9

J op führte mich nur wenige Straßen weiter, zu einem Haus in zweiter Reihe. An den Fenstern im Untergeschoss waren Eisengitter angebracht, in den oberen Etagen hielten Metallspangen in Fischform die Fensterläden an der Fassade. In diesem Teil des Viertels roch es weniger stark nach dem Fluss, und auch die Geräuschkulisse, die der Hafen mit sich brachte, war hier weniger laut zu hören. Über ausgetretene Stufen stiegen wir in den vierten Stock. Dort erwartete uns bereits eine geöffnete Tür, an der ein »Willkommen im Wunderland«-Schild in Form eines weißen Kaninchens hing.

Als ich die Wohnung betrat, schwebte mir nicht nur der Klang von Guzheng und Drums entgegen, sondern auch der Geruch nach Lilien und Weihrauch. Eine rote Lampe tauchte den langen schmalen Flur und die darin aufgestellten Regale in ein weiches schummriges Licht. Auf den Brettern stand ein Sammelsurium aus Büchern, Ziergegenständen, Hüten, Handschuhen und Theaterrequisiten – mit einem Wort: ein Chaos an schönem Krimskrams.

Eine der hinteren Zimmertüren öffnete sich, und heraus trat Estelle mit einem Glas Weißwein in der Hand – und ich war ziemlich überrascht, dass sie die Freundin war, bei der wir unterschlüpfen sollten.

Sie trug einen fliederfarbenen Morgenmantel mit eingestickten goldenen Pelikanen und grünen Palmen über einem bequem aussehenden Hausanzug. Um den Kopf hatte sie sich einen roten Seidenschal geschlungen, der sie aussehen ließ wie einen Filmstar aus dem goldenen Zeitalter Hollywoods.

Estelle stützte die Hand in die Hüfte und sah uns abschätzend an. »Ich habe gerade Mittag gegessen, heute ist mein freier Tag, und Bobby passt auf den Kiosk auf.« Sie bedeutete uns, ihr zu folgen, und führte uns in ein gemütliches Wohnzimmer, das ähnlich vollgestopft war wie der Flur.

Es roch schwach nach Fisch, was vermutlich den Weißwein am frühen Nachmittag erklärte. In einer Ecke stand ein riesiger ausgestopfter Löwe, der allerdings ziemlich zerpflückt aussah. Eines seiner Glasaugen fehlte. Rechts und links des beige gestreiften Biedermeier-Sofas standen auf zwei goldenen Sockeln bunte Porzellanpfauen mit echten Schwanzfedern, und ein altmodischer Plattenspieler rundete das Bild ab. Jop, der meinen Blick bemerkte, grinste nur.

Außerdem besaß Estelle mehr Bücher als jeder andere Mensch, den ich kannte, Jop eingeschlossen. Sie standen nicht nur zweireihig in Regalen, sondern lagen auch aufeinander. Neben den Möbeln fanden sich Bücherstapel ebenso wie auf den Fensterbrettern; der Esstisch war halb bedeckt davon, und auch auf den Stühlen sah ich vereinzelt Romane und Bildbände.

»Das ist eine beeindruckende Bibliothek«, entfuhr es mir.

Estelle lächelte nachsichtig. »Nur schlecht sortiert, wenn wir ehrlich sind, nicht wahr?«

»Ich wette, du weißt genau, wo du alles findest.«

»Natürlich.« Sie deutete auf die pompösen, an manchen Stellen schon abgewetzten grünen Samtsessel, die dem Sofa gegenüberstanden.

Wir setzten uns, während Estelle auf dem Sofa Platz nahm und die Beine übereinanderschlug. Sie sah sehr königlich aus, wie sie da auf dem Polster saß. Natürlich hatte ich wie jeder andere im Viertel hin und wieder bei ihr eine Zeitung gekauft, wenn ich Jop besuchte. Doch wir hatten nie länger miteinander zu tun gehabt. Jops Schwärmerei war stets Gegenstand meines gutmütigen Spotts gewesen, wirklich ernst genommen hatte ich sie nie. Doch nun bekam ich einen Einblick in das, was er längst erkannt hatte: Estelle war eine außergewöhnliche Persönlichkeit.

»Jop hat mir erzählt, dass ihr eine Unterkunft für die nächsten Tage braucht«, wandte sie sich mir zu und trank einen Schluck.

»Ja, tut mir leid. Du hast sicher schon gehört, dass ich im Moment …« Ich geriet ins Stocken, aber sie nickte freundlich.

»Die Geschichte war heute nicht zu übersehen.«

»Ich bin dir sehr dankbar, dass du uns reingelassen hast.«

»Ich vertraue seiner Menschenkenntnis.« Sie lächelte ihn warm an, woraufhin er ein bisschen rot wurde.

»Du kannst auf dem Sofa schlafen«, sagte sie zu mir. »Für Jop habe ich eine Matratze im Arbeitszimmer.«

»Geht in Ordnung«, antwortete er, ohne zu zögern, vermutlich hätte er auch in der Badewanne übernachtet, wenn das nur bedeutete, in ihrer Nähe bleiben zu dürfen. Er blickte sie auf eine Weise an, wie ich es bei ihm sonst nie erlebte, und mir wurde langsam klar, dass ich hier einen Mann vor mir sah, der bis über beide Ohren verliebt war. Eine bloße Schwärmerei sah anders aus. Obwohl ich nicht einschätzen konnte, was Estelle dachte, beneidete ich die beiden beinahe um das, was zwischen ihnen geschah, selbst wenn sie nur im Schneckentempo vorankamen.

Ich selbst hatte in den letzten Jahren kein Glück mit romantischen Beziehungen gehabt. Sie endeten nie mit einem großen Knall, eher einem schleichenden Aussterben. In der Mehrzahl der Fälle gab ich mir selbst die Schuld daran, denn manchmal ist es für einen Partner schwer zu verstehen, dass die wirkliche Welt hinter der erfundenen zurückstecken muss, vor allem in den Wochen vor einer Deadline. Außerdem hatte ich meistens das Gefühl gehabt, nicht ganz ich selbst zu sein, weil ich so vieles verheimlichte, das mir widerfahren war.

Einen Moment lang schwiegen wir, dann fragte sie rundheraus: »Und was habt ihr jetzt vor?«

Jop überließ das Reden mir. »Wir wollen die Figur vor der VdF finden. Ich habe jemanden bei der Polizei, der dafür sorgen würde, dass alles nach den Regeln abläuft und der Figur nichts geschieht.« Ich zeigte ihr Hensens Visitenkarte, und sie nickte.

»Ich habe von ihr gehört. Bei manchen Leuten genießt sie einen guten Ruf.«

»Welchen Leuten?«

Doch statt einer Antwort folgten weitere Fragen, und ich gab Auskunft, so gut ich konnte, während ich immer weiter auf dem Sessel nach vorn an die Kante rutschte. Ich wollte endlich mit unserer Suche beginnen und nicht nur herumsitzen. Doch Estelle war eine aufmerksame Zuhörerin, und ihre Anmerkungen zu unserer Suche waren schlau und erstaunlich kenntnisreich, was das Verhalten von Figuren und den Aufbau der Stadt betraf.

Wir setzten also nicht nur die Luftschutzbunker für Lorenala auf die Liste, sondern für Emanuel auch den Schillernden Zirkus an der Straße der Poesie (oder wie die Einheimischen sie nennen: die StraPo – eine Flanier- und Ausgehmeile). Dabei handelt es sich um einen ganzjährigen Vergnügungspark mit einem Riesenrad im Zentrum, von dessen höchstem Punkt aus man die halbe Stadt überschauen kann. Es gibt dort außerdem uralte Karusselle, ein Spiegelkabinett und eine Geisterbahn, natürlich auch jede Menge Imbissbuden, laute Musik und Lichterketten.

Für Mirabelle notierten wir das Echsen- und Insektenhaus des Zoologischen Gartens, das erst vor zwei Jahren neu eröffnet worden war. Für Olympe schlug Estelle außerdem die Große Bibliothek auf dem Fichtenberg vor, die gleich neben der David-Foster-Wallace-Universität liegt. Das Gebäude wird im Volksmund nur die Grüne Banane genannt, weil die Fassade aus grünem Glas besteht und der Grundriss eben einer Banane gleicht. Diese Grüne Banane hat rund um die Uhr geöffnet und beherbergt nicht nur unzählige Bücher, Audio- und Videodateien für den privaten und akademischen Gebrauch, sondern auch zwei Cafés an beiden Enden, die bis 23 Uhr warme Küche und danach eine Handvoll Snacks für die Spätarbeiter anbieten.

Mir war noch nicht klar, wie wir diese Orte effektiv absuchen würden, aber es war ein Anfang. Natürlich bestand die Gefahr, dass mich auf dem Weg von einem zum anderen Ort jemand erkennen würde, aber das Risiko musste ich eingehen.

»Ich kenne nicht viele Autoren, die sich so für ihre Figuren einsetzen würden«, sagte Estelle nach einer Weile ernst.

»Wie meinst du das?«

»Du willst deine Figur vor der VdF beschützen, das sieht man nicht oft. Die meisten Autoren tun nichts, wenn ihre Figuren übertreten. Sie stehen einfach daneben und sehen zu, wie die Figuren in den Schwarzen Tempel geführt werden, distanzieren sich von ihnen und beteuern, dass sie sie so gar nicht gemeint hätten und dass sie sowieso ein Eigenleben führen.« Ihr Ton war seltsam bitter, und ich betrachtete sie nachdenklich. »Wie weit wärst du bereit, für deine Figur zu gehen?«, fragte sie, und ihr Blick bekam etwas Eindringliches.

»So weit, wie es eben sein muss.« Das war die Wahrheit – wenn auch nicht die ganze.

Ich spürte, dass ich bei ihr auf dem Prüfstein stand, doch nach einem Moment nickte sie und sagte: »Ich weiß, wie du deine Figur finden kannst.«