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D as Gute ist: Es ist Winter. Du kannst dir eine Mütze aufsetzen, Schal und so weiter, und dann erkennt dich auf der Straße kein Mensch mehr. Aber vorsichtshalber solltest du noch etwas davon verwenden.« Estelle führte mich in ihr Schlafzimmer, das ähnlich opulent eingerichtet war wie der Rest der Wohnung und aussah wie ein Raum, in dem sich Jayne Mansfield wohlgefühlt hätte.

Sie öffnete eine Schranktür, hinter der sich eine Reihe Perückenständer befanden, und sagte: »Such dir eine aus. Wenn möglich die praktischste.«

Ich fühlte mich sofort überfordert. Meine Erfahrung mit Perücken beschränkte sich auf Faschingspartys, aber das hier waren hochwertige Alltagsperücken. Unsicher zeigte ich auf eine schulterlange Perücke mit schwarzem Haar, die mir nicht zu auffällig erschien, sich aber von meinem eigenen Haar stark unterschied.

»Gute Wahl.« Estelle nahm sie aus dem Schrank und forderte mich dazu auf, mich auf das Bett zu setzen, das mit einer dunkelroten Samtdecke bedeckt war. Anschließend steckte sie mir gekonnt die Haare hoch, zog mir das Haarnetz über, anschließend die Perücke, deren Ansatztüll sie mir an der Stirn anklebte und den Rest abschnitt. Nach zwanzig Minuten deutete sie auf den Spiegel, der an einer Kommode neben dem Bett befestigt war.

Ich erkannte mich kaum wieder. Farbe und Schnitt hatten einen völlig anderen Menschen aus mir gemacht. »Das müsste funktionieren«, sagte ich begeistert. »Ich komme mir vor wie Sherlock Holmes, wenn er sich eine Verkleidung zugelegt hat.«

»Ich bezweifle, dass er jemals eine solch schicke Perücke besessen hat, meine Liebe.«

Doch mit dieser Veränderung war Estelles Vorbereitung noch nicht abgeschlossen. Aus einem anderen Schrank holte sie eine Blechkiste und stellte sie auf dem Bett ab. Als sie den Deckel hob, erkannte ich darin ein gutes Dutzend Waffen. Entsetzt schaute ich sie an, aber sie winkte nur ab.

»Die Clubszene war früher eine andere«, lautete ihre ganze Erklärung, und ich wollte gar nicht mehr wissen. Nachdenklich blickte sie auf die Kiste hinab. »Womit würdest du dich denn wohlfühlen?«

»Ich? Keine Ahnung.«

»Messer?« Sie deutete auf ein Klappmesser.

»Damit kann ich nicht umgehen.«

Sie runzelte die Stirn. »Dann vermutlich auch keinen Schlagring. Reizgas?«

»Wenn es sein muss.«

»Man weiß nie, wie sich die Dinge entwickeln«, erwiderte sie ominös und gab mir die kleine Kapsel, die ich erst etwas ratlos betrachtete und dann in die Manteltasche schob.

Währenddessen nahm sie sich selbst den Schlagring, das Klappmesser und eine Taschenlampe. Auch mir reichte sie eine handgroße stabförmige Lampe, die ich in eine der hinteren Hosentaschen steckte. Zu guter Letzt versenkte Estelle eine Taschenpistole im Innenfutter ihres dunkelroten Kurzmantels.

»Es gab in meinem Leben genug Momente, in denen es gut gewesen wäre, ich hätte etwas bei mir gehabt, um mein Gegenüber einzuschüchtern oder auch aufzuhalten, wenn es sein muss«, erklärte sie auf meinen Blick hin gelassen. »Also habe ich irgendwann meinen Waffenschein gemacht und mir diese Pistole zugelegt. Für Notfälle.«

»Notfälle?«

»Andere Leute legen sich einen Schäferhund zu, aber ich bin allergisch gegen Hundehaare.« Mit diesen Worten drehte sie sich um und marschierte aus dem Zimmer, als wäre das ein völlig berechtigter Einwand.

Bevor wir aufbrachen, ging ich noch einmal ins Wohnzimmer, um Notizblock und Stift aus dem Rucksack zu nehmen. Dabei blieb mein Blick an dem ausgestopften Löwen in der Ecke hängen – und plötzlich fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Er war eine Figur. Es war nicht leicht zu erkennen, weil er nicht mehr lebte, aber wenn man ganz genau hinsah, erkannte man das merkwürdige Zittern an den Rändern, das selbst jetzt noch vorhanden war, wenn auch deutlich schwächer als zu Lebzeiten.

Ich starrte ihn an, und vor mir entfaltete sich die Vielzahl an Geschichten, die ihm möglicherweise zugrunde lagen. Estelle konnte ihn nicht geschossen haben, dazu war er zu alt. Sie verbarg das Verbotene vor unseren Augen, in der Mitte ihres Wohnzimmers.

Überrascht lachte ich auf und deutete mit dem Zeigefinger auf sie. »Du hast es faustdick hinter den Ohren.«

»Er war schon so, als ich ihn fand«, erwiderte sie lächelnd.

»Und sein Besitzer?«

»Sammelt keine Figuren mehr. Eines Tages erzähle ich euch die Geschichte vielleicht einmal.«

Ich war mir sicher, dass Estelle so manche Geschichte auf Lager hatte. Vielleicht war auch diese Sache mit mir nur ein Kapitel ihrer illustren Sammlung. Sie waren in das Gewebe dieser Stadt eingeknüpft wie die unterschiedlichen Knoten in einen Teppich.

Kurz darauf verließen wir das Haus. Ich zog mir die Mütze tief ins Gesicht, stellte den Mantelkragen auf und schob den geborgten Schal bis zur Nasenspitze hoch. Wahrscheinlich hatte ich Glück gehabt, dass meine Figur nicht ein paar Monate früher nach Kapitolo gekommen oder entdeckt worden war, sonst wäre das Verkleiden schwieriger geworden.

Estelle besaß keinen Führerschein, mein Scooter war nicht für zwei Leute ausgelegt, und weder sie noch ich konnten Jops alten 1961er-Messerschmidt-KR -200-Kabinroller-Zweisitzer fahren, den ich für ein Verkehrshindernis hielt und den Jop heiß und innig liebte. Daher fuhren wir mit der Zirkelbahn bis zum Platz des Guten Königs und stiegen dort in den Bus Nummer 4 um. Niemand beachtete uns, wir waren einfach zwei in dicke Wintermäntel gehüllte Frauen auf dem Weg nach Irgendwo. Die Kälte ließ auch an diesem Tag nicht nach und brachte die Leute dazu, sich vorsichtig und schlitternd durch die Stadt zu bewegen.

Trotzdem schwitzte ich und spürte, wie mir der Schweiß den Rücken herunterlief. Die Angst, erkannt zu werden, hatte mich am Genick gepackt. Früher hatte ich davon geträumt, wie mich begeisterte Leser auf der Straße nach einem Autogramm fragen würden, als wäre ich ein Rockstar. Jetzt hingegen fürchtete ich nichts mehr, als dass man mich auf offener Straße beschimpfen würde.

Außerdem hielt ich nach meiner Figur Ausschau, die sich vielleicht längst an meine Fersen geheftet hatte. Misstrauisch beobachtete ich andere Passagiere in der Zirkelbahn, doch genau wie ich trugen sie Mütze und Schal. Von den Gesichtern war kaum etwas zu erkennen. Die Figur konnte sich hinter so manchem aufgestellten Mantelkragen verstecken.

Um mich abzulenken, erzählte mir Estelle während der Fahrt Geschichten über die Stadt, sie war eine unterhaltsame Stadtführerin und wusste nicht nur Zahlen und Fakten zu den bekannten Gebäuden, sondern auch Anekdoten zur Geschichte der Figuren in Kapitolo zu berichten.

»Dort an der Brücke haben sie Holden erwischt. Leser haben noch Jahre später nachts heimlich Liebesbriefe an ihn in die Gitter des Geländers geklemmt, um daran zu erinnern. Irgendwer auch eine Du-kommst-aus-dem-Gefängnis-frei-Karte .« Sie deutete auf den Torbogen, der den Eingang zum Fischmarkt markierte. »Und dort saß lange Zeit Gemma Doyle aus A Great and Terrible Beauty herum und hat das Buch gelesen, für das sie erfunden worden ist. Weil sie so still war, wurde sie nicht erkannt«, sagte sie, als wir an der Oper vorüberfuhren.

Davon hatte ich gehört. Ein scharfzüngiger Kollege, den ich nicht namentlich nennen will, hat sich einmal in meinem Beisein über die Autorin amüsiert, dass ihre Bücher so unbedeutend seien, dass sie nicht einmal zur Kenntnis genommen würden, wenn sie lebendig würden. Natürlich sprach da der pure Neid aus ihm, er verkauft nicht einmal ansatzweise, was Libba Bray absetzt.

Vor meinen Augen fügte sich das Puzzle dieser außergewöhnlichen Stadt zusammen. Und es ergab ein erstaunliches Bild. Auch meine Figur fügte sich nun in dieses Puzzle ein. Ich wusste nur noch nicht, an welcher Stelle.

Nach einer halben Stunde Fahrt erreichten wir die Haltestelle Gilgameschweg. Keine fünf Minuten zu Fuß entfernt befand sich der alte Marktplatz und mitten auf ihm das Kaufhaus der Wünsche . Es stand zwischen einer grauen neogotischen Kirche, deren Gargoyles stoisch auf den stetigen Besucherstrom blickten, und einem bunt bemalten siebenstöckigen Gebäude, das einst dem Stoffhändler Filippou gehört hatte und inzwischen eine Stiftung zur Förderung von Aphorismen und Limericks beherbergte.

Bei seinem Anblick musste ich unwillkürlich an den Tag denken, an dem ich nach Kapitolo gekommen war, und eine seltsame Melancholie erfasste mich, beinahe wie eine Vorahnung.

Ich war schon lange nicht mehr hier gewesen. Es hatte sich nicht ergeben. Wenn man ins Kaufhaus der Wünsche kommt, muss man Zeit mitbringen, denn selbst diejenigen, die nur eine Kleinigkeit besorgen wollen, bleiben stets viel länger, als sie geplant haben – weil sie sich nicht vom Anblick der Auslagen und des Gebäudes losreißen können. Wer einmal über die Schwelle tritt, verfällt dem Zauber dieses Orts. An der Eingangsfassade prangen Jugendstilornamente, die in übergroßen Lettern die Worte Kaufhaus , der und Wünsche bilden. Die Buchstaben selbst sind aus lasiertem Mahagoniholz gefertigt, die Zwischenräume mit glitzerndem Glas ausgefüllt.

Als Estelle und ich darauf zugingen, gleißte das Messing der Drehtür im Licht der kalten Wintersonne. Ich begriff, dass dies unser Ziel war.

»Bist du sicher?«, fragte ich und blieb stehen. »Sollten wir wirklich hineingehen? Ich meine, dieser Platz ist vollgepackt mit Menschen. Wenn mich dort jemand erkennt …«

Beruhigend klopfte sie mir auf die Schulter. »Keine Bange, deine Verkleidung hält so gut wie die von Holmes, glaub mir. Außerdem bleibt uns gar nichts anderes übrig, wenn wir meinen Kontakt treffen wollen.« Aufmunternd nickte sie mir zu, doch ich folgte ihr nur zögerlich ins Innere dieses Palastes.

Sofort umfing mich der so typische Geruch. Man sollte annehmen, dass es eine Mischung aus Parfum und stickiger Luft ist, doch das Gegenteil ist der Fall. Es riecht einladend nach Konfekt, Sommer und Kindheitserinnerungen, an manchen Stellen sogar nach frisch gemähtem Gras. Der Fußboden besteht aus tiefgrünem Jadestein und die Wände im Erdgeschoss aus venezianischen Spiegeln mit Goldfassung, die das Gebäude noch größer erscheinen lassen. Die optische Täuschung bringt die Kunden dazu, staunend an den Regalen und Auslagen vorbeizulaufen, als wären sie in einer Traumlandschaft gefangen.

Das Kaufhaus der Wünsche erstreckt sich auf fünf Etagen mit jeweils wiederum fünf Armen, die alle vom Zentrum abgehen, der Brunnenhalle, die sich bis zu der gläsernen Decke streckt, die sich als Kuppel über alles wölbt. An den Geländern ringsum ranken sich Pflanzen, echte wie kunstvoll gefertigte, und an jedem Eingang zu einem Arm hängt ein Kristallkronleuchter. Die Wände zieren ineinanderfließende Gemälde, und alle paar Meter stehen prunkvolle Polstermöbel, die zum Verweilen einladen. Marmorsäulen tragen Kassettendecken, und jedes Geschäft ist sein eigenes Kunstwerk, was Architektur und Interieur betrifft. In der Mitte der Halle steht ein Springbrunnen, dessen Wasser jede volle Stunde bis zur Decke hinaufspritzt und dessen Boden bedeckt ist mit Münzen aus der ganzen Welt.

Das Besondere an diesem Kaufhaus sind jedoch die Geschäfte, denn was es hier gibt, gibt es nur hier und nirgendwo sonst. Schneider, Köche, Spielzeughersteller, Friseure, Goldschmiede, Patisserien und Papeterien, vom kleinsten Geldbeutel bis zur prall gefüllten Börse – es ist für alle etwas dabei. Der Traum, etwas Besonderes und Individuelles zu finden, offenbart sich für jeden, der das Kaufhaus der Wünsche betritt.

Wir nahmen die Rolltreppe, die sich in einem langen Band spiralförmig von Etage zu Etage windet und immer wieder flache Bereiche zum Ein- und Aussteigen bietet. Auf diese Weise fuhren wir bis zur dritten Etage hinauf. Estelle führte mich in die Buchbrasserie , eine der insgesamt vier Buchhandlungen, in der ich selbst auch schon zwei Lesungen gehabt hatte.

Insbesondere für seine Abteilung mit Kochbüchern ist es berühmt, besitzt es doch zwei kleine Showküchen, in denen von Montag bis Freitag Rezepte aus ausgewählten Kochbüchern des Sortiments nachgekocht werden. Interessierte Kunden können die Gerichte probieren. Das macht die Buchhandlung vor allem bei Studenten und gestressten jungen Eltern beliebt, denen es an Talent oder Zeit zum Kochen mangelt – und am Geld, richtig essen zu gehen. Die Inhaberin der Buchhandlung wiederum macht sich diese Umstände zunutze, indem sie direkt neben den Küchen eine Abteilung mit Fachbüchern der beliebtesten Studienfächer und eine mit Eltern- und Erziehungsratgebern angeschlossen hat.

Doch wir waren nicht zum Essen hergekommen. Estelle führte mich durch die gut besuchte Abteilung für Krimis, die wie ein Polizeirevier aufgemacht ist samt Asservatenkammer, wo es Briefe, Notizen und andere Dinge aus dem ehemaligen Besitz verstorbener Autoren gibt, bis zur Science-Fiction, deren verspiegelte Regale weniger Kunden anlocken.

Dort stellten wir uns vor das erste Regal, und ich öffnete den Mantel, weil die Buchhandlung gut geheizt wurde. Ich hatte zu viel Angst, erkannt zu werden, daher ließ ich Schal und Mütze an. Unter der Perücke juckte mir fürchterlich der Kopf, sodass ich unauffällig versuchte, mich mit dem Zeigefinger zu kratzen. Ich kam mir vor wie ein Tier kurz vor der Flucht. Mein Blick huschte über die Leute, die an uns vorübergingen, bereit, jeden Moment wegzurennen, sollte mich jemand erkennen.

Es dauerte nicht lange, bis sich eine junge Frau mit Klemmbrett zu uns gesellte. Sie war klein, höchstens einen Meter fünfzig, ihr dichtes braunes Haar war zu einem hohen Pferdeschwanz gebunden, der von einer roten Schleife gehalten wurde. Sie trug eine weite Latzhose und mindestens vier verschiedene Ketten. Auf Brusthöhe war ein Schild angebracht, das sie als Mitarbeiterin der Buchhandlung auswies.

»Kate«, sagte Estelle, »das ist Josie.«

Ich nickte ihr zu.

»Sie wird uns helfen.«

Josie sah jedoch nicht so aus, als könne sie es kaum erwarten, mir zu helfen. Ihr misstrauischer Blick sprach Bände. Wenn sie wirklich für den Untergrund arbeitete, riskierte sie viel, indem sie sich mit mir traf. Dabei kannte sie mich nicht einmal und musste sich allein auf Estelles Wort verlassen, dass ich mein neu erworbenes Wissen über den Untergrund nicht dazu verwenden würde, einen Deal mit der Staatsanwaltschaft auszuhandeln.

»Du siehst anders aus als auf deinem Foto«, stellte sie als Erstes fest.

»Das ist eine Perücke.« Ich deutete auf das schwarze Haar, aber sie schüttelte den Kopf.

»Nein, ich meine, älter.«

»Ja, das auch.«

»Dir ist also eine Figur entkommen.« Sie wartete nicht auf eine Antwort. »Und jetzt willst du sie wiederfinden.«

»Ja, die VdF …«

Wütend winkte Josie ab. »Hör mir bloß mit denen auf. Wenn ich Driessen mal nachts im Dunkeln begegne …« Ihr Blick ließ nichts Gutes für sein Wohlbefinden erahnen.

»Josie hat ihre eigenen Erfahrungen mit der VdF gemacht«, erklärte Estelle, »so wie wir alle.«

»Das kannst du laut sagen! Na schön, dann kommt mal mit. Wenn ich die Gelegenheit erhalte, Driessen, diesem Bluthund, eins auszuwischen, dann tue ich Estelle hier doch gern einen Gefallen.« Sie führte uns durch die Regalgänge und deutete hin und wieder auf Bücher, ohne dass das, was sie sagte, zu ihren Handlungen passte. Dabei lächelte sie und kritzelte einige Angaben auf ihren Block.

»Also, das läuft so: Wenn euch jemand fragt, seid ihr für eine Beratung hier. Während meiner Arbeitszeit kann ich nicht einfach verschwinden, daher brauchen wir eine Tarnung. Ich muss mich auch schützen. Außerdem«, sie grinste, »werden wir anteilig am Umsatz beteiligt, und ich sehe das als kleine Entschädigung für das Risiko, das ich hier eingehe. Das ist nur fair, findest du nicht?«

Ich nickte etwas hilflos, weil ich immer noch keine Ahnung hatte, worauf das Ganze hinauslief.

»Wie viele Meter willst du?«

»Meter?«

»Bücher.«

»Bücher?«

Erneut lächelte sie, allerdings wirkte es diesmal etwas gequält. Offenbar passierte es ihr nicht zum ersten Mal, dass sie ihren Job erklären musste. »Ich bin das, was man einen Regalfüller nennt. Schon mal gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Du hast leere Regale, die du mit Büchern füllen willst, weil du deine neue Bekanntschaft beeindrucken willst? Oder deinen Chef, den du zum Essen eingeladen hast? Du eröffnest ein Lesecafé, hast aber gar keine Bücher, die deine Kundschaft lesen könnte? Du willst Bücher für einen guten Zweck verschenken? Mit anderen Worten: Du brauchst schnell sehr, sehr viele Bücher?« Sie klopfte sich auf die Brust. »Dann kommst du zu mir und kaufst bei uns Bücher in Metern. Und in zwei Tagen liefern wir dir die Ware für deine leeren Regale. Farblich sortiert, nach Genre geordnet oder nach Thema, alt, neu, groß, klein, mit vielen Bildern oder ohne, ganz wie du willst. Natürlich kostet das auch etwas, aber du wärst überrascht, wie viele Leute irgendwann feststellen, dass ihnen in ihrer Wohnung noch Bücher fehlen. Und wenn es nur darum geht, deinem Domizil in einer Designzeitschrift mit einer Bibliothek einen intellektuellen Anstrich zu geben.«

Erstaunt sah ich sie an. »Das habe ich noch nie gehört. Gibt es wirklich so viele Leute, die das machen, dass sich das für euch lohnt?«

»Klar. Versteh mich nicht falsch, ich arbeite in einer Buchhandlung, ich liebe Bücher! Ich bin selbst begeisterte Leserin, und es gibt doch nichts Besseres als eine durchlesene Nacht, nach der du dich hundemüde in die Schule oder zur Arbeit schleppst, und es war das alles wert, weil die Geschichte einfach zu gut war.« Sie nickte begeistert. »Aber seien wir doch mal ehrlich, viele Leute da draußen lesen überhaupt nicht. Wenn es hochkommt, ein Buch im Jahr. Ich meine, das Leben ist anstrengend, Job, Familie, Kinder, du musst jemanden pflegen oder fühlst dich selbst nicht gut. Es gibt viele Gründe, warum die Leute nicht lesen können oder wollen. Und wenn sie gefragt werden, schämen sie sich, das zuzugeben, und behaupten, sie lesen eher Sachbücher.« Sie setzte Sachbücher in Gänsefüßchen und schüttelte den Kopf. »Das ist doch immer Code dafür, dass sie im Urlaub Magazine lesen, und das ist völlig okay, wir wollen schließlich alle irgendwann mal abschalten und entspannen. Aber wenn sie wichtigen Besuch kriegen, ist es ihnen plötzlich peinlich, weil sie lediglich drei Kochbücher und einen Bestsellerkrimi im Regal stehen haben.« Sie breitete die Arme aus und schlug beinahe an die Regale, die rechts und links von uns standen. »Wir bieten ihnen die Möglichkeit, dieser Peinlichkeit zu entgehen. Oder, und das kommt auch vor, aufdringlichen Fragen zu einer vorhandenen Leseschwäche. Nicht jeder fühlt sich dabei wohl, so etwas sofort offenzulegen. Es gibt viele Gründe, und solange wir Bücher verkaufen, ist es uns eigentlich egal, ob du sie liest oder dir einen Thron daraus bastelst.« Sie warf einen Blick über die Schulter. »Na, jedenfalls muss ich hier etwas eintragen, schließlich werde ich dafür bezahlt, Umsatz zu machen und nicht, um …« Ihre Geste umfasste das Café, meinte aber vermutlich unseren Grund, hier zu sein.

Auch ich sah mich um, aber niemand beachtete uns. Trotzdem hatte ich auf einmal das Gefühl, beobachtet zu werden. Es äußerte sich als Kribbeln im Nacken, das auch nach einem verlegenen Kratzen nicht verschwand. Für einen Augenblick stand ich stocksteif im Gang und wartete auf das Gurren einer Taube, das nicht folgte. Die ganze Situation kam mir surreal vor und förderte meine Nervosität. Das war nicht gut.

Ich versuchte, den Schal zu lockern. »Gibt es denn eine Mindestabnahme?«

»Achtzig Zentimeter.«

»Dann … zwei Meter?«

»Wir können es aber nicht an deine Adresse schicken«, warf Estelle ein. »Es darf niemand wissen, dass du hier warst.«

»Nimm die Adresse meiner Mutter.«

Josie nickte, und ich bestellte zwei Meter Krimis, Kochbücher und Gartenratgeber in Blau, Grün und Violett an die Adresse meiner Mutter, die eines wirklich nicht brauchte: noch mehr Bücher. Auf diese Weise erhielt sie wenigstens Geburtstags- und Weihnachtsgeschenke für Freunde und Verwandte für die nächsten zehn Jahre. Das war nicht gerade billig, aber es blieb mir nichts anderes übrig.

Mir kam die Idee, in einem meiner nächsten Texte eine Figur auftauchen zu lassen, die Lottozahlen voraussagen konnte. Vielleicht würde auch diese Figur nach Kapitolo kommen.

Anschließend führte uns Josie weiter durch die Abteilungen und verwies dabei Kunden, die sie ansprachen, an andere Kollegen, weil sie in einer Beratung sei. Jedes Mal, wenn sie angesprochen wurde, senkte ich hastig den Kopf, um mein Gesicht hinter dem Mantelkragen zu verstecken. Es dauerte eine Weile, bis ich merkte, dass wir uns immer mehr vom Zentrum des Ladens entfernten und näher an den Rand gerieten. Wie zufällig führte uns Josie in den hinteren Bereich, an den die Personalräume anschlossen.

»Wenn uns jemand fragt, sagen wir, dir war schlecht, und du brauchtest einen Moment abseits des Trubels, um dich zu erholen. Tu einfach so, als wäre dir übel.«

Das musste ich nicht groß spielen, die Angst trieb mir das Adrenalin durchs Blut und verursachte mir Rauschen in den Ohren.

Josie lotste uns durch den Aufenthaltsraum der Mitarbeiter und durch das Lager. Hinter den Kulissen des Kaufhauses sah es nicht mehr so glamourös aus wie davor, es roch muffiger, und an den Wänden erkannte man allerlei Schmutzspuren im Bereich bis zu den Knien. Auch die eine oder andere Beschädigung, dort, wo jemand wahrscheinlich mit einem Büchertrolley gegen die Wand gestoßen war.

Schließlich kamen wir zu der künstlich errichteten Außenwand aus Gipskarton, hinter der sich die Fenster befanden. Außer im Erdgeschoss kann man von außen an keiner Stelle ins Innere des Kaufhauses sehen. Die Trennwände sind auf der Seite, die in die Geschäftsräume zeigt, für die Kunden mit auffälliger Tapete, Werbung oder Bildern bedruckt. An einigen Stellen, so wie hier, bilden sie jedoch die Rückwand der Personal- und Lagerräume, dort sind sie schlicht grau. Häufig handelt es sich um eine doppelte Wand, zwischen der ein schmaler Gang verläuft, sodass die Dekorateure von außen und innen unbemerkt umhergehen können, ohne dass die Kunden etwas davon ahnen. Die Gänge zwischen Schaufenstern und Verkaufsräumen bilden ein Labyrinth voller Stoffe, Dekomaterial und Produktkartons, das der Kundschaft verborgen bleibt.

Ich hatte längst die Orientierung verloren, während uns Josie durch jenes schmale Labyrinth führte, das die einzelnen Geschäfte miteinander verband. Ich wusste nicht, ob wir noch in der Buchhandlung waren oder längst im benachbarten Schuhgeschäft. Hin und wieder hörte ich Klopfen oder eine Art Sägegeräusch, das vermutlich von den Dekorateuren stammte.

Nach einigen Minuten blieb Josie vor einer unscheinbaren grauen Wand stehen, an der ein Feuerlöscher hing. Sie forderte mich auf, mich umzudrehen, und als ich wieder schauen durfte, stand eine schmale Tür offen, die ich zuvor nicht wahrgenommen hatte. Wir konnten uns gerade so hindurchquetschen. Hinter uns schloss Josie hastig wieder die Tür.

Auf einmal war es dunkel und kühl. Wir befanden uns in einem winzigen Treppenhaus, das nur durch eine kleine rote Notbeleuchtung in der Größe einer Zigarettenschachtel erhellt wurde. Es roch nach trockenem Mauerwerk und Erde. Die Treppe bestand aus altem, abgenutztem Holz, auf den Stufen lagen Dreck und Staub, auch das Geländer war in keinem guten Zustand. Die Farbe blätterte ab, hin und wieder fehlte eine Strebe. Insgesamt war die Treppe jedoch in einem besseren Zustand als die Feuerleiter, die ich mit Jop hinabgeklettert war. Wirklich sicher sah aber auch diese Abstiegsmöglichkeit nicht aus.

»Folgt der Treppe«, sagte Josie und wies nach unten. »Ich muss jetzt wieder zurück in den Laden, sonst fällt auf, dass ich zu lange weg bin.« Sie wandte sich an Estelle. »Du weißt, was du tun musst?«

Estelle nickte, und Josie beugte sich vor, um ihr etwas ins Ohr zu flüstern.

Dann nickte sie mir zu. »Viel Glück und danke für die Spende.« Sie hielt das Klemmbrett nach oben und verschwand wieder durch die geheime Tür, bevor ich mich richtig von ihr verabschieden konnte.

Mit einem mulmigen Gefühl blickte ich über das Geländer nach unten. Je weiter es hinunterging, desto dämmriger wurde es. Das Ende der Treppe war von hier oben aus nicht zu erkennen.

»Und du warst schon mal hier?«, fragte ich Estelle angespannt.

Sie zuckte mit der Schulter, ihren Gesichtsausdruck konnte ich im Dämmerlicht kaum erkennen. »Ich war schon öfter im Untergrund«, sagte sie, »aber diese Tür ist mir neu. Wir nutzen selten denselben Eingang. Es ist nicht der einzige im Kaufhaus der Wünsche

»Gibt es denn viele davon in der Stadt?«

»Genug.«

»Und das hat noch nie jemand gemerkt?« Es schien mir unglaublich.

Über das Geländer gebeugt, sah sie nach unten. Im Treppenschacht herrschte eine bedrückende Stille. Der Lärm der Kundschaft im Kaufhaus der Wünsche war hier nicht zu hören, obwohl uns nur wenige Meter davon trennten.

»Die Existenz des Untergrunds ist ein offenes Geheimnis«, sagte Estelle. »Der Bürgermeister weiß von ihm, die VdF weiß von ihm, und Driessen weiß von ihm. Was glaubst du, was er sich als Karriereziel gesetzt hat? Seit er bei der VdF angefangen hat, ist er auf der Suche nach einem Eingang.«

»Und es ist ihm nie gelungen, eine dieser Türen zu finden?«

»Sie werden beschützt.«

»Wodurch?«

»Die Frage ist nicht, wodurch, sondern durch wen.« Weiter erklärte sie mir nicht, wie es der Untergrund schaffte, im Verborgenen zu bleiben.

»Aber warum wird die Öffentlichkeit davon nicht in Kenntnis gesetzt?«

»Weil Driessen nicht will, dass ihm irgendwer zuvorkommt, wenn es um die Aufdeckung des Untergrunds geht. Wenn du mich fragst, hat er irgendeine persönliche Agenda mit den Figuren, er ist wie besessen davon. Und die Stadt will natürlich vermeiden, dass Panik ausbricht. Wenn bekannt wird, dass Hunderte von Figuren mitten unter uns leben …« Sie hob die Hände. »Das gäbe das reinste Chaos.«

»Hunderte?« Fassungslos starrte ich sie an.

Doch Estelle war mit ihrer Erklärung am Ende. Stattdessen deutete sie nach unten. »Wir sollten uns beeilen. Eines noch: Du darfst eine wichtige Sache nicht vergessen, Kate, für viele Figuren bedeutet der Untergrund die letzte Zufluchtsstätte. Für sie oder auch für ihre Autoren oder die Menschen, mit denen sie zusammenleben. Wenn man zum ersten Mal damit in Berührung kommt, kann der Anblick überwältigend sein.«

»Willst du mir Angst machen?«

»Nein. Ich will, dass du begreifst, dass diejenigen, die sich hier unten verstecken, etwas zu verlieren haben. Es ist nicht an mir, ihre Geschichten zu erzählen, ein jeder von ihnen hat seine eigene. Manche ähneln sich, manche sind so erstaunlich wie eine Sonnenfinsternis. Wenn du den Untergrund betrittst, vergiss nicht, dass du dort Gast bist. Ein Zuschauer in den Geschichten anderer. Du weißt so gut wie ich, dass sich jeder Leser, während er in der Geschichte unterwegs ist, eine Meinung bildet – die Geschichte gefällt, oder sie gefällt nicht. Aber hier«, sie deutete nach unten, »darfst du dir diese Meinung nicht anmerken lassen. Es ist nicht an dir, über diese Figuren zu urteilen, denn auch wenn du Figuren aus den bekannteren Romanen wiedererkennen solltest und weißt, was ihnen in ihren Büchern geschehen ist, so ist das doch immer nur ein Teil ihrer eigentlichen Geschichte. Vergiss das niemals.«

Zögerlich nickte ich, auch wenn ich damals noch nicht begriff, was sie meinte.

Dann begann unser Abstieg.