E stelle führte uns in die Küche. Dort stand ein Eichentisch, groß genug für acht Leute. Sie forderte uns auf, uns zu setzen, und goss aus einer wunderschönen Porzellankanne süßen Tee ein. Auch Jop bekam Tee, und für einen Moment sah er dermaßen irritiert in die Tasse, dass ich schmunzeln musste.
»Wir sollten wirklich langsam aufbrechen«, begann ich vorsichtig, aber Estelle deutete nur auf meine Tasse und erwiderte: »Das werden wir, aber vorher müssen wir noch eine wichtige Sache besprechen. Ich habe dir doch gesagt, dass ich dir helfe.« Sie schaltete ein altmodisches Radio ein, das auf einer Anrichte stand, und suchte KapitoloKULTUR , einen Sender, der hauptsächlich Beiträge zur regionalen und überregionalen Kulturszene brachte.
Dabei wurde auch die von der VdF täglich aktualisierte Fahndungsliste für Figuren verlesen. An den meisten Tagen war sie nicht sehr lang, auch heute wurden nur ein alter Fischer, ein einbeiniger Rabe und ein Mädchen mit goldenen Augen und flammend rotem Haar, das angeblich in der Zeit zurückreisen konnte, gesucht.
Doch zum ersten Mal befand sich auch eine meiner Figuren darauf. Und nicht nur das.
»Du erhältst ganz schön viel Presse, obwohl die Sache erst wenige Stunden alt ist«, sagte Estelle. »Sie haben sogar schon ein Statement von Oliver Tognazzi aufgetrieben. Beachtlich.«
Überrascht schnaubte ich. »Was hat der denn dazu zu sagen, wir kennen uns doch überhaupt nicht.«
»Nein, aber er ist eben bekannt. Die Leute mögen ihn. Und er ist ein Garant für gute Unterhaltung.«
Tognazzi hatte in seinem Statement behauptet, dass man es der Figur kaum verübeln konnte, nach Kapitolo zu kommen, wenn die Autorin so hübsch sei wie ich, und damit für Lacher im Studio gesorgt.
Genervt schüttelte ich den Kopf. »Etwas anderes war von ihm wohl kaum zu erwarten.«
Tognazzi war ein bekannter und erfolgreicher Kinderbuchautor, dessen Figuren seit Jahren regelmäßig nach Kapitolo kamen. Manche von ihnen begingen kleinere Verbrechen wie den Diebstahl eines Brötchens, aber in der Mehrzahl der Fälle spazierten sie lediglich so lange durch die Stadt, bis sie aufgegriffen wurden. Meistens handelte es sich um kleinere Tiere wie Totenkopfäffchen, Papageien oder Echsen. Manchmal auch um den einen oder anderen Zwerg, eine Sphinx, ein junges Einhorn und zwei geflügelte sprechende Katzen.
Er wurde jedes Mal zu einer Geldstrafe verurteilt, hatte bereits dreimal für wenige Wochen im Gefängnis gesessen und war in der Stadt bekannt wie ein bunter Hund. Auf jeder wichtigen Party war er eingeladen, denn wo er auftauchte, folgte die Presse. So streng die Regeln für Figuren in Kapitolo auch waren, für ihn wurde so manches Auge zugedrückt, da die Bewohner ihn eher amüsant als gefährlich fanden. Durch den Erfolg seiner Bücher konnte er es sich leisten, die Strafen zu bezahlen, ohne darüber nachzudenken, Versicherung hin oder her. Es half natürlich, dass er äußerst charmant sein konnte. Regelmäßig trat er in Talkshows auf, gab Interviews und hielt Vorträge an Universitäten zum Thema Übertritt . Dabei blieb er stets vage und wiederholte nur, was ohnehin alle wussten – warum ausgerechnet seine Figuren so oft den Wechsel in die Realität schafften, wusste er angeblich nicht.
Sein Statement zu meinem Fall blieb nicht das einzige. Es folgten weitere vom Bürgermeister und natürlich auch von Driessen. Der zeigte sich zuversichtlich, das Problem zügig zu lösen. Als ich seiner Stimme lauschte, überlief mich eine Gänsehaut.
»Das Problem …«, flüsterte ich.
Estelle nickte. »Mehr ist die Figur für ihn nicht. Und ein Problem wird gelöst. Egal, wie.«
Ich spürte, wie die alten Erinnerungen an den Sommer vor fünfzehn Jahren an die Oberfläche meines Bewusstseins rollten wie Wellen auf den Strand. Jahrelang hatte ich versucht, diese Ereignisse zu vergessen, doch jetzt drängten sie mit Macht ans Licht, und mit ihnen die alten Zweifel, die mir das Schreiben damals so schwer gemacht hatten. Ihretwegen hatte ich zwei Jahre lang keine Zeile verfasst; erst als ich sie tief in mein Unterbewusstsein verbannt hatte, konnte ich wieder mit einem Text beginnen. Das war es auch, was Olga bei unserem Telefonat gemeint hatte.
»Das Problem mit Driessen ist, dass er Probleme nur auf eine Art lösen kann«, sagte Jop abfällig, und eine meiner ältesten Erinnerungen an Kapitolo und seine Figuren drängte sich an die vorderste Front meiner Gedanken.
»Als ich hierherkam, hatte ich einen Klassenkameraden«, erzählte ich. »Einen ruhigen, unscheinbaren Jungen … Das war ein halbes Jahr nach unserem Umzug nach Kapitolo oder so. Dieser Junge hat allen Leuten erzählt, dass er zum Geburtstag einen Hund geschenkt bekommen hat. Wir konnten es gar nicht mehr hören, weil er uns damit so auf die Nerven ging. Aber niemand hat deshalb etwas gesagt, weil er kurz zuvor seine Mutter durch einen Unfall verloren hatte und der Vater ihm offenbar eine Freude machen wollte. Das nahmen wir jedenfalls an.« Ich machte eine kleine Pause, bevor ich weitersprach. »Wochenlang war er deprimiert, aber endlich hatte er wieder bessere Laune, also ließen wir ihn reden. Natürlich amüsierten sich hinter seinem Rücken alle darüber, wie sehr er an dem Tier hing, aber heute denke ich, wir waren wohl alle ein bisschen neidisch, weil er eine solche Freude darüber empfinden konnte, die beinahe etwas Kleinkindhaftes hatte. Doch dann tauchte er eines Tages nicht mehr auf. Durch unsere Klassenlehrerin erfuhren wir, dass sein Vater einen Schulwechsel angestrebt hatte.« Ich sah Estelle fest in die Augen. »Der Mann hatte seinem Sohn gar keinen Hund geschenkt. Der Junge hat einfach einen Hund aufgegriffen, der sich in ihrem Kleingarten versteckt hat. Wochenlang hat er ihn gefüttert.«
Sie lächelte wehmütig. »Eine Figur, nehme ich an?«
Ich nickte. »Weil der Junge minderjährig war, musste er keine Strafe zahlen, und auch in der Schule war das Thema schnell erledigt. Damals habe ich mir nichts dabei gedacht … Aber heute frage ich mich, für wen dieser Hund eigentlich ein Problem war.« Mit verschränkten Armen lehnte ich mich auf dem Stuhl zurück und betrachtete finster das Radio. »Ich meine, es ging ihm besser, er hatte endlich wieder Freude am Leben, aber die Leute haben gesagt, es sei nicht gut, sich der Realität zu verweigern.«
»Was hast du gedacht?«
Ich sah sie wieder an. »Dass es sich die Leute immer zu einfach machen, wenn sie denken, jemand flüchtet vor der Realität. Meistens flüchten die Leute nur für einen Moment lang oder vor bestimmten Teilen ihres Lebens, sie wollen doch nie komplett daraus verschwinden. Außerdem: Wenn die Figuren hier sind, sind sie dann nicht Teil dieser Realität geworden?«
»Mag sein, aber die Menschen haben Angst vor Veränderung.«
»Ist das wirklich so einfach?« Auf einmal brachte mich das alles sehr auf. »Ich mag es auch nicht, wenn im Supermarkt plötzlich die Regale anders stehen und die Nudeln nicht mehr dort sind, wo sie bisher waren. Aber deshalb kann ich doch trotzdem versuchen, etwas zu verstehen, das anders ist als ich.«
Nachdenklich starrte sie über meine Schulter in eine unbestimmte Ferne. »Vielleicht ist es für dich nicht so einfach, weil du neugierig geblieben bist und dir Fragen stellst.«
»Das ist keine sehr geschätzte Eigenschaft.«
»Nein, das ist sie wohl nicht.« Sie wandte sich an Jop. »Hast du nur gehofft, dass ich euch aufnehme, oder steckt mehr dahinter?«
Unter ihrem Blick rutschte er auf dem Stuhl hin und her. »Natürlich habe ich gehofft, dass du uns hilfst, aber …«
»Aber?«
»Ich hatte das Gefühl, dass du der Sache mit den Figuren offen gegenüberstehst.«
Ihr Blick wurde sezierend.
»Es gibt Gerüchte«, gab er zu.
»Gerüchte?«
Verlegen wandte er sich ab. »Die Nachbarschaft klatscht, das weißt du doch. Man kann nicht öfter bei den Friedmans stehen und nicht mitkriegen, was sich die Leute erzählen.«
»Und das wäre?«
Er zögerte. »Dass du Verbindungen hast …«
»Zu?«
»Figuren.« Seine Antwort klang beinahe wie eine Frage.
Sie schnaubte. »Die Leute reden viel. Meistens Unsinn.« Ihr Blick wurde schärfer, und Jop hob das Kinn. Da nickte sie und atmete tief durch. »Aber in diesem Fall haben sie nicht ganz unrecht, zugegeben.«
Erleichtert sackten Jops Schultern nach unten.
»Ich habe schon immer gern gelesen«, begann Estelle. »Bereits als Kind. Auf Bildung wurde bei uns zu Hause viel Wert gelegt. Geld hatten wir nicht, doch zu jedem wichtigen Anlass bekamen wir Kinder Bücher geschenkt, das gehörte immer dazu. Jeder Geburtstag, jedes Weihnachten.« Sie leerte ihr Glas und stellte es energisch auf dem Tisch zwischen uns ab. »Ich war ein schwieriges Kind, fragt man meine Eltern. Schweigsam, störrisch, ich hatte nicht viele Freunde. Stattdessen verbrachte ich viel Zeit mit meinen Büchern, mit ihnen konnte ich mich in andere Welten träumen.« Ihr Lächeln wurde schief, als sie mich ansah. »Eine ziemlich langweilige Geschichte, sie ist wirklich nicht neu. Das unsichere Kind sucht die Flucht in die Fantasiewelt.« Ihr Blick knüpfte an das an, was wir eben noch besprochen hatten.
Aufmunternd lächelte ich ihr zu, die Vergangenheit konnte niemand mehr ändern.
»Interessant wurde die Geschichte eigentlich erst, als ich Bodhi traf.« Sie stand auf und öffnete eine Schublade in dem Sideboard, das neben dem Tisch stand. Sie entnahm ihr ein dickes, in blaues Leder gebundenes Buch und zog eine alte Fotografie zwischen den Seiten hervor, die sie mir gab.
Mir war sofort klar, dass wir einen Einblick in ihre Vergangenheit erhielten, der uns bisher nicht gestattet gewesen war, und dass dies ein besonderer Moment war.
Auf dem Foto waren zwei junge Männer zu sehen, keine zwanzig, dünn, als würden sie noch in ihre Glieder hineinwachsen, in viel zu großen Shirts. Sie standen vor einer strahlend weißen Fassade, ein breites Grinsen in den jugendlichen Gesichtern. Der eine mit Dreadlocks und Shorts und demselben kleinen Leberfleck, der auch heute noch auf Estelles Wange zu sehen war. Der andere in Dhoti und mit den bezauberndsten Grübchen, die ich je gesehen hatte. Ihre Freude war ansteckend. Sie hatten einander die Arme über die Schultern gelegt, und die schiere Hoffnung, die aus ihren Gesichtern sprach, war beinahe schmerzhaft zu spüren.
Aufmerksam betrachtete ich das Foto, ich wusste, dass sie es uns aus einem bestimmten Grund gezeigt hatte. Der erste war offensichtlich, weil er mit ihr zusammenhing. Jop schien nicht überrascht, und dem kurzen Blickwechsel zwischen ihnen konnte ich entnehmen, dass seine Reaktion auf dieses Foto für sie einen wesentlichen Unterschied machte. Jop sah viele Dinge, die anderen entgingen, und wenn er sich dafür entschied, jemanden zu mögen, dann geschah das nicht aus blindem Enthusiasmus, sondern weil er sehr genau um die menschliche Natur wusste.
Der zweite Grund war etwas weniger offensichtlich. Weil ein Foto nicht dasselbe ist wie die Realität und es eine Weile dauerte, bis man erkannte, was es mit Bodhi auf sich hatte.
Er war eine Figur.
Die Aura war nicht sofort ersichtlich, weil ihr das Zittern fehlte, das sie normalerweise verriet, aber irgendetwas war doch anders . In der Bildschärfe, an den Rändern, in der Auflösung. Es gab einen Unterschied.
Ich schnappte nach Luft.
»Ja, das war schon eine Sache«, sagte Estelle, setzte sich wieder und lächelte ihr Sphinxlächeln.
Jop nahm mir das Foto aus der Hand. »Er hat ein freundliches Gesicht.«
In ihrem Blick lag vieles, das nicht ausgesprochen wurde und nicht für meine Augen bestimmt war, sodass ich den Blick senkte.
»Er war eine freundliche Seele.«
Jop gab ihr das Foto zurück, das sie zärtlich betrachtete. Mit den Fingerspitzen fuhr sie über das vergilbte Papier. »Eines Tages tauchte er einfach auf, wie es angefangen hat, ist unwichtig, ich könnte euch die Geschichte erzählen, aber das ist gar nicht der entscheidende Teil. Der entscheidende Teil ist, dass wir verliebt waren.« Beinahe herausfordernd schaute sie uns an, doch Jop reagierte nicht, weil offenbar nichts, was sie tat, ihn schockieren konnte.
»Was ist mit ihm passiert?«, fragte ich vorsichtig.
»Die VdF hat ihn erwischt. Er hat sich hinausgetraut, um mir ein Geschenk zum Geburtstag zu kaufen. Es war eine dumme Idee, viel zu gefährlich, und ich habe ihn mehrfach davor gewarnt. Aber er wollte einfach nicht hören.« Wieder strich sie über das Foto. »Er hatte in unserer Garage Unterschlupf gefunden. Meine Eltern wussten nichts davon, nur meine beiden Schwestern. Sie halfen mir, ihn mit Essen und Kleidung zu versorgen. Wenn meine Eltern arbeiten waren, ließen wir ihn ins Haus, damit er duschen konnte. Meine Eltern sind ihm nur einmal begegnet, ein unglücklicher Zufall, der so kurz war, dass sie nicht merkten, mit wem sie es zu tun hatten. Meine Schwestern schwiegen mir zuliebe, aber … genützt hat es trotzdem nichts. Der Kassierer in dem Geschäft, in dem er etwas kaufen wollte, hat etwas vermutet und ihn festgehalten, bis die Polizei kam. Ich habe immer wieder zu ihm gesagt, es ist zu riskant, du darfst nicht hinausgehen, aber er wollte nicht auf mich hören. Vielleicht ging es auch gar nicht um mich, und er musste einfach nur raus … aus diesem Gefängnis, in das wir ihn unabsichtlich gesperrt hatten.«
Mich überkam das Bedürfnis, sie in den Arm zu nehmen, aber ich tat es nicht. Estelle war eine stolze Frau.
»Ich habe ihn nie wiedergesehen, ich weiß auch nicht, aus welcher Geschichte er stammt oder warum er nicht zurückwollte. Gute dreißig Jahre ist das jetzt her.« Sie lachte, aber ihre Stimme zitterte. »Verlassen hat er mich nie.« Sie starrte Jop an, und zaghaft nickte er.
Estelle verstand sich als Witwe, selbst wenn sie es offiziell nicht war. Sie hatte einen Verlust erlebt, dessen Wunde nie vollständig verheilt war und der es ihr selbst nach all den Jahren schwer machte, sich auf eine neue Beziehung einzulassen. Jops Alter war eine Sache – ihr gebrochenes Herz eine andere.
Sie legte das Foto beiseite. »Danach war für mich nichts mehr wie vorher. Ich erkannte, wie falsch unser Umgang mit den Figuren in Kapitolo ist, und ich wollte etwas dagegen tun.«
Mich erfasste ein Kribbeln. Das wäre die Gelegenheit gewesen, ihr die Wahrheit zu sagen. Dass ich sie nur zu gut verstand, dass auch ich mich schon oft gefragt hatte, ob es nicht andere Wege gab, mit den Figuren umzugehen. All die Zweifel zuzugeben, die mich vor so vielen Jahren gequält hatten und die ich zu unterdrücken gelernt hatte, um mit dem Schreiben voranzukommen.
Aber ich brachte die Worte nicht über mich. Ich hatte zu viel Angst davor, mein Geheimnis zu offenbaren. Stattdessen nickte ich nur und ließ sie fortfahren.
»Seit dieser Zeit hat sich vieles verändert. Es gibt Menschen, die genau wie ich ein Problem damit haben, wie Figuren hier behandelt werden. Und es gibt Figuren, denen es gelungen ist, der VdF zu entkommen.«
Mein Herz schlug schneller.
»Für diese Leute wurde ein Ort geschaffen, an dem sie sicher sind.«
Jop beugte sich vor, seine Stimme war zu einem Flüstern abgesunken. »Redest du etwa vom Untergrund?«
Sie nickte.
Der Untergrund. Er war eines dieser Gerüchte, die sich die Leute manchmal zu später Stunde erzählten, wenn sie sich unbeobachtet wähnten, doch niemand glaubte so richtig daran. Es gab keine Beweise. Deshalb hielten ihn die meisten Leute für Seemannsgarn.
»Niemand hat den Untergrund je gesehen«, erwiderte ich, und Estelle lächelte nachsichtig.
»Niemand, der darüber reden würde.«
»Und du glaubst, meine Figur hat dort Zuflucht gefunden?«, fragte ich beinahe atemlos.
»Es wäre möglich. Es ist zumindest ein besserer Startpunkt für deine Suche als ein Luftschutzbunker.« Sie warf uns amüsierte Blicke zu. »Der Untergrund weiß über vieles Bescheid, was die Figuren in Kapitolo betrifft, und es gibt dort Leute, die es sich zur Aufgabe gemacht haben, alles zu wissen. Ihnen entgeht selten etwas. Im Untergrund sind alle Figuren willkommen. Zunächst einmal. Es geht nicht darum, ob du als Protagonist oder Antagonist geschrieben wurdest, es ist ein Hafen zum Durchatmen. Zum Pläne schmieden und Entscheiden. Man könnte sagen, es ist«, sie hob die Hand, »neutrales Gebiet.«
Was sie erzählte, klang unglaublich. Ich konnte mir kaum vorstellen, dass es wahr sein sollte. Das war weit mehr als die Gerüchte, die über den Untergrund kursierten, je hatten erahnen lassen. Allerdings fiel es mir schwer, mir einen Ort vorzustellen, der groß genug war, um all diese Figuren zu beherbergen, von denen sie sprach. Außerdem musste er von der VdF unerkannt bleiben.
Auf einmal erfasste mich eine elektrisierende Aufregung. »Wie gelangen wir dorthin?«
»Ich werde dich hinbringen.«
»Ist das nicht gefährlich?«, warf Jop ein.
»Du kannst nicht mitkommen.«
»Warum?«, fuhr er auf und warf dabei beinahe seine Teetasse zu Boden.
Ruhig griff sie danach und schob sie in die Mitte des Tischs. »Weil die Leute dort mich kennen und Kate die Autorin ist, deren Figur betroffen ist. Der Untergrund wird von dieser Geschichte bereits gehört haben. Er ist zwar gastfreundlich, aber auch vorsichtig und sehr, sehr misstrauisch, was Fremde betrifft. Das müssen sie sein.«
Die Antwort gefiel ihm nicht, das konnte ich sehen. Wir wussten nichts von diesem Untergrund. Vor einer Minute hatten wir nicht einmal daran geglaubt, dass er existierte. Und nun sollte ich ohne Jop dort hingehen?
Eine Weile diskutierte er mit Estelle darüber, aber sie ließ sich nicht umstimmen, und am Ende gab er schließlich nach und verschränkte mürrisch die Arme vor der Brust.
»Dann werde ich inzwischen versuchen, mehr über Damla Abbas herauszufinden«, sagte er. »Aber meldet euch bei mir, wenn ihr Hilfe braucht.«
»Dort, wo wir hingehen, gibt es keinen Handyempfang.«
»Wo soll das sein? Etwa in den Luftschutzbunkern?«
Er hatte einen Scherz machen wollen, aber sie lächelte nur und sagte: »Etwas in der Art.«
»Na schön. Aber«, er hob den Zeigefinger und deutete damit abwechselnd auf unsere Nasen, »stellt nichts Verrücktes an.«
»Was soll ich schon Verrücktes machen?«, fragte ich.
»Dir fällt schon etwas ein, du bist doch Autorin.«
»Ich lasse meine Figuren Verrücktes erleben, ich selbst bin eher langweilig.«
»Wer’s glaubt«, murmelte er und verließ das Zimmer, um mit seiner Recherche zu beginnen.
Estelle erhob sich, um ihm zu folgen, während mein Blick zu dem alten Foto zurückwanderte, das nun neben der Teekanne auf dem Tisch lag und mich in die Zeit zurückversetzte, in der ich in einem ähnlichen Alter gewesen war.
Ich war sechzehn gewesen, als ich das erste Mal mit einer Figur gesprochen hatte, von Angesicht zu Angesicht. Ich war nicht verliebt gewesen so wie Estelle, aber ich hatte etwas empfunden, das ich danach nie wieder verspürt hatte. Als würde sich mir ein großes Geheimnis offenbaren, das mein Leben für immer verändern könnte. Und das hatte es. Allerdings nicht zum Guten.
Ich hatte nie mit jemandem über die Ereignisse jenes Sommers gesprochen, aber ich hatte über die Gefühle geschrieben, die ihn begleiteten. Damals in meinem ersten Buch Untergehen bei Ebbe . Es war nicht nur das erfolgreichste, sondern auch das persönlichste meiner Bücher gewesen, vielleicht weil es das erste war. Da greifen viele Autoren auf Autobiografisches zurück (weshalb sich so viele Debüts um Selbstfindung, Sex und Partys drehen).
Es handelte von einer jungen Frau, die jahrelang schweigt, weil sie ein traumatisches Erlebnis ihrer Jugend nicht verarbeiten kann. Eine Woche lang begibt sie sich auf eine Reise durch sieben Städte, eine Tour de Force in sieben Nächten, an deren Ende sie einen Freund verliert, aber erkennt, dass sie die Vergangenheit hinter sich lassen muss, wenn sie eine Zukunft haben will. Der unterschwellige Humor auch während der tragischen Szenen machte den Roman zu einem Kritikerliebling.
Das Schreiben hingegen war ein stetiges Ringen mit dem Text gewesen. Tinka, die Protagonistin, ist mir nicht sympathisch gewesen, ich bin nie richtig warm mit ihr geworden, in meinen Augen blieb sie blass und beim Schreiben sperrig. Wie ich später in Gesprächen erfuhr, erging es vielen Autoren mit ihrem Erstlingswerk so. Richtig zufrieden ist man eben nie damit. Häufig ist das Debüt zu emotional, und es haftet den Seiten noch das überschwängliche Pathos der Jugend an. Kein Autor mag sein erstes Buch, es bindet uns nur eine widerlich klebrige Nostalgie daran, weil es eben das erste ist.
In Estelles Küche verspürte ich dieses Gefühl wie damals beim ersten Gespräch mit einer Figur auf einmal wieder: dass ich auf der Schwelle zu etwas stand, das meinem Leben eine neue Richtung geben könnte. Die Frage war nur, wohin es mich führen würde.