E tage für Etage stiegen wir hinab. Dabei verlor ich jegliches Zeitgefühl, und auch das Gefühl für die Größe des Treppenhauses und wie tief es nach unten reichte. Ich war mir sicher, dass wir das Kaufhaus längst hinter uns gelassen haben mussten.
Wie sich herausstellte, befand sich der Untergrund tatsächlich unten . Je tiefer wir stiegen, desto kühler wurde es, und ich war froh, dass ich den Wintermantel und festes Schuhwerk trug. Hin und wieder warf ich einen verstohlenen Blick aufs Handy, aber das hatte so weit unten keinen Empfang mehr. Estelle hatte ihre Taschenlampe noch nicht eingeschaltet, also ließ ich meine ebenfalls in der Hosentasche. Das schwache Licht auf den Treppenabsätzen reichte aus, den Weg zu finden.
Irgendwann waren wir so weit hinabgestiegen, dass ich weder über noch unter uns etwas erkennen konnte – außer Stufen in waberndem schattenroten Licht. Unter unseren Füßen knarzten die ausgetretenen Stufen, und zweimal hatte mich schon ein Splitter in die Hand gestochen, trotzdem suchte ich Halt am Geländer. Auch Estelle hatte Mühe mit der Treppe, sie klagte über ein schmerzendes Knie.
»Ich bin selbst schuld. Meine Ärztin hat mir gesagt, ich soll weniger Wein trinken und besser auf meinen Blutdruck achten, weil der zu hoch ist. Also habe ich gedacht, ich melde mich bei einem dieser Sportkurse an. Um das Herz zu stärken, weil das Herzinfarktrisiko für mich höher ist. Und was passiert? Schon beim dritten Mal verdrehe ich mir das Bein und muss wochenlang eine Schiene tragen. Seitdem macht mir das Knie zu schaffen.«
»Es tut mir leid, dass du meinetwegen …«
»Ach was, es gibt Schlimmeres als ein schmerzendes Knie, glaub mir.«
Immer weiter drangen wir vor in das Innere dieser Stadt, ihren Unterbau; in das, was unter der Oberfläche aus Prunkstraßen, geschäftigen Verkehrsknoten und Erinnerungspunkten lag. Und als wir schließlich am Ende der Treppe ankamen, sah ich eine schwere, mit Kerben und einem rostigen Schloss versehene Eichentür vor mir, die den Übergang zum Untergrund markierte.
»Und nun?«, fragte ich aufgeregt.
»Klingeln wir.« Estelle hob die Hand, um an einer Kordel zu ziehen, die mir zuvor nicht aufgefallen war. Sie hing im Schatten neben der Tür und gehörte zu einer beschlagenen Messingglocke, deren dumpfer Ton über unseren Köpfen emporschwebte und sich im Treppenschacht nach oben schraubte.
Doch es rührte sich nichts.
Ich sah mich um, konnte aber kaum etwas erkennen. Nur graue Wände und die kleine rote Leuchte über der Tür. Kein Geräusch war jenseits davon zu hören, es hatte etwas Beklemmendes. Als ich nach oben blickte, öffnete sich der Schlund des Treppenhauses über mir.
»Sollen wir es noch einmal probieren?«, fragte ich, doch Estelle schüttelte den Kopf.
»Sie wissen, dass wir da sind.«
Wieder sah ich mich um, ob es irgendwo Kameras gab, aber ich konnte nichts entdecken. Mir wurde trotz der Kälte warm, also zog ich den Schal vom Gesicht und stopfte die Mütze in die Manteltasche. Vor Aufregung wippte ich wie ein Kind auf Fersen und Zehen.
Was würde mich hinter dieser Tür erwarten? Wie würden die Figuren sein? Würde ich sie treffen? Würde ich meine Figur treffen? Und dann?
Wenige Herzschläge später öffnete sich knarrend die Tür, und ein riesiger Mann trat zu uns heraus. Er war über zwei Meter groß, besaß ein wettergegerbtes Gesicht und trug einen langen Vollbart und praktische Winterkleidung, die ihn ein bisschen wie einen Arktisforscher aussehen ließ. In der Hand hielt er eine Taschenlampe und eine Pistole.
Erschrocken zuckte ich zurück, doch Estelle fasste sogleich nach meinem Arm.
»Wir kommen von Josie«, erklärte sie dem Mann, der darüber nicht überrascht schien.
»Passwort?«, brummte er, und Estelle nannte ihm einen Namen, der mir nichts sagte und den ich hier aus offensichtlichen Gründen nicht wiederhole. Vielleicht war es ein Autor oder eine Figur.
Der Mann musterte uns eindringlich. Obwohl er nichts weiter zu mir sagte, zog ich unter seinem Blick die Schultern hoch. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass die Leute hier unten froh darüber waren, wenn die Autorin einer unter Mordverdacht stehenden Figur zu ihnen kam. Ich rechnete schon damit, dass er uns doch noch abweisen würde, und hielt erneut vor Aufregung die Luft an. Stattdessen ließ er uns mit einem knappen Nicken passieren. Im Vorbeigehen streifte meine Schulter seine Brust, und der fehlende elektrische Schlag bestätigte, was ich schon vermutet hatte: Er war ein Mensch.
Hinter der Tür befand sich eine Art Gang, aber im Moment konnte ich wenig erkennen, weil das Licht so schlecht war. Ich vermutete, dass es sich um ehemalige Kanalisationsschächte handelte, weil wir so tief hinabgestiegen waren.
Während wir weiterliefen, warf ich einen nervösen Blick über die Schulter. Der Mann folgte uns nicht. Er war der Wächter dieser Tür und würde seinen Posten nicht verlassen. Trotzdem schaute er uns nach, und ich wandte den Blick hastig wieder nach vorn.
»Kanntest du ihn?«, fragte ich Estelle.
»Nein. Ich kenne nicht jeden, der für den Untergrund arbeitet oder sich hier aufhält. Das ist auch besser so. Wie ich schon sagte, es gibt Leute, die den Überblick behalten. Die genau wissen, wer sich hier unten bewegt.«
Auf einmal verspürte ich ein merkwürdiges Ziehen im Magen.
Erwartung.
In mir existierte immer noch ein kleiner Teil, der darauf hoffte, eines Tages Antworten zu finden auf die Frage, warum damals vor fünfzehn Jahren alles so schiefgelaufen war. Die Erinnerungen drangen immer stärker an die Oberfläche, und es fiel mir schwerer, sie zu unterdrücken, während ich mich auf etwas anderes konzentrieren musste. Und mit ihnen kam auch die Hoffnung, jene Figur wiederzusehen, die mich manchmal noch in meinen Träumen und Albträumen besuchte. Nach der ich hin und wieder Ausschau hielt, wenn ich durch die Straßen von Kapitolo lief, selbst wenn ich es mir nicht eingestehen wollte.
Würde ich sie hier unten wiedersehen?
Wahrscheinlich war sie längst in ihre eigene Welt zurückgekehrt, sagte ich mir. Trotzdem krochen mir Hoffnung und Erwartung zwischen die Rippen.
Estelle packte ihre Taschenlampe aus und richtete den Strahl nach vorn. »Pass auf, wo du hintrittst«, warnte sie mich, und endlich erkannte ich, dass ich mit meiner Vermutung recht gehabt hatte – wir befanden uns in der alten Kanalisation.
Das Fundament der Stadt besteht aus mehreren Schichten, es ist ja bekannt, dass die heute genutzten Schächte auf einem viel älteren System beruhen. Doch nur ein Bruchteil dieses alten Systems wird für Schauzwecke verfügbar gemacht, der Rest galt bisher als verschüttet. So zumindest steht es in den Reiseführern. Doch nun liefen wir durch alte Gänge, an manchen Stellen waren sie kaum einen Meter achtzig hoch, an anderen höher. Sie waren gut ausgebaut, auch wenn die Mauersteine uralt aussahen. Hin und wieder huschte eine Maus an uns vorbei; bei der ersten Ratte schrie ich kurz auf, aber irgendwann hatte ich mich auch daran gewöhnt. Rohre und Kabel sahen wir nicht mehr; das ausgeklügelte System an Gas-, Abwasser- und Telekommunikationsleitungen hatten wir längst über uns zurückgelassen. Ich hatte das Gefühl, als würde ich mich durch einen Querschnitt dieser Stadt bewegen. Es war die in die Erde gegrabene Geschichte Kapitolos.
»Woher weißt du, welchen Weg wir nehmen müssen?«, fragte ich verwirrt. Allein hätte ich nie zurückgefunden.
Estelle deutete auf kleine Messingplaketten, die alle paar Meter auf Kniehöhe angebracht waren. Auf ihnen standen seltsame Wörter und Abkürzungen mit Buchstaben und Zahlen, die ich nicht verstand.
»Was ist das für eine Sprache?«
»Esperanto. Es sind die Wegweiser, denen du folgen musst. Straßenschilder sozusagen. Alle Figuren können diese Sprache, ganz gleich, aus welchem Teil der Fantasiewelt sie stammen. Ein Umstand, den sie nutzen, um sich untereinander zu verständigen, sowohl hier als auch drüben , schließlich ist es ganz hilfreich, wenn eine Elfe Quenya und ein Schneider Neusprech redet. Daher werden gern Wärter für das Gefängnis der Figuren ausgesucht, die es beherrschen, um Absprachen zwischen den Figuren auf die Schliche zu kommen.«
Immer wieder stiegen wir Treppen und Leitern nach unten, tiefer und tiefer in die Gedärme der Stadt – bis wir das Rohrsystem plötzlich verließen und sich eine Art Höhle vor uns auftat.
Staunend betrachtete ich den riesigen Raum, der vor mir lag. An den Wänden waren Dutzende Öllampen in den unterschiedlichsten Formen befestigt, die alles in ein sanftes Licht tauchten. Obwohl die Flammen durch die Glasschirme geschützt waren, flackerten die Schatten über die Wände und den unebenen Fußboden. Dadurch wirkte die Höhle beinahe lebendig. Es war gleichzeitig faszinierend und ein bisschen gruslig.
Die Steinwände waren von Menschenhand bearbeitet. Ich erkannte Terrassen mit kunstvoll gehauenen Geländern, ebenso wie Balkonbrüstungen und Loggien an und in den Wänden, die aussahen wie sich rankende Pflanzen und stilisierte Tiere. Außerdem gab es reich verzierte Eingänge zu, wie ich vermutete, weiterführenden Gängen, vielleicht sogar Behausungen. In meinem ganzen Leben hatte ich keine solche Pracht gesehen.
Fasziniert blieb ich stehen und schaute mich ausgiebig um. Ich konnte mich nicht sattsehen. Dabei strich mir ein leichter Luftzug über die Wangen. So hatte ich mir immer das Reich der Zwerge aus den alten Geschichten vorgestellt. Eine in den Berg gehauene Stadt. Dieser Ort war wunderschön und seine Architektur einzigartig.
Ich zog das Handy aus der Manteltasche, um Fotos zu machen, aber Estelle schüttelte den Kopf.
»Ich verstehe das Bedürfnis, aber falls du das Telefon verlierst …«
»Ja, natürlich.« Betrübt steckte ich es wieder ein. Ich versuchte, mir so viel wie möglich einzuprägen.
Eine Sache war jedoch seltsam: Die Höhle war menschenleer. Wie konnte es sein, dass niemand hier war und wir auch nichts hörten?
Estelle lachte, als ich sie danach fragte. »Weil das nur ein Bruchteil des Untergrunds ist. Er ist riesig. Komm.« Sie zog mich am Ärmel.
Ich wollte ihr sagen, dass ich mehr Zeit für dieses Wunder brauchte, denn es war mir unbegreiflich, dass so etwas von Menschenhand geschaffen worden war. Aber vielleicht war das der springende Punkt, vielleicht war es nicht von Menschen geschaffen worden. Vielleicht war das, was ich sah, das Werk von Figuren, die ihren Fußabdruck in unserer Welt hinterlassen hatten. Ob ihre Welt so aussah? Natürlich wissen wir um die Wunder, die es in der Fantasiewelt geben muss, wir schreiben sie immerhin, aber sie vor sich zu sehen und in ihnen umherzuwandeln, ist etwas ganz anderes.
Auf einmal erfasste mich eine schmerzhafte Traurigkeit, weil die meisten Menschen nie von dieser Pracht erfahren würden. Es war nicht nur so, dass wir die Figuren mit unseren Gesetzen zu ihrer Rückführung in den Untergrund zwangen, wir schlossen uns auch selbst von dem aus, was sie erschaffen konnten.
Ich hätte so gern mit jemandem darüber gesprochen, mir Zeit genommen, um zu würdigen, was ich vor mir sah. Aber Estelle drängte mich weiter, und ich wusste, dass sie recht hatte. Ich durfte keine Zeit mehr verlieren, und es gab Drängenderes, als meine Neugier zu befriedigen.
Wir durchquerten die Höhle, in der es so still war wie in einem Grab, und liefen eine Weile durch einen weiteren Gang, bis wir in die nächste Höhle kamen. Noch größer als die erste. Auch hier fanden sich wieder Balkone und Eingänge in den Wänden, doch als ich in einer Art Kanalbecken ein Schiff entdeckte, wuchs mein Erstaunen weiter.
Ich kannte mich mit Schiffen nicht besonders gut aus, sie tauchten in meinen Büchern selten auf, und mein angehäuftes Wissen war zum Großteil ein Flickenteppich aus oberflächlichen Recherchen. Wahrscheinlich handelte es sich um eine alte Karavelle. Sie hing schief im flachen Wasser, ob die Löcher im Rumpf vom Alter oder von absichtlicher Beschädigung stammten, konnte ich nicht sagen. Ihr Rumpf war mit Moos und Muscheln überzogen, sie sah nicht mehr fahrtüchtig aus, und auch die Segel hingen zerfetzt und dreckig herunter. Aber es war ein kleines Segelschiff.
Unter Tage.
»Das gibt’s doch nicht …«, murmelte ich.
»Einige von denen fahren noch«, behauptete Estelle.
»Wie ist das möglich?«
»Zauberei.«
Ich wusste nicht, ob sie sich über mich lustig machte oder es ernst meinte. Ich kam mir vor wie Alice im Wunderland, Erstaunen begleitete jeden meiner Schritte. Ich lief auf den Steg, der durch Bretter mit dem Schiff verbunden war.
»Warte!«, rief Estelle, bevor ich das Schiff betreten konnte, und erschrocken blieb ich stehen.
»Du solltest hier unten nicht an Bord eines Schiffs gehen, von dem du nicht weißt, wer oder was sich darauf befindet«, sagte sie warnend. »Ich habe dir doch gesagt, dass es hier alle Arten von Figuren gibt. Manche davon haben spitze Zähne.«
Als hätte sie die Worte gehört, tauchte plötzlich neben dem Steg ein Wesen aus dem Wasser auf, das zwar eine menschliche Form besaß, dessen Haut jedoch gänzlich aus silbrig schimmernden Schuppen bestand. Die Kiefer waren leicht nach vorn gewölbt, es war jedoch keine Meerjungfrau, denn die Figur zog sich auf den Steg und schwang zwei ebenfalls schuppenüberzogene Beine über den Rand.
»Hallo«, sagte sie und trat näher zu mir.
Erschrocken wich ich vom Steg zurück und trat an Estelles Seite. Nur wenige Meter trennten mich von der ersten Figur, die ich im Untergrund traf.
»Wir wollten dich nicht stören«, sagte Estelle.
Die Figur nickte. Sie trug eine Art Lendenschurz, und mit großen grünen Augen, die nicht blinzelten, starrte sie uns an.
»Komm.« Estelle zog mich rasch weiter. Allerdings lief sie dabei ein paar Schritte rückwärts und behielt die Figur im Auge, bis wir offenbar genügend Abstand zwischen sie und uns gebracht hatten. Als wir in den nächsten Gang einbogen, sagte sie: »Wahrscheinlich hatte er seinen Nachwuchs auf dem Schiff. Da ist es besser, nicht allzu nah heranzukommen.«
»Wer war das?«, fragte ich neugierig.
»Keine Ahnung. Vielleicht ein Nachfahre von Kapitän Nemo.«
Erst dachte ich, sie wolle mich veralbern, aber als ich sie ansah, begriff ich, dass das durchaus im Bereich des Möglichen lag.
Wir liefen weiter, bis ich auf einmal etwas sah, das mir Gänsehaut bescherte. Vor uns erhoben sich breite schwarze Marmorsäulen bis an die Decke, mindestens fünfzehn Meter in die Höhe. Jede davon so breit, dass sie vier Männer nicht umfassen konnten. Das Gestein schimmerte schwach im Schein der Lampen. Zwischen den Säulen waren Mauern aus schwarzer Basaltlava hochgezogen, in denen im Abstand von einer Elle Schädel im Mauerwerk eingelassen waren. Eine grausige Sammlung aus Menschen- und Tierknochen und möglicherweise auch anderer Wesen. Ihre dunklen Augenhöhlen starrten mich an, und die zahnlosen Münder flößten mir Furcht ein. Je näher man der Mauer kam, desto stärker roch es nach Moor, und auch der Fußboden schimmerte feucht.
»Was ist das?«, flüsterte ich.
»Erkennst du es nicht?«
Ich schüttelte den Kopf.
Estelle musterte mich aufmerksam. »Das ist das Fundament des Schwarzen Tempels.«
Erschrocken wich ich zurück. Eine unerklärliche Panik erfasste mich, als könnten die schwarzen Mauern mich augenblicklich zu sich ziehen und verschlingen. Da war etwas Fremdes an diesem Bauwerk, etwas zutiefst Widernatürliches, das mir so noch nie aufgefallen war, wenn ich bisher daran vorübergelaufen war. Es ließ mich hastig ein paar Schritte zurücktaumeln.
»Wie sagt man so schön: Oben hui, unten pfui.« Grimmig starrte sie auf die Schädel, und ich versuchte, die Angst vor diesem Haufen alter Steine abzuschütteln. »Nicht ganz das, was sie den Touristen zeigen, nicht wahr?«
»Wie weit reicht er nach unten?«, fragte ich atemlos.
»Das weiß niemand. Ich persönlich habe nie eine Ebene gesehen, in die er nicht reichte.« Sie deutete nach oben. »Was da oben steht, ist nur …«
»… die Spitze des Eisbergs?«
»Der Eingang.«
Langsam lief ich daran vorbei, und ein kalter Windzug erfasste mich.
Vielleicht hatte ich mir das alles zu einfach vorgestellt? Ich war davon ausgegangen, dass es mir schon irgendwie gelingen würde, meine Figur in den Schwarzen Tempel zu bringen. Aber er war nun einmal keine Kirche, in die sich tagsüber Touristen verirrten und Fotos schossen. Er war für den öffentlichen Verkehr an den meisten Tagen im Jahr geschlossen, nur zu den Feiertagen fanden Führungen statt.
Was ich beim Betreten des Tempels wohl empfinden würde? Wollte ich mich wirklich in die Eingeweide dieser Monstrosität begeben und meine Figur hineinzwingen, selbst wenn sie sich weigerte?
Doch was blieb mir anderes übrig, wenn ich unbeschadet aus dieser Geschichte herauskommen wollte?
Mir wurde bewusst, dass ich viel zu wenig über Kapitolo und seine Figuren wusste. Damals bei der Sache mit Rosalie hatte ich kurzzeitig hinterfragt, was uns stets als Fakten präsentiert worden war, aber dann hatte ich wieder hingenommen, was seit Generationen an Wissen weitergegeben wurde: Fiktion vermischt sich nicht gut mit Realität. Schon früh wird uns beigebracht, dass wir die Grenze klar erkennen und sie nicht aus den Augen verlieren sollen – oder wer auf welcher Seite steht. In der Fantasie gefällt uns die Vorstellung, ein Vampir könnte sich unsterblich in uns verlieben. In der Wirklichkeit stellen wir dann fest, dass er weder Herzschlag noch Puls besitzt und ein Leben ausschließlich in der Nacht weder praktikabel noch romantisch ist – in der Wirklichkeit sind Vampire tote Dinger mit kalten Zungen. Tief in uns wissen wir das, und die Menschen in Kapitolo wollen kein Risiko eingehen mit den Dingen, die aus der Tiefe ihrer Psyche emporkriechen könnten.
Der Untergrund brachte diese Ordnung durcheinander. Die Grenze verschwamm, und auf einmal stand alles, was ich einmal felsenfest zu wissen geglaubt hatte, auf dem Prüfstein.
Schweigend liefen wir weiter, noch immer war nichts zu hören und niemand zu sehen. Das war mir rätselhaft. Wo waren all diese Figuren und ihre Verbündeten, von denen Estelle gesprochen hatte und für die dieses riesige Labyrinth erschaffen worden war?
Nach einer Weile begann Estelle, sich immer wieder umzublicken. Zuerst fiel es mir gar nicht auf, aber dann begriff ich, dass sie auf etwas aufmerksam geworden war.
»Was ist?«, fragte ich leise in die gespenstische Stille hinein, in der nur unsere Schritte zu hören waren.
Mit zusammengekniffenen Augen blickte sie in das Dunkel hinter uns. »Ich weiß nicht genau … Ich habe das Gefühl, dass wir verfolgt werden.«
Beunruhigt sah auch ich zurück. »Die Figur vom Schiff?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Der Türwächter?«
»Der verlässt seinen Posten nicht.« Sie winkte mich weiter und lief nun schneller.
Wieder erfasste mich die Angst, Beamte der VdF könnten uns auf den Fersen sein und uns jederzeit festnehmen, weil wir den Untergrund deckten oder uns zumindest in ihm bewegten, ohne ihn an die Polizei zu verraten. Man könnte uns eine Art Beihilfe vorwerfen und uns ins Gefängnis werfen. Für einen kurzen Augenblick zweifelte ich an meiner Entscheidung, überhaupt hier heruntergekommen zu sein. Was hatte ich mir nur dabei gedacht? Hätte ich nicht vielleicht besser auf Wera hören sollen? Abenteuer waren etwas für Helden, ich war doch nur Autorin!
Bevor mich diese Panik jedoch überwältigen konnte, atmete ich tief durch und straffte die Schultern. Ich nahm mir ein Beispiel an Hulda und Mirabelle; ich würde nicht beim kleinsten Anzeichen von Gefahr zurückschrecken! Das hier war schließlich nicht meine erste Begegnung mit Gefahr.
Doch kaum hatten wir die nächste Höhle passiert und waren in einen weiteren Gang eingebogen, presste mich Estelle plötzlich gegen die Wand. Sie hob den Finger an die Lippen, und mit angehaltenem Atem lauschten wir.
Zuerst war nichts zu hören, doch nach einigen Sekunden erklangen auf einmal Schritte. Leise, aber hörbar. Der Boden war übersät mit Kieseln und trockenen Bröckchen. Unser Verfolger hatte es nicht eilig, schlenderte aber auch nicht. Offenbar hatte er keine Bedenken, uns in diesem Labyrinth zu verlieren.
Fieberhaft überlegte ich, wer uns folgen mochte. Ein Monster? Jemand, der mich erkannt hatte, und der irgendwie am Türsteher vorbeigekommen war? Vielleicht Josie? Jemand, der genau wie wir in den Untergrund wollte? Jemand, der bereits in diesen Gängen unterwegs war?
Mein Herzschlag kam mir laut vor, angespannt ballte ich die Hände zu Fäusten. Dieses Abenteuer war nicht gut für meinen Blutdruck. Ob Scarlett O’Hara jemals mit Bluthochdruck zu kämpfen hatte?
Es dauerte nicht lange, und ein Mann trat um die Ecke. Er war groß, mindestens eins neunzig.
Estelle richtete den Strahl der Taschenlampe auf ihn und sagte bestimmt: »Keinen Schritt weiter!«
Der Mann hob die Hände. Er trug Jeans, die beinahe von seinen Oberschenkeln gesprengt wurden, um das Hoodie war es auch nicht besser bestellt. Er sah aus, als wäre alles eine Nummer zu klein für seinen muskulösen Körper, der allein in den Schultern dreimal so breit war wie meiner. Nur die offene Winterjacke darüber schien zu passen. Um die Hüften trug er eine Art Gürtel mit einem Schwert daran.
»Was zum Henker …«, entfuhr es mir.
Estelle leuchtete ihm ins Gesicht, und geblendet zuckte er zurück. Er besaß die beeindruckendsten blonden Locken, die ich je gesehen hatte, und sie fielen ihm weit über die Schultern und umrahmten ein Gesicht, das man sonst nur bei Unterwäschemodels sah – und genau da hatte er es auch her. Vom Foto eines männlichen Supermodels aus einem Modemagazin.
Der Mann war meine Figur.
Mir blieb die Luft weg. Unsere Suche fand ein Ende, bevor sie überhaupt richtig begonnen hatte. Ich packte Estelle an der Schulter, um sie mit mir zu ziehen und Abstand zu gewinnen. Wenn er wirklich diesen Mord begangen hatte und uns angreifen würde, hatten wir keine Chance gegen ihn. Seitenweise war er vom Blut seiner Feinde bedeckt gewesen, er war ein großer Krieger und natürlich aus all seinen Kämpfen als Sieger hervorgegangen.
Panisch versuchte ich, das Pfefferspray aus der Manteltasche zu kriegen. Als ich es endlich herausgezogen hatte, streckte ich der Figur den Arm entgegen, den Finger bereits auf dem Sprühknopf.
Estelle warf mir einen Blick zu, bevor sie die Taschenpistole aus dem Mantel zog und ebenfalls auf ihn richtete.
»Ich nehme an, dass das eine Art Waffe sein soll«, sagte er und deutete nacheinander auf das Pfefferspray und die Pistole. Seine Stimme klang tief und angenehm wie bei einem hervorragenden Hörbuchsprecher. »Das wird nicht nötig sein«, versicherte er und hob die Hände.
Wir starrten uns an. Sollten wir wegrennen?
Doch niemand rührte sich.
»Folkvar«, sagte ich schließlich krächzend. Ich erwartete, dass irgendetwas geschehen würde, nachdem ich seinen Namen genannt hatte, beinahe wie in der Unendlichen Geschichte , nachdem der Name der Kindlichen Kaiserin offenbart wird, aber erneut geschah gar nichts, außer dass er den Kopf schief legte und etwas verwirrt auf uns herabschaute.
Folkvar war nicht die erste Figur, der ich begegnete, aber die erste, die ich selbst erschaffen hatte. Aufregung und Angst verbanden sich beinahe schmerzhaft in mir. Das hier war ein besonderer Moment, dessen war ich mir bewusst. Wie magnetisch wurde ich von ihm angezogen und spürte das Band, das sich zwischen uns spannte. Diese Anziehung hatte nichts mit seinem Aussehen zu tun. Beim Anblick der Höhlen unter Kapitolo hatte ich an Wunder gedacht – doch dass diese Figur plötzlich vor mir stand, schien mir tatsächlich eines zu sein. Ich fühlte mich berauscht von dem Gedanken daran, was ich erschaffen hatte und wie genau er meiner Vorstellung entsprach. Vielleicht kam es dem Gefühl gleich, das Eltern empfanden, die ihr Kind zum ersten Mal laufen sehen oder sprechen hören und wissen, dass sie allein dafür verantwortlich sind. Mir fehlten die Worte, um zu beschreiben, wie es war, einer Figur gegenüberzustehen, die man selbst ins Leben gehoben hatte. Es war mit nichts zu vergleichen, was ich je empfunden hatte. Nicht einmal mit dem Gefühl, das eigene Buch gedruckt in den Auslagen einer Buchhandlung liegen zu sehen.
Nach einem Moment fragte Estelle: »Du kennst ihn?«
»Er ist meine Figur.« Mit Folkvar hätte ich allerdings nie gerechnet. Er war bloß ein Love Interest, nicht mal eine Hauptfigur. Hulda stand auf meiner Prioritätenliste, sie war die Heldin. Wieso war ihr Liebhaber nach Kapitolo gekommen?
Aufgeregt huschte Estelles Blick zwischen uns hin und her.
»Hast du Damla Abbas wirklich umgebracht?«, platzte ich heraus, und Folkvar runzelte die Stirn.
Langsam schüttelte er den Kopf.
»Warum warst du dann in der Wohnung dieser Frau?«
Seine Verwirrung schien noch zu steigen. »Welcher Frau denn?«
»Na … des Mordopfers.«
»Ich war in keiner Wohnung, und ich kenne niemanden mit diesem Namen.«
»Und wie kommen dann deine Fingerabdrücke dorthin?«
»Was sind Fingerabdrücke? Seit meiner Ankunft in der Nacht bin ich nur auf der Straße gewesen.«
»In der Nacht? Welcher Nacht?« Meine Stimme erreichte eine höhere Oktave.
»Die Nacht, die vor diesem Tag lag.«
Das konnte nicht sein. Wenn er die Wahrheit sagte, dann … Mir kam ein furchtbarer Gedanke. Estelle nahm mir das Pfefferspray aus der zitternden Hand.
Ich deutete auf Folkvar. »Was ist, wenn er nicht die Figur ist, die wir suchen?«, flüsterte ich. »Wenn es noch eine zweite gibt? Der Mord passierte gestern Nachmittag. Wenn es stimmt, dass er erst in der Nacht übergetreten ist, kann er es nicht gewesen sein.« Meine Atmung beschleunigte sich, und ich musste die Hände auf die Knie stützen, um den Schwindel zu bekämpfen.
Estelle rieb mir beruhigend über den Rücken. Die Pistole hatte sie gesenkt. »Woher wissen wir, dass du die Wahrheit sagst?«, fragte sie Folkvar geradeheraus, der daraufhin beleidigt das Kinn hob.
»Ich bin kein Lügner. Ich habe meine Ehre«, erwiderte er aufgebracht und voller Pathos. Dann fügte er an mich gewandt hinzu: »Du weißt das doch, du hast mich geschrieben.«
Das stimmte. Ich hatte ihn erfunden. Und ich wusste, dass er einer von den Guten war. Sollte ich ihm also glauben?
»Du siehst ihr ähnlich«, sagte er auf einmal unvermittelt.
»Wem?«
»Meiner Hulda.«
»Oh.« Peinlich berührt richtete ich mich wieder auf. »Aber was machst du hier? Ich meine, wie bist du hierhergekommen?«
»Ich weiß nicht genau, wie ich hergekommen bin. Ich erinnere mich nur noch daran, dass wir gerade einen Streit zwischen zwei Bauern schlichten mussten, als plötzlich ein Portal vor uns aufging. Ich bin näher getreten, um zu sehen, was es ist.«
»Natürlich bist du das.« Ich seufzte, dann wandte ich mich an Estelle. »Ich habe ihn so geschrieben. Er geht stets voran.«
»Ein Anführer?«
Ich nickte. »Damals habe ich doch nicht gedacht, dass er deshalb durch ein Portal gezogen werden würde«, sagte ich verzweifelt.
»Kann er zaubern?«
Bedauernd schüttelte ich den Kopf. »Das darf doch alles nicht wahr sein …« Ich konnte nicht fassen, dass ausgerechnet mir so etwas widerfuhr. Ich hatte nie Ärger mit meinen Figuren gehabt, und jetzt waren auf einmal schon zwei von ihnen übergetreten.
Würden weitere folgen?
Ich versuchte, mich zu beruhigen. Wenigstens war mit Folkvar einer von den Netten nach Kapitolo gekommen. Er war ein grundehrlicher Typ mit einem Herzen aus Gold. Klassischer Fall von raue Schale, weicher Kern .
Oder machte ich mir da gerade etwas vor? Hatte ich nicht selbst zu Jop gesagt, dass es auch die Netten gewesen sein könnten? Vor allem die Netten! Und Estelle hatte mich davor gewarnt, dass die Geschichte einer Figur nie auf den Seiten eines Buchs endete. Was wusste ich schon über ihn? Aber ich spürte einfach, dass er die Wahrheit sagte. Er hatte Damla Abbas nicht umgebracht – und er war nicht die Figur, die wir suchten.
»Wieso haben sie dich bisher nicht aufgegriffen?«, fragte Estelle. »Als du hier angekommen bist, musst du anders ausgesehen haben, oder nicht?«
Ich erinnerte mich noch an die Kleidung, die ich für ihn beschrieben hatte, und aus welcher Welt er kam.
»Ich habe die Sachen gewechselt.«
»Wie denn?«
»Ich habe jemanden überfallen.«
»Gute Güte …«
Er zuckte mit den Schultern. »Es war kalt, als ich hier ankam.«
»Ja, bei euch ist immer Frühling«, murmelte ich mehr zu mir selbst als zu ihm.
»Es regnet viel. Du hast eine Vorliebe für Regen …«
Betreten schaute ich ihn an. »Wenigstens sind es warme Frühlingstage. Das sind mir die liebsten.«
Er nickte. »Außerdem bin ich ja nachts unterwegs gewesen. Am Anfang war es etwas verwirrend …«
Ich dachte an all die Dinge, die er nicht kannte: Autos, Elektrizität. Es war erstaunlich, dass er sich so gut durch unsere Welt bewegen konnte. Es musste ihm doch wie Hexerei vorkommen. »Hat dir die Stadt keine Angst gemacht?«
»Angst ist dazu da, überwunden zu werden.«
Bei dieser Phrase warf mir Estelle einen amüsierten Blick zu. »Ein echter Held, was?«
Ich zuckte mit der Schulter, genau das sollte er ja sein. Trotzdem tat er mir leid. Kapitolo musste ein ziemlicher Kulturschock für ihn sein.
Offenbar sah er mir an, was ich dachte, denn er sagte: »Dort, wo ich herkomme, gibt es … Gerüchte. Über die Dinge jenseits der Grenzen unserer eigenen Bücherwelten. Manchmal erhaschen wir einen Blick auf das, was du sonst noch schreibst.« Er führte das nicht aus, und ich erinnerte mich daran, darüber gelesen zu haben.
Dr. José Martinez hatte die These aufgestellt, dass die Übergänge der einzelnen erschaffenen Buchwelten eines Autors bis zu einem gewissen Grad fließend waren, nachdem er Interviews mit inhaftierten Figuren geführt und diese ausgewertet hatte. Er vertrat die Theorie, dass die Welten, die ein Autor geschaffen hatte, durchlässig waren, und die Figuren in ihnen daher bis zu einem gewissen Grad voneinander wussten. Seine Annahmen galten als umstritten, da es kaum möglich war, unabhängige Beweise dafür zu finden, und die Figuren ungern über ihre Welt redeten.
Folkvar trat einen vorsichtigen Schritt auf mich zu. »Es hat mich einige Zeit gekostet, bis ich dich gefunden habe, wir können zwar in einem gewissen Maß spüren, wo unsere Schöpfer sind, aber das ist kein Wegweiser oder so.«
Bedeutete das, dass die andere Figur mich ebenfalls jederzeit finden konnte? Sollte ich darauf warten, dass sie sich bei mir meldete? Vielleicht wäre es klüger gewesen, nicht in der Gegend herumzulaufen? Doch wer sagte, dass sie wirklich zu mir kam? Möglicherweise hatte diese Figur kein Interesse daran, mich zu treffen.
»Und woher hast du dann gewusst, wohin du gehen musst?«
Er runzelte die Stirn. »Ich hatte Hilfe … Jemand hat mir gesagt, dass du auf dem Weg ins Kaufhaus der Wünsche bist.«
»Wer hat dir geholfen?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
»Warum nicht?«
»Weil ich es nicht weiß.«
Ich hob die Hände. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
Er kratzte sich am Kopf. »Es war eine ganz komische Sache. Ich habe eine Stimme gehört.«
»Eine Stimme?« Estelle zog die Brauen hoch.
Er nickte. »Sie war auf einmal hinter mir und hat gesagt, dass ich mich nicht umdrehen soll.«
»Und das hast du getan?«
»Ich wollte abwarten, worauf das Ganze hinausläuft. Außerdem hatte mich in diesem Moment jemand als deine Figur erkannt, die Situation war heikel.«
»Und dann?«
»Dann hat er gesagt, dass ihr hierherkommt.«
»Er? Es war also ein Mann?«
Wieder nickte er.
Konnte es Driessen sein? Aber warum hatte er Folkvar dann nicht verhaftet? Konnte Driessen wirklich wissen, wohin wir gingen?
»Hat dich die VdF im Visier?«, fragte ich Estelle.
»Man weiß natürlich nie, ob man auf ihrer Liste steht, aber ich glaube nicht, dass sie mich beschatten lassen. In der Regel halte ich mich von Demonstrationen und solchen Sachen fern, um keine Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.«
Wer konnte es dann sein? Hensens Kollege Sanders?
»Fällt dir sonst noch etwas ein, das uns weiterhelfen könnte?«
Folkvar schüttelte den Kopf. »Nein. Als ich mich umgedreht habe, war derjenige längst verschwunden. Ich bin dann einfach weitergegangen.«
»Hast du versucht, ihn abzuhängen? Oder bist du danach einfach schnurstracks hierhergekommen?«
Betreten blickte er mich an, und ich seufzte. Das mochte meine Schuld gewesen sein. In seiner Geschichte war Hulda für all die klugen Einfälle zuständig gewesen. Sie war schließlich die Heldin des Romans, und ich hatte nicht schon wieder eine weibliche Hauptfigur schreiben wollen, die von einem männlichen Retter alle Lösungen für ihre Probleme geliefert bekam. Also war Hulda sehr schlau und Folkvar … sehr stark.
»Ich muss wissen, wer mich beobachtet.« Ich wandte mich an Estelle. »Wer konnte wissen, wohin wir gehen?«
»Niemand. Nicht einmal Jop weiß, in welche Richtung wir aufgebrochen sind.«
Mir wurde schon wieder schlecht. »Jemand muss mir gefolgt sein. Von Anfang an.« Mir war schleierhaft, wie das dieser Jemand bewerkstelligt haben sollte. Unsere Flucht über die Dächer der Flusshäuser war von unten nicht zu sehen gewesen. Hatte jemand eine Drohne auf mich angesetzt?
»Und wie bist du an dem Türwächter vorbeigekommen?«
»Der wird ihn reingelassen haben, weil er eine Figur ist. Du musst uns schon mit Josie gesehen haben.«
Er nickte, und ich erinnerte mich an das Gefühl, beobachtet zu werden, das mich im Buchladen überfallen hatte.
»Erstaunlich, dass dich niemand bemerkt hat. Du bist nicht gerade unauffällig«, sagte sie und stützte die Hände in die Hüften. Sie reichte Folkvar gerade einmal bis zur Brust, trotzdem schaute er etwas verlegen, als er berichtete: »Manchmal ist es leichter, in einer Menge zu verschwinden. Die Leute sind mit sich beschäftigt. Außerdem …« Er deutete auf seine Kapuze.
Ich spähte in die Dunkelheit außerhalb des Lichtscheins der Taschenlampe, konnte aber weder etwas sehen noch Geräusche hören. War derjenige, der uns verfolgte, immer noch in der Nähe?
»Wir müssen langsam weiter«, gab Estelle zu bedenken, aber eine Frage brannte mir noch unter den Nägeln.
»Sind noch andere Figuren von mir übergetreten?«
»Das weiß ich nicht«, antwortete Folkvar. »Hulda konnte mir nicht folgen, das Portal hat sich geschlossen, sobald ich hindurch war. Ich habe keine Ahnung, warum es entstanden ist und ob es noch weitere Portale gab.«
Erschöpft rieb ich mir über die Stirn. »Großartig.«
»Und jetzt?« Ungeduldig schaute mich Estelle an.
»Keine Ahnung.«
»Ich werde euch begleiten.« Folkvar nickte. »Ihr braucht Schutz.«
Ich wollte nicht riskieren, dass er an der Oberfläche herumlief und von der VdF aufgegriffen wurde. Ich hatte schon genug Probleme, auch ohne dass bekannt wurde, dass eine weitere meiner Figuren den Übergang geschafft hatte. »Na schön, dann komm mit.«
»Und ich muss einen Weg nach Hause finden«, sagte er. »Ich will zurück zu Hulda.«
Plötzlich kam mir ein Gedanke. Möglicherweise war er genau die Hilfe, die mir gefehlt hatte, um die andere Figur zurückzuschicken! Er schien motiviert, wieder aus Kapitolo zu verschwinden. Seine Ankunft hier war nur ein Unfall gewesen, er hatte sein Zuhause nie verlassen wollen. Wenn ich ihm in Aussicht stellen würde, ihm dabei zu helfen, in den Schwarzen Tempel zu gelangen, würde er mir im Gegenzug vielleicht dabei helfen, die zweite Figur ebenfalls zurückzuschicken.
»Ich verspreche dir, wir finden einen Weg, dich zu Hulda zurückzubringen.« Da ich Estelles skeptischen Blick auf mir spürte, raunte ich ihr zu: »Vielleicht hilft es uns hier unten, eine Figur dabeizuhaben. Wegen der Glaubwürdigkeit und so.«
»Von mir aus«, willigte sie nach einem Moment ein.
Mit einem Mal überkam mich das überwältigende Bedürfnis, ihn zu umarmen. Also tat ich es. Ich drückte ihn fest an mich, und es dauerte nur einen Augenblick, bis er ebenfalls die Arme um mich legte und mich fast vom Boden hob. Für wenige Sekunden schloss ich die Augen, spürte dem leichten Schlag nach, der mich bei der Berührung erfasste, und als ich die Augen wieder öffnete, sagte ich: »Ich kann nicht glauben, dass du tatsächlich vor mir stehst.«
Wir sahen uns in die Augen und grinsten uns an wie Kinder, bis sich Estelle räusperte.
»Ich gehe voran«, sagte Folkvar, aber sie schüttelte den Kopf.
»Du weißt doch gar nicht, wo es langgeht. Du kannst hinten laufen.« Sie wies mit dem Daumen über die Schulter, und widerwillig ließ er sich darauf ein, das Schlusslicht unseres Gänsemarschs zu bilden.
Während wir weitergingen, flüsterte ich Estelle zu: »Tut mir leid, sein Name bedeutet Führer der Menschen , er ist es nicht gewohnt, hinten zu gehen.«
»Und ich nehme an, dass er auch im Bett den Ton angibt, nicht wahr?«
Bei dieser Frage musste ich lachen. »Was soll ich sagen, ein Held mit Potenzproblemen wäre in dem Genre eine Neuheit.«
Amüsiert winkte sie ab und führte unsere kleine Gruppe an. Schweigend liefen wir weiter, und ich konnte Folkvars Anwesenheit in meinem Rücken spüren, obwohl uns mehrere Schritte trennten. Das Band zwischen uns strahlte eine seltsame Wärme ab, und zu keiner Zeit hatte ich Bedenken, dass er mich attackieren würde. Ich war mir seines Charakters sehr sicher, denn er schien mir in der Tat so, wie ich ihn mir damals vor einigen Jahren ausgemalt hatte.
Zum ersten Mal, seit diese Sache begonnen hatte, verspürte ich Neugier bei dem Gedanken, meiner anderen Figur gegenüberzustehen. Die Begegnung mit Folkvar hatte Hoffnung in mir geweckt, dass ich auch mit ihr dieses Band der Vertrautheit knüpfen würde.
Wir waren eine Weile unterwegs gewesen, als wir auf einmal Stimmengewirr und Geräusche hörten, die lauter wurden, je näher wir kamen. Als wir das Ende des Gangs erreichten, waren die Geräusche zu Lärm angewachsen. Wir traten auf einen Balkon, von dem aus eine schmale Steintreppe nach unten führte. Vor uns tat sich die größte Höhle auf, durch die wir bisher gekommen waren. Sie hatte die Ausmaße eines Fußballfelds und war mindestens so hoch wie ein mehrstöckiges Haus.
Wir blickten auf eine Art Markt. Es gab Stände, Zelte und Geschäfte, deren Ladenflächen in den Felsen gearbeitet worden waren. Bunte Markisen verbanden sich zu einem farbigen Flickenteppich, es roch nach Essen und frischer Farbe. Von der Decke hingen Hunderte Lampen und Lampions, die die riesige Fläche auf mehreren Etagen erleuchteten. An den vier Ecken des Markts erhoben sich Holztürme in die Höhe, deren Nutzen sich mir nicht erschloss. In der Luft über den Ständen kreisten und flatterten mehrere Vögel und andere Wesen .
Estelle hatte nicht übertrieben, zwischen den Ständen mussten sich Hunderte Menschen und Figuren tummeln. Vor Staunen blieb mir der Mund offen stehen. Überwältigt starrte ich auf die Figuren, die sich hier unten frei bewegten, als gäbe es keine VdF, als wäre es völlig normal, dass sie sich in Kapitolo befanden!
Da waren nicht nur menschenähnliche Figuren, sondern auch allerlei mythologische Gestalten und Mischwesen. Direkt unter mir sah ich zwei Gargoyles, einen sprechenden Hund, eine Gruppe kleinerer Feen und eine Figur, die mir verdächtig nach dem kleinen Prinzen aussah, wenn die Rose unter ihrem Glassturz ein Indiz war, die er in der Hand trug. Ich sah ein Gerippe mit einem Spatzen auf dem Schädel, das plaudernd neben einem Fakir lief. Eine Frau, die aussah wie die Zeichnungen auf alten Geister-Heftromanen, führte ein Biest an der Leine, das mich an Robert Jordans Schattenhunde im Rad der Zeit erinnerte. Der Anblick war mir nicht geheuer.
Die Eindrücke dieses Ortes stürmten einer Flutwelle gleich auf mich ein, und ich fragte mich, ob ich überhaupt noch in Kapitolo war. Vielleicht waren nicht die Figuren übergetreten, sondern ich?
Hier schien die Grenze zwischen der Fantasiewelt und unserer eigenen aufgelöst, und ich ertappte mich dabei, wie ich in der Menge nach einem bekannten Gesicht Ausschau hielt. Für einen kurzen Moment hoffte ich, über mir das Schlagen von Taubenflügeln zu hören.
Fieberhaft glitt mein Blick über die Menge.
»Willkommen im Untergrund«, sagte Estelle und deutete auf das, was vor uns lag. »Das ist das wahre Kapitolo! Die Stadt der Figuren.«