe. Statistisch gesehen stammen die meisten übergetretenen Figuren aus veröffentlichten Texten. Wir müssen also eine Liste mit allen Figuren erstellen, die ich je publiziert habe. Ganz egal, ob es eine Nebenfigur oder sogar nur ein Busfahrer ist. Jede!« Ich schob ihm das erste Buch zu.

»Warum kriege ich den sechshundertseitigen Fantasyroman?«, beschwerte er sich.

»Möchtest du die Liebesromane haben?«

»Fantasy ist in Ordnung.« Etwas ratlos blätterte er durch Thron ohne Land . »Was machen wir mit den Schlachtszenen? Da schreibst du die Krieger . Soll ich die auf die Liste nehmen?«

»Ich habe keine Ahnung. Ich nehme nicht an, dass eine namenlose Figur aus der vierten Reihe irgendeiner Armee hier aufgetaucht ist, aber wer weiß.« Hilflos zuckte ich mit den Schultern. »Schreib sie einfach genauso auf, wie sie benannt werden. Die Krieger, die Fußsoldaten, das Schlachtheer. «

»Der Dackel aus dem dritten Stock?«

»Auch den.«

»Na, wenn du meinst. Wollen wir hoffen, dass nicht das ganze Schlachtheer herübergewechselt ist«, erwiderte er trocken.

»Wollen wir lieber hoffen, dass es nicht der dunkle Druide aus Die Krone der letzten Insel ist!«

Jop warf einen finsteren Blick auf das Buch, das an der Glasscheibe lehnte und dessen Cover eine goldgeprägte mehrzackige Krone zierte. »Wenn es sich herausstellt, dass es dieser Kerl ist, nehme ich den nächsten Flieger und verabschiede mich für eine Weile ans andere Ende der Welt, das verspreche ich dir.«

Das konnte ich ihm nicht verübeln; wenn ich ehrlich war, hätte ich in diesem Fall gern dasselbe gemacht. Diese Figur war ruchlos. Und magisch begabt! Die einzige Chance, ihn aufzuhalten, war seine Kryptonit-Eigenschaft , die nach der kapitolischen Literaturverordnung für Fiktionsschaffende alle Figuren mit übernatürlichen Fähigkeiten besitzen mussten. Es war eine der für Autoren aufgestellten Regeln, damit die Polizei im Falle eines Übertritts eine Chance erhielt, die Figur zu besiegen. Man stelle sich vor, Superman würde hier auftauchen, ohne dass man ihm ernsthaft etwas entgegensetzen konnte!

Also hatte mein Druide panische Angst vor fließenden Gewässern, weil er nicht schwimmen konnte. Dass er deshalb auch unangenehm roch, war der Tatsache geschuldet, dass es in der von mir erfundenen Fantasiewelt weder Sanitäranlagen noch Elektrizität gab.

»Kann ich zum Ausgleich auch den haben?«, fragte Jop und hielt mein Debüt in die Höhe. Ein schmaler Band mit unscheinbarem grafischen Cover. »Der hat gerade mal so zweihundert Seiten und gar keine Druiden.«

Ich griff danach. Meine Finger strichen über das Cover mit der großen eckigen Typografie. Untergehen bei Ebbe. Mein bisher größter Erfolg bei den Kritikern und der einzige Roman, der keine reine Unterhaltungsliteratur war.

Ich hatte ihn mit achtzehn begonnen und anderthalb Jahre lang daran geschrieben. Länger als an jedem anderen Buch. Richtig fertig hatte er sich nie angefühlt, aber vielleicht war dieses Gefühl beim ersten Buch auch normal. Auf Veranstaltungen las ich stets nur einen Auszug aus dem ersten Kapitel, und selbst das war Jahre her, weil das Publikum inzwischen kein Interesse mehr an diesem alten Titel hatte, der längst vergriffen war. Der Anblick des Buchs erinnerte mich an eine Zeit, an die ich nicht gern erinnert werden wollte.

Ich schob das Buch zu Jop rüber. »Klar.«

Er nickte, dann legten wir los.