I ch kam mir vor wie ein Kind, das zum ersten Mal einen Vergnügungspark betritt. Aufgeregt und eingeschüchtert. Niemals im Leben hatte ich erwartet, so viele Figuren an einem Ort zu sehen. Sie liefen an mir vorüber, streiften mich, warfen mir neugierige Blicke zu. Die Luft schien wie elektrisiert, und schon nach wenigen Metern nahm ich die leichten elektrischen Schläge kaum noch wahr.
Manche Figuren lächelten mich an, andere musterten mich misstrauisch. Ich konnte es ihnen nicht verübeln. Hin und wieder grüßte Estelle eine Figur oder einen Menschen, sie schien eine gewisse Bekanntheit im Untergrund zu besitzen. Es wurden viele Sprachen gesprochen. Lebendige und erfundene, einige erkannte ich, andere nicht, und immer wieder hörte ich den Klang von Esperanto.
Wir zogen zwar Aufmerksamkeit auf uns, was auch an Folkvar lag, aber der von mir befürchtete Aufruhr blieb aus. Hier waren wir nur wenige unter vielen. Nichts Besonderes eben. Endlich nahm ich die Mütze ab, lockerte den Schal und öffnete den Mantel. Seit Stunden hatte ich zum ersten Mal wieder das Gefühl, frei atmen zu können.
Mit flüchtigen Blicken konnte ich an den Ständen Waren des täglichen Bedarfs erhaschen: Essen, Kleidung und Werkzeuge. Ich wäre gern an jedem Stand stehen geblieben, um mir die Auslage anzuschauen, aber Estelle drängte weiter. Die Zeit blieb auch hier unten nicht stehen, und meine Probleme waren nicht weniger geworden. Meine Figur war immer noch auf der Flucht, eine weitere war nach Kapitolo gekommen, und zu allem Überfluss verfolgte uns ein Unbekannter, dessen Agenda wir nicht kannten.
Estelle hielt ebenfalls nach meiner Figur Ausschau, während sie sich einen Weg durch die Menge bahnte. Aber es war schwierig, eine Figur zu erkennen, von der man nicht wusste, wie sie aussah. Ich ging davon aus, dass ich irgendwie merken würde, wenn sie plötzlich vor mir stand, aber sicher war ich nicht.
Nichtsdestotrotz fing mich der Zauber dieses Ortes ein. Die Neugier packte mich, und ich fragte mich, welche Geschichten hinter all diesen Figuren steckten. Kannte ich vielleicht sogar ihre Erschaffer?
Doch die brennendste Frage war, warum die Figuren nicht in die Welten zurückwollten, aus denen sie gekommen waren. Hatten sie sich hier verliebt? Kamen sie aus einer gewalttätigen Geschichte? Folkvar wollte nicht hierbleiben, weil es ihn zu Hulda zog. Vielleicht hatten andere Figuren jedoch nichts und niemanden, der auf sie wartete.
Aber war es das wert, hier im Untergrund zu leben? Für immer in die Dunkelheit verbannt? So faszinierend die Höhlen und ihre Architektur auch waren, konnten sie wirklich Ersatz für eine Welt voller Licht, Natur und blauem Himmel sein, die an der Oberfläche auf sie wartete?
Ich hatte so viele Fragen, wollte so vieles wissen, die Neugier brannte mir unter der Haut. In meinem Kopf bildeten sich Sätze, um alles, was ich sah, aufzuschreiben und festzuhalten. Doch auch dafür blieb keine Zeit. Estelle blieb nicht stehen, sie führte uns an den Ständen vorbei, ein klares Ziel vor Augen. Es drängte mich, den Notizblock herauszuziehen und meine Beobachtungen festzuhalten, aber es ging immer weiter.
Als ich Estelle nach unserem Ziel fragte, erwiderte sie nur: »Du wirst es schon bald sehen.«
Schließlich verließen wir die Höhle mit dem Marktplatz durch einen schmaleren Seitengang, und ich warf einen bedauernden Blick zurück. Hinter uns drängten sich weitere Menschen und Figuren durch den Gang. Stehen bleiben war unmöglich. Das Licht des Marktplatzes reichte nur wenige Meter in den Gang hinein, danach mussten wir wieder Gebrauch von unseren Taschenlampen machen. Wenn uns Leute mit ihren eigenen Laternen und Lampen entgegenkamen und sich an uns vorbeiquetschten, konnte ich in diesem Dämmerlicht kaum erkennen, ob es sich um Menschen oder Figuren handelte – es sei denn, es waren eindeutig Fantasiewesen.
Ein Mann mit ledrigen Flügeln schimpfte lautstark vor sich hin, als die Flügelspitzen die Felswand über ihm streiften. Ich musste seine Sprache nicht verstehen, um zu wissen, dass seine Flüche drastisch ausfielen.
Nach wenigen Minuten verbreiterte sich der Gang abrupt und endete auf einer Art Terrasse. Als wir auf sie hinaustraten, eröffnete sich unter uns ein breiter Schacht, der einen Durchmesser von mindestens hundert Metern hatte und dessen Ende nicht erkennbar war. Auch über uns schraubte er sich in dämmrige Höhen. Eine riesige gusseiserne Wendeltreppe wand sich an der Seite nach unten und oben. Sie führte vorbei an ähnlichen Terrassen wie der, auf der wir standen. Vermutlich waren es Eingänge zu weiteren Gängen und höhlenartigen Behausungen ähnlich den Höhlensiedlungen Kappadokiens. Viele von ihnen zierten prachtvolle hölzerne Türen. Auf der Treppe waren zahlreiche Leute unterwegs.
Wir traten an die Brüstung, hinter uns liefen die Figuren vorbei, um die Treppe zu erreichen oder von dort aus in den Gang zu kommen. Estelle deutete auf eine tiefer liegende, golden gestrichene Flügeltür auf der anderen Seite des Schachts, die auf beiden Seiten von Marmorsäulen eingerahmt wurde. Über der Tür hing ein Relief mit einer Sphinx, und Wachen sicherten den Eingang.
Erstaunt betrachtete ich die modernen Waffen an ihnen, denn bisher war mir der Untergrund eher märchenhaft vorgekommen. Doch diese Männer trugen Sturmgewehre und Pistolengürtel, Schutzwesten und Helme, sie sahen aus wie Mitglieder eines Sturmtrupps.
»Wer zum Henker wohnt hier, dass die da nötig sind?«, flüsterte ich Estelle zu, damit uns die vorübergehenden Figuren nicht hören konnten.
»Vielleicht wäre es besser, wenn ich nicht mit hineingehe«, sagte sie. »Ylvi, die Hausherrin, und ich haben in der Vergangenheit bereits ein paar Meinungsverschiedenheiten gehabt.« Bedeutungsschwer sah sie mich an. »Ohne jetzt groß ins Detail zu gehen … Es gibt im Untergrund Bestrebungen, den Status quo zu verändern und die Menschen langfristig daran zu gewöhnen, dass die Figuren unter ihnen sind.«
»Du meinst, den Untergrund öffentlich zu machen?«
Sie nickte. »Ylvi ist nicht dieser Meinung. Sie lebt schon sehr, sehr lange hier und möchte, dass der Untergrund weiterhin im Verborgenen bleibt. Ihr Wort hat hier Gewicht, weil viele Figuren bei ihr aus unterschiedlichen Gründen in der Schuld stehen. Sagen wir einfach, sie versucht, jede Diskussion über eine Öffnung des Untergrunds im Keim zu ersticken.«
»Ist das der Grund, warum sie so schwer bewacht wird?«
»Unter anderem.« Sie fixierte die Tür, und ich hatte nicht den Eindruck, dass sie glücklich darüber war, mit besagter Hausherrin zu sprechen.
»Bist du sicher, dass wir das überhaupt tun sollten? Gibt es keinen anderen Weg, an Informationen zu kommen?«, fragte ich daher, aber sie nickte nur grimmig.
»Wenn jemand weiß, ob wir deine Figur hier unten finden, dann sie.« Plötzlich straffte sie die Schultern und sagte: »Nein, nein, ich werde mitkommen. Ich kann euch unmöglich allein in die Höhle der Löwin gehen lassen.«
»Wenn du nicht mit hineingehen möchtest, habe ich vollstes Verständnis, Estelle.«
»Ach was.« Sie winkte ab.
Ich warf Folkvar einen Blick zu, der unruhig die Hand auf den Schwertknauf legte und sich aufmerksam umsah, als präge er sich die Umgebung sehr genau ein.
»Was immer ihr auch in diesem Haus seht, es ist wichtig, dass ihr nicht darauf reagiert«, schärfte uns Estelle ein.
»Mir gefällt das nicht«, erwiderte Folkvar, und ich konnte ihm nur zustimmen. Mir gefiel es auch nicht.
»Warum habe ich nur das Gefühl, dass wir gleich der Herzkönigin gegenüberstehen, die unsere Köpfe rollen sehen will?«, murmelte ich, als Estelle den ersten Schritt auf die Wendeltreppe tat, deren Stufen uns zur goldenen Tür bringen würden.
Folkvar ging um mich herum und zur Wendeltreppe, rasch schob er sich an Estelle vorbei. Diesmal ging er wirklich voraus, und keine von uns widersprach. Er war es auch, der wenige Augenblicke später den Türklopfer bediente und mit den Wachen redete, die schwer bewaffnet den Eingang sicherten.
Einer der Männer bedeutete uns, ihm zu folgen, während der andere weiterhin die Tür bewachte. Folkvar musste sein Schwert abgeben, was er nur widerwillig tat. Auch Estelle und ich wurden kurz abgetastet, dabei verloren wir das Messer, die Pistole und den Schlagring. Nur das Pfefferspray übersahen sie, weil die Kapsel zu klein war.
Wir liefen über schwere Orientteppiche, von denen mehrere übereinandergelegt worden waren, sodass es sich anfühlte, als würde man über einen Moorboden schreiten. In der Luft hing der Geruch von Rauch, wie er durch ausgeblasene Kerzen entstand, und das Laternenlicht wurde durch an der Wand angebrachte kleine runde Spiegel reflektiert. Von den Fluren gingen zahlreiche Türen ab, vor denen teilweise bodenlange, dicke Vorhänge hingen. Sie schluckten nicht nur Geräusche, sondern versperrten auch die Sicht. Zwischen den Türen hingen unzählige Fotos von Menschen und Figuren, manche noch schwarz-weiß, andere in grellen Farben. Sie erzählten ihre ganz eigenen Geschichten, doch es blieb keine Zeit, sie zu betrachten.
In den Gängen begegneten wir Menschen und Figuren gleichermaßen. Manche senkten den Blick, andere wiederum sahen uns beinahe herausfordernd in die Augen. Hin und wieder kamen mir Gesichter bekannt vor, aber ich wusste nicht, ob sie mich nur an jemanden erinnerten – oder ich tatsächlich ihre Geschichten gelesen hatte.
Auf einer Treppe packte mich plötzlich eine Frau am Handgelenk. Erschrocken blieb ich stehen, und Folkvar wollte schon dazwischengehen, als die Frau rief: »Kate Kowalski!«
Vorsichtig sagte ich: »Ja?«
»Ich habe all Ihre Bücher gelesen! Ich bin Ihr größter Fan!«
Die Frau war mittleren Alters und sah meiner Friseurin erstaunlich ähnlich. Hätte sie nicht einen vollkommen anderen Dialekt gesprochen, hätte ich möglicherweise tatsächlich überlegt, ob es meine Friseurin war. Sie trug das Haar in einem modischen Kurzhaarschnitt und hatte die Augen dunkel umrandet. Neben ihr lief ein junger Mann, dem die Szene sichtlich peinlich war.
»Mama«, sagte er und versuchte, sie von mir fortzuziehen.
Doch die Frau schüttelte ihn ab. »Aber Asmundson, das ist Kate Kowalski!«
Offenbar hatte sie mich trotz Perücke erkannt. Ich wünschte nur, sie hätte leiser geredet. Im Untergrund musste ich zwar keine Angst haben, ihre Begeisterung verunsicherte mich trotzdem.
Vertraulich legte sie mir die Hand auf den Arm. »Ich will nur, dass Sie wissen, dass ich Ihre Bücher großartig finde. Eigentlich lese ich nur Krimis, aber Ihretwegen habe ich auch die Fantasybücher gelesen. Ich habe ein bisschen gebraucht, um das mit den Pseudonymen zu durchschauen, aber dann habe ich alles verschlungen.« Sie zwinkerte mir zu, und überrumpelt dankte ich ihr. Sie tätschelte mir den Arm. »Das wird schon wieder alles werden, jetzt sind Sie ja hier.« Ihre Geste mochte den Untergrund oder nur dieses Haus umfassen, das war nicht ganz klar. »Sehen Sie, mein Sohn«, sie deutete auf Asmundson, »erst habe ich ja gedacht, du lieber Himmel, was denkst du dir nur dabei, dich mit einer Figur einzulassen, aber dann habe ich mein Kind bekommen, und alles hat auf einmal Sinn ergeben, verstehen Sie, was ich meine?«
Überrumpelt nickte ich.
»Eben. Und so wird das auch bei Ihnen sein. Im Moment ist es schwierig, aber es wird sich schon alles fügen. Genau wie in Ihren Büchern. Sie wissen gar nicht, wie sehr mich diese Romane über schwierige Zeiten gebracht haben.« Sie seufzte hörbar, während ich noch zu begreifen versuchte, dass der junge Mann, der hinter ihr stand, offenbar eine Figur zum Vater hatte.
Estelle sah aus, als könnte sie sich ein Lachen kaum verkneifen, und die Wache, die uns durch das Haus führte, drängte gestikulierend zum Weitergehen.
»Ja, Sie haben natürlich zu tun«, sagte die Frau hastig. »Jeder hat hier immer etwas zu tun, nicht wahr?« Verschwörerisch beugte sie sich zu mir. »Ich freue mich wirklich sehr, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben. Das ist doch alles sehr schwierig mit den Gesetzen in Kapitolo. Der Vater meines Jungen hat ihn auch nie kennengelernt.« Plötzlich traurig, schüttelte sie den Kopf, und Asmundson legte ihr die Hand auf den Arm.
»Komm, Mama«, sagte er, und sie sah ihn stolz an.
»Er ist Autor geworden, stellen Sie sich das vor! Er versucht damit, seinen Vater zu erreichen. Deswegen sind wir hier im Goldenen Haus.« In ihren Augen schimmerten Tränen, und ich wusste nicht, was ich darauf erwidern sollte.
Daher berührte ich nur kurz mitfühlend ihre Schulter und sagte: »Ich bin sicher, seine Texte sind wunderbar.«
»Das sind sie.« Sie schniefte noch einmal, dann ließ sie sich von ihrem Sohn weiterführen, der mir entschuldigend zunickte.
»Viel Erfolg!«, rief ich ihnen nach, und die Frau winkte mir lächelnd zu.
Auf seltsame Art hatte mich diese kurze Begegnung tatsächlich hoffnungsvoller gestimmt.
Die Wache drängte weiter, und auch Estelle winkte hastig, während ich noch zu verarbeiten versuchte, was gerade geschehen war. Ich hatte nicht erwartet, ausgerechnet hier unten jemanden zu treffen, der meine Bücher gelesen und gemocht hatte. Auch wenn das Treffen auf der Treppe etwas seltsam gewesen war, so hatte es mir doch Freude bereitet.
»Was meint sie damit, er versucht, seinen Vater zu erreichen?«, fragte ich Estelle, aber sie schüttelte den Kopf. »Ich habe noch nie davon gehört, dass … na ja, dass Figuren und Menschen … Du weißt schon … Kinder zeugen können.«
Der Blick, den sie mir zuwarf, spiegelte halb Amüsement, halb Frustration. »Was hast du gedacht, was passiert, wenn Leute aufeinandertreffen?«
»Aber ist das überhaupt möglich?« Ich senkte die Stimme zu einem Flüstern herab. »Ich meine, anatomisch?«
Jetzt verriet ihr Blick sehr genau, dass sie an meiner Intelligenz zweifelte. »Nicht, wenn du einen Zentauren heiratest«, war ihre Antwort, und ich lief tatsächlich ein bisschen rot an und ließ das Thema auf sich beruhen. Es war offensichtlich, dass ich vieles über den Untergrund noch nicht wusste.
Wahrscheinlich war es also kein Wunder, dass ich wie hypnotisiert stehen blieb, als wir an einer offenen Tür vorübergingen. Ich kann nicht mehr genau sagen, was ich zu sehen erwartete, aber sicher nicht, dass es eingerichtet war wie ein Schlafzimmer! An der Wand stand ein Bett, es gab einen kleinen Tisch mit Fernseher darauf, außerdem einen Schrank und drei Topfpflanzen, die aussahen, als könnten sie Wasser gebrauchen. An den Wänden hingen Drucke von Renoirgemälden, die denen in der Gartenlaube meiner Großeltern ähnelten. Die Mitte des Zimmers nahm ein großes Schreibpult ein.
Dahinter stand ein Mann mittleren Alters, der mir lediglich einen flüchtigen Blick zuwarf, bevor er sich wieder den Papierbögen widmete, die vor ihm lagen. Er fuhr mit einem Füller kratzend über die Seiten.
Auf dem Bett hinter ihm saß eine Figur, eine Frau in einem blauen Wollkleid, die ebenfalls lose Seiten vor sich hatte und auf ihnen mit einem Stift Notizen machte. Hin und wieder nannte sie ihm Seitenzahlen, und ein wildes Blättern folgte, bis beide auf den gewünschten Seiten waren. Es störte sie offenbar nicht, dass ich ihnen zusah.
»Wer ist das?«, fragte ich, als Estelle neben mir stehen blieb.
»Ein Autor und seine Muse.«
»Wirklich?«
»Nein, Kate. Es ist eine seiner Figuren.«
»Oh. Und sie …«
»Schreiben.« Sie deutete auf die Szene vor uns, als wolle sie sagen: Ist das nicht offensichtlich?
»Ja, natürlich«, erwiderte ich.
Aber war es das wirklich?
Irgendwie hatte ich etwas Geheimnisvolleres erwartet. Vielleicht sogar Skandalöseres . Dieses Haus erinnerte mich eher an so manches Luxusbordell in Amsterdam als an die Unterkünfte, in denen Autoren für ihre Werkstipendien untergebracht wurden.
Meine Verwirrung war mir offenbar anzusehen, denn Estelle seufzte und deutete den Gang hinunter. »In jedem dieser Zimmer sitzt ein Autor und schreibt. Manchmal sind Figuren bei ihnen, manchmal nicht. Das ist das Besondere an diesem Haus. Hier werden Korrekturen vorgenommen.«
»Korrekturen?«
Sie nickte. »Im Plot. An den Figuren. Am Text!«
»Für bereits geschriebene Geschichten?« Meine Stimme war so laut geworden, dass der Autor am Pult aufsah und der Wächter uns erneut und dieses Mal energischer zum Weitergehen aufforderte.
»Viele Autoren möchten gern Änderungen an ihren Texten vornehmen, nachdem sie auf ihre Figuren getroffen sind. Der Plot ist schließlich nicht immer freundlich . Häufig ist das erste Aufeinandertreffen von Autoren mit ihren Figuren auch«, sie senkte die Stimme, »schmerzhaft. Hier haben sie die Möglichkeit, auf neutralem Terrain aufeinanderzutreffen, in Ruhe zu reden und, falls der Wunsch besteht, Dinge zu ändern.«
»Drüben in der Fantasiewelt?«
Wieder nickte sie. »Für die übergetretene Figur kann natürlich nichts mehr geändert werden, aber darum geht es ja auch nicht immer.« Sie hob die Hand. »Jetzt weißt du Bescheid, das ist das Besondere am Goldenen Haus. Das ist das, was in Ylvis Haus geschieht. Es ist ein Korrekturbüro. Nur ohne die Lektorinnen und Lektoren Kapitolos, die überwachen könnten, was zwischen den Zeilen geschieht.«
»Gibt es viele davon?«
»Ein paar. Aber Ylvis Haus ist das bedeutendste. Sie stellt zur Verfügung, was so mancher Autor für das Erschaffen seines Werks braucht, ein Ambiente .«
Das mochte vieles umfassen. Ich kannte Autoren, die nur unter Drogen richtig gute Texte schrieben. Andere wiederum benötigten absolute Stille. Wieder andere konnten nur arbeiten, wenn sie vor einem Fenster saßen, einen Bademantel dabei trugen oder ihre Füße vorher in Eiswasser gebadet hatten. Die Reihe merkwürdiger Angewohnheiten, die Leuten beim Verfassen von Texten halfen, war lang. Manche dieser Angewohnheiten waren harmlos, andere nicht, und langsam verstand ich, warum so viele Leute in Ylvis Schuld standen.
Grübelnd betrachtete ich Folkvar, der vor uns lief.
Figuren durchlaufen die Geschichte, für die sie erfunden werden, so lange, bis der Text nicht mehr bearbeitet wird, ihre Geschichte entfaltet sich für sie, bis sie zu Ende ist. Erst danach führen sie bis zu einem gewissen Grad in ihrer Welt eine Art Eigenleben. Doch solange der Autor daran arbeitet, können sie dem, was der Autor über sie schreibt, nicht entkommen.
Ich brachte nicht oft Figuren in meinen Romanen um, nie Haupt- oder wichtige Nebenfiguren, aber es gab Tote und andere schlimme Ereignisse – ohne Drama schließlich keine Spannung und ohne Hindernisse kein Happy End. Bisher hatte ich mir nie viele Gedanken dazu gestattet, ich wollte so wenig wie möglich darüber nachdenken. Doch jetzt fragte ich mich, ob ich Folkvar anbieten sollte, seine Welt zu verändern. Sollte ich mich in eines dieser Zimmer zurückziehen und seine Geschichte neu schreiben? Das Wetter freundlicher machen? Seine Feinde weniger intrigant? Das Essen abwechslungsreicher?
Ich tippte ihm auf die Schulter. »Bist du wütend auf mich, dass ich, na ja, dass ich das alles geschrieben habe? Du und Hulda habt einiges durchmachen müssen, bis ihr euer Happy End gefunden habt.«
»Aber wir haben eines.«
Da hatte er recht, die meisten meiner Romane endeten mit einem. Oder zumindest einem hoffnungsvollen offenen Ende. Ich musste an Anna Karenina und Tom Robinson denken – ob ihre Autoren je ein schlechtes Gewissen gehabt hatten? Obwohl wir um die Figuren wussten, ihnen in Kapitolo begegneten, vielleicht sogar mit ihnen sprachen oder sie berührten, konnten wir alle eines nicht tun: mit dem Schreiben aufhören. Ließen wir das Schreiben sein, würden zwar keine neuen Figuren in die Existenz gehoben werden, aber sie würden auch kein Leid erfahren. Waren wir alle selbstsüchtig, weil wir unsere Geschichten erzählen wollten? Oder unsere Leser, weil sie sie lesen wollten?
»War es kein Schock, als du in unsere Welt gekommen bist? Ich meine, das ist doch hier alles neu: Autos, Handys, Strom.«
Er zuckte mit den Schultern. »Ja, schon, aber irgendwie …«
»Hast du das alles gut weggesteckt«, ergänzte Estelle.
Er nickte.
»Das ist nicht ungewöhnlich«, sagte sie zu mir. »Du darfst nicht vergessen, dass du ihn genau so geschrieben hast. Er ist der Held, er kommt zurecht. So etwas sieht man hier unten oft.«
»Aber ich … habe seinen Waffenbruder gemeuchelt«, gab ich kleinlaut zu. Der Gedanke daran schien mir auf einmal unerträglich.
Wieder zuckte er mit den Schultern. »Das ist lange her.«
»Siehst du. Er kommt zurecht. Sei doch froh.« Doch sie schien zu spüren, dass mich das Thema durcheinandergebracht hatte, und fügte hinzu: »Die Welt ist kompliziert, Kate. Nicht nur in den Köpfen der Menschen, aber vor allem dort. Und die Beziehung zwischen Figuren und Menschen ist nicht immer einfach. Erst recht nicht zwischen Figuren und ihren Schöpfern.«
Mehr sagte sie nicht, und ich hatte das Gefühl, dass sie mir etwas zu erzählen versuchte, es in Folkvars Gegenwart jedoch unterließ.
Doch mir blieb keine Zeit mehr, weitere Fragen zu stellen, denn wir wurden in einen kleinen Salon geführt, der ganz in Gold gehalten war. Es glänzte und gleißte, als würde man auf den Schatz des Drachen Fafnir schauen. Was dort auf dem mit goldener Seide bezogenen Sofa lag, war jedoch kein Drache.
Es war eine Frau.
Sie war groß und trug ein rosafarbenes Seidenkleid, das im reflektierenden Licht beinahe feucht wirkte, ihr goldschimmerndes Haar war so dicht und lang, dass man annehmen konnte, es wäre eine Perücke. Auf dem Kopf trug sie einen ausladenden Kopfschmuck mit funkelnden Kristallen, um den sie jeder Cosplayer beneidet hätte. Sie besaß wohl das schönste Gesicht, das ich je in meinem Leben gesehen hatte. Und das wollte etwas heißen mit Folkvar im Raum – allerdings war auch sie kein Mensch.
»Willkommen«, sagte sie mit tiefer Stimme und deutete auf Sessel, die dem Sofa gegenüberstanden.
Zögerlich nahmen wir Platz. Selbst Folkvar, der die rechte Hand zur Faust ballte, als würde er noch immer ein Schwert halten. Er warf misstrauische Blicke auf einen frei laufenden Vogel, der wie ein Kasuar aussah, allerdings nur halb so groß war. Das Tier hatte einen spitzen Schnabel und an einer seiner drei Zehen eine handlange, scharf aussehende Kralle. Sein kobaltblauer Hals leuchtete schwach. Vielleicht hatte Folkvar schlechte Erfahrungen mit Vögeln gemacht.
Mich beunruhigte eher das halbe Dutzend Fische in einem großen Aquarium an der Wand. Sie sahen nicht aus wie Zierfische. Dass es keine Piranhas waren, konnte ich erkennen, trotzdem waren mir die Tiere suspekt, wie sie da dicht an der Frontscheibe entlangschwammen, als erwarteten sie jeden Moment, dass etwas ins Wasser fallen würde.
Ylvi ließ uns durch einen Diener, der wie aus dem Nichts erschien und mich an Stevens, den Butler aus Was vom Tage übrig blieb erinnerte, Getränke bringen. Es war eisgekühlter Weißwein, an dem Estelle und ich vorsichtig nippten, da wir nicht ablehnen konnten, ohne unhöflich zu wirken.
»Wir haben uns eine Weile nicht mehr gesehen«, sagte Ylvi schließlich zu Estelle, während sie wie ein Teenager eine Strähne ihres langen Haars durch die Finger gleiten ließ.
»Ich war eine Weile nicht mehr hier.«
Ich bewunderte ihre gelassene Miene, es gehörte offenbar einiges dazu, Estelle noch zu beeindrucken. Oder ihr Angst zu machen. Ylvi warf mir einen Blick zu, sicher fragte sie sich, wie viel ich von Estelles Geschichte wusste.
Auch ich stellte mir Fragen. Wie eng waren Estelles Verbindungen in den Untergrund wirklich? Ich hatte den Eindruck, dass sie ihren Einfluss herunterspielte. Konkurrierte Jop tatsächlich nur gegen einen Schatten aus ihrer Vergangenheit oder auch gegen das Engagement für eine verbotene Sache?
Ich konnte den Blick nicht von Ylvi abwenden, und sie lächelte mich nachsichtig an.
»Entschuldigung«, sagte ich, »ich habe noch nicht oft mit Figuren gesprochen.«
»Ja, da oben gibt es nicht so viele von uns.« Ihr Lächeln wurde schmal, und neben mir straffte Estelle die Schultern.
Auch ohne den Hinweis auf ihre Meinungsverschiedenheit wäre jedem Beobachter klar gewesen, dass diese beiden eine unangenehme Vergangenheit teilten. Doch Estelle schluckte den Köder nicht.
Also richtete Ylvi ihre Aufmerksamkeit auf Folkvar. »Willkommen im Untergrund«, sagte sie.
Er nickte, was er jedoch darüber hinaus von ihr hielt, war nicht zu erkennen. Ihm musste das alles ähnlich verwirrend vorkommen wie mir. Vor Kurzem war er noch zu Hause gewesen, in der Welt, die er kannte, und plötzlich befand er sich an einem Ort, von dem er vorher höchstens Gerüchte gehört hatte.
»Hast du vor, bei uns zu bleiben?«, fragte sie ihn direkt.
Er schüttelte den Kopf.
»Dann war deine Reise hierher also ein Versehen?«
»Könnte man so sagen.«
»Mhm.« Sie trank einen Schluck. »Das passiert. Nicht so oft, aber es kommt vor.« Sie lächelte ein Haifischlächeln. »Wir haben Verbindungen, wir können dir helfen, wenn du das möchtest. Der Schwarze Tempel hat nicht nur dort oben Brunnen für die Rückführung, er reicht weit in die Erde.«
Brüsk nickte er, aber glücklich sah er dabei nicht aus. Auch ich hatte das Gefühl, dass die Sache einen Haken haben würde. Diese Frau sah nicht aus, als würde sie irgendjemandem einen Gefallen erweisen, ohne eine Gegenleistung zu verlangen.
Ich räusperte mich, um Ylvis Aufmerksamkeit auf mich zu lenken, denn ich wollte endlich zu dem Thema kommen, weswegen wir hier waren.
Ihr Blick richtete sich auf mich. »Natürlich haben wir auch von dir gehört, Kate.«
»Zweifelhafte Geschichten sicherlich«, versuchte ich mich an einem Scherz, aber sie ging nicht darauf ein.
»Deine Geschichte beherrscht gerade die Medien.«
»Das wird auch wieder vergehen. Keine Geschichte lebt ewig, ganz gleich, was man über das Internet sagt.« Das hoffte ich jedenfalls.
»Du bist auf der Suche nach deiner Figur.« Sie warf Folkvar einen amüsierten Blick zu. »Der anderen .«
»Ist sie hier? Weißt du, wer sie ist?«, platzte ich heraus.
»Nein.«
»Dann ist sie nicht hier?«
»Sie war hier.«
Verwirrt sah ich erst sie, dann Estelle an. »Was soll das heißen?«
Ylvi stellte das Glas auf dem Tisch zwischen uns ab. »Wir wissen nicht, wer sie ist. Für dich . Welchen Namen du ihr gegeben hast. Aber sie war hier bei mir in diesem Haus, so viel kann ich dir verraten.«
Aufgeregt rutschte ich an die Kante des Sessels. »Dann kannst du sie beschreiben. War es eine Frau? Ein Mann?« Ich zerrte die Prioritätenliste mit den Fotos und Beschreibungen aus der Manteltasche und hielt sie ihr hin. Huldas Namen hatte ich inzwischen durchgestrichen. Mit klopfendem Herzen wartete ich auf eine Antwort.
Sie warf einen Blick darauf und schüttelte den Kopf.
Enttäuscht ließ ich mich nach hinten sinken. Ich war so sehr davon überzeugt gewesen, dass es eine dieser Figuren sein musste, doch jetzt stand ich wieder ganz am Anfang. Folkvar war der Beweis dafür, dass es keine Hauptfigur sein musste, schließlich hatte er auch als bloßes Love Interest den Übergang geschafft. Wer konnte es also sein?
Etwa doch Kapitän Moo mit seinem Totenschädel? Musa, der nervöse Grundschullehrer mit seiner Liebe für den Fußballverein El-Gaish? Arabella, die nie mehr als vier Stunden schlief und ununterbrochen Hustenbonbons lutschte? Tsenokro, der über erstaunliche magische Fähigkeiten verfügte, aber Angst vor lauten Geräuschen hatte? War eine dieser Figuren fähig, nach Kapitolo zu kommen und hier einen Menschen umzubringen? Das schien mir alles so absurd.
»Wo ist sie jetzt?«
»Das weiß ich nicht.«
»Ist sie noch im Untergrund?«
»Nein.«
Das war ja wie Zähne ziehen. »Weißt du vielleicht, wo sie hinwollte?«, fragte ich ungeduldig.
»Auch das wissen wir nicht.«
»Was wisst ihr denn nun?«
Estelle legte mir die Hand auf den Arm und Ylvi den Kopf schief.
»Wir wissen, dass sie hier war und jemanden gesucht hat. Sie kam zu mir, weil sie wissen wollte, ob ich ihr bei ihrer Suche helfen könnte. Genau wie du.«
»Nach wem hat sie gesucht?«
»Das kann ich dir nicht sagen.«
Ich hob in einer frustrierten Geste die Hände. »Weil du es nicht weißt oder weil du es nicht sagen willst?«
»Weil ich nicht will.«
Estelle sah genauso irritiert aus, wie ich mich fühlte. Offenbar war Ylvis Verhalten selbst für sie nicht einzuschätzen.
Wen könnte meine Figur hier gesucht haben? Jemanden, der mit ihr in Zusammenhang stand? Jemanden, der mit mir in Verbindung stand? Eine andere Figur, die vor ihr den Übergang geschafft hatte? Wer sagte denn, dass sie die Erste gewesen war? Vielleicht traten schon seit Jahren Figuren von mir über, ohne dass ich oder irgendwer sonst es bisher gemerkt hätte?
»Was kann ich tun, damit du es mir sagst?« Ich versuchte, die Ungeduld aus meiner Stimme herauszuhalten.
»Gar nichts.«
»Ich will ihr doch nur helfen! Ist es nicht das, was ihr hier unten macht?« Ich schüttelte den Kopf.
»Sicher. Und aus genau diesem Grund, kann ich dir nicht sagen, wen sie gesucht hat: Weil ich auch noch anderen Figuren helfe. Für deine Suche ist es im Moment nicht entscheidend, wen deine Figur hier zu finden gehofft hat, weil er ohnehin nicht hier ist. Er ist wie ein Schatten.«
Bei diesem Wort zuckte Folkvar zusammen, und irritiert schaute ich ihn an, aber er erwiderte nichts. Von wem sprach Ylvi nur? Wer war er ? Der mysteriöse Mann, der Folkvar den Hinweis gegeben hatte, wohin Estelle und ich gegangen waren? Oder war hier noch ein Spieler unterwegs? Ich wusste noch nicht einmal, ob wir von Menschen oder Figuren redeten.
Wie würden meine Ermittler jetzt vorgehen? Wen würden sie verdächtigen?
Befolgte man gängige Genreregeln, lautete die Antwort in einem solchen Fall: Der geheimnisvolle Verfolger durfte nicht der offensichtlichste Verdacht sein. Also vermutlich nicht Driessen oder einer seiner Leute. Meistens handelte es sich am Ende um eine Figur, die irgendwo am Anfang schon mal aufgetaucht war – im Hintergrund –, die der Leser zwar wahr-, aber nicht ernst genommen hatte. Wer konnte in meiner Geschichte diese Rolle übernehmen?
Der Beamte, der mir den Durchsuchungsbefehl übergeben hatte? Das Pärchen, an dem wir bei unserer Flucht über die Dächer vorbeigerannt waren? Weras Mann Sebastian?
Je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker wurden die Kopfschmerzen, die ich bereits seit einer Weile verspürte. Die Grenze zwischen Realität und Fiktion verschwamm, und mein Leben ähnelte immer mehr einer Geschichte statt der Wirklichkeit.
Ylvis Blick ruhte schwer auf mir, sie sah mich an, als wüsste sie etwas über mich, und das beunruhigte mich. Nervös rutschte ich im Sessel herum, der mir trotz seiner weichen Polsterung auf einmal sehr unbequem erschien.
War es möglich, dass Folkvars unbekannter Helfer und derjenige, den meine Figur suchte, ein und dieselbe Person waren?
»Wie hat meine Figur ausgesehen? Kannst du mir wenigstens das beantworten? War es ein Mann, eine Frau? Magisch, nicht magisch?«
»Ich würde sagen, eine Frau, aber wer weiß das schon genau. Ich glaube nicht, dass sie magisch begabt war.«
»Blond? Brünett? Groß, klein? Wie alt?«
Ylvi trank erneut und lächelte. Fehlte nur noch, dass sie die Finger vor der Brust aneinanderlegte, dann würde sie einen ziemlich typischen Bösewicht abgeben. Vielleicht hatte sie zu viel Zeit mit Antagonisten verbracht.
»Glaubst du wirklich, dass ausgerechnet diese Figur all das offenbaren würde?«, fragte sie.
Ich runzelte die Stirn. »Wie soll sie es denn verhindern? Hat sie einen Mantel getragen, eine Maske?«
»Unter anderem. Ich kann dir sagen, dass sie weder sehr groß noch sehr klein war. Hilft das weiter?« Sie klang amüsiert.
Nein, das half mir nicht weiter, und das wusste sie auch. Ich neigte nicht dazu, meine Figuren sehr klein sein zu lassen, einfach, weil ich es selbst nicht war. Es blieben Dutzende Figuren übrig, die nach Kapitolo gekommen sein konnten.
»Wie willst du dann wissen, dass es nicht doch einer von ihnen war?«, warf Estelle ein und deutete auf die Prioritätenliste, die noch auf dem Tisch lag.
Ylvi seufzte, als wäre diese Frage sehr unsinnig. Sie nahm den Stift und strich Emanuel von der Liste, weil er ein Mann war. Hulda hatte ich bereits gestrichen. Blieben noch Mirabelle, Lorenala und Olympe. Letztere strich sie als Nächste. »Die Sprache war modern.« Dann folgte Lorenala. »Deine Figur ist mit moderner Technik vertraut.« Und als Letztes folgte der Strich durch Mirabelle. »Und sie hatte eine andere Kleidergröße. Schmaler. Zufrieden?«
Frustriert steckte ich die nutzlos gewordene Liste ein. Was sollte ich nur als Nächstes tun? Hatte meine Suche hier unten bereits ihr Ende gefunden? Das alles klang dermaßen undurchsichtig, dass ich den Kopf schüttelte und mir an die Schläfen fasste. »Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
»Das kann ich mir vorstellen.« Sie strich sich das Kleid glatt.
»Dann war es doch reine Zeitverschwendung, dass wir hierhergekommen sind«, sagte ich zu Estelle, die betrübt nickte. »Wie sollen wir sie finden, wenn wir keine Ahnung haben, wo wir suchen sollen?«
»Tut mir leid, Kate. Das war alles, was mir eingefallen ist.«
Ich fasste nach ihrer Hand. Estelle war mir nichts schuldig und hatte mehr für mich getan, als irgendjemand von ihr verlangen konnte. Sie hatte mir mit dem Wissen um den Untergrund vertraut und bürgte für mich. Es war nicht ihre Schuld, dass diese Suche in einer Sackgasse endete.
»Vielleicht stellst du die falschen Fragen«, wandte Ylvi ein, und mir ging langsam auf, dass sie als Figur so angelegt war, kryptisch zu antworten. Es war einfach ihre Art zu sprechen, so wie andere einen Dialekt besaßen. »Wenn du deine Figur besser verstehen willst, musst du versuchen, Figuren als Ganzes besser zu verstehen. Du gehst immer noch zu sehr von dir aus.«
Aber war ich nicht der Ausgangspunkt für meine Figuren? Sie kamen doch aus mir. Oder etwa nicht? Sollte ich sie nicht am besten kennen? Mein Blick fuhr zu Folkvar, der mit verschränkten Armen neben mir saß. Ich konnte immer noch das Band zwischen uns spüren, das musste doch etwas bedeuten. »Ich habe keine Nerven für solche Spielchen«, erwiderte ich hitzig. »Wenn du uns nicht helfen kannst, dann verschwenden wir hier unsere Zeit.«
Sie seufzte theatralisch. »Du bist zu ungeduldig. Wie die meisten Autoren. Alles muss man euch erklären. Kein Wunder, dass eure Lektoren euch beständig an die Hand nehmen und eure Figuren mir die Tür für Korrekturen einrennen.« Kopfschüttelnd stand sie auf und trat an ein schmales Bücherregal. »Und wenn man euch kritisiert, fühlt ihr euch auf den Schlips getreten, statt zuzuhören.« Mit einer eleganten Bewegung zog sie ein zerfleddertes Taschenbuch heraus und reichte es mir.
Es war ein Fantasyroman, dessen Cover darauf schließen ließ, dass er schon ein paar Jahrzehnte auf dem Buckel hatte. Die Frau auf dem Cover war leicht bekleidet, wie es für diese Art Cover damals üblich war, und sah Ylvi auf unbestimmte Weise ähnlich. Ich betrachtete das Bild, betrachtete Ylvi – und begriff, dass es ihr Roman war.
»Ich nehme nicht an, dass dir der Name meines Schöpfers etwas sagt«, merkte sie an.
Edgar Gibson – da klingelte bei mir gar nichts.
»Er war nicht sehr erfolgreich.« Sie klang beinahe bedauernd.
Ich blätterte ins Buch, um mir im Impressum das Erscheinungsjahr anzusehen. 1972. »Wie lange bist du schon hier?«
»Eine Weile.«
Alterte sie etwa nicht? War sie unsterblich? Oder veränderte sie sich nur äußerlich nicht?
»Was ist mit ihm?«, fragte ich und deutete auf das Foto des Autors, das auf der Rückseite zu sehen war. Er hatte ein freundliches Gesicht mit runder Brille und schütterem Haar.
Ihr Blick bohrte sich in meinen. »Er ist tot.«
Das war aufgrund des Alters zu vermuten.
Doch plötzlich fügte sie plaudernd hinzu, als würde sie über das Wetter reden: »Ich habe ihn umgebracht. Ich habe es geplant, vorbereitet und ausgeführt.«
Zuerst glaubte ich, sie hätte einen Scherz gemacht, aber als sie nicht lachte, warf ich Estelle einen Blick zu. Die zuckte nicht einmal mit der Wimper. Offenbar war es für sie keine Neuigkeit. Entsetzt schüttelte ich den Kopf. Diese Figur hatte also einen Mord begangen. An ihrem Autor! War das hier unten etwa Allgemeinwissen? Wieso wurde es geduldet? Waren wir bei ihr überhaupt noch sicher?
Für einen Moment saß ich stocksteif da. Ich hatte noch nie wissentlich mit einem Mörder geredet. Ylvis Fremdheit, die ich bisher darauf geschoben hatte, dass sie eine Figur war, schien mir auf einmal so viel deutlicher. Mich überlief eine Gänsehaut, und am liebsten wäre ich aus dem Zimmer gerannt.
Folkvar hatte sich aufgerichtet und sah wieder aus, als vermisse er sein Schwert. Er suchte meinen Blick, als würde er auf meinen Befehl warten. Aber ich wusste nicht, wie ich reagieren sollte.
»Es ist doch so«, sagte Ylvi, als hätte sie nicht gerade diese Bombe platzen lassen, »Figuren spüren eine tiefe Verbindung zu ihrem Schöpfer, ganz gleich, welches Schicksal er ihnen zuschreibt. Das ist ein bisschen wie bei misshandelten Kindern, nicht wahr, sie lieben ihre Eltern immer noch. Und Figuren mögen ihre Autoren verachten, sie vielleicht sogar hassen und sich ihren Untergang wünschen, aber sie können sie nicht töten, weil das auch bedeutet, einen Teil von sich selbst zu töten.« Sie hob die Hand. »Aber ich habe es getan. Die Gründe dafür und warum es mir trotzdem gelang, spielen im Moment keine Rolle. Das Entscheidende ist, dass ich die Erste war.«
Sie klang merkwürdig stolz, und das machte mir mehr Angst als alles andere. Als wäre es eine heroische Tat, den eigenen Autor umzubringen, die eine Auszeichnung verdiente – eine groteske Umkehrung der alten Schreibregel Kill your Darlings.
»Die Erste?« Meine Frage war kaum mehr als ein Flüstern. »Willst du mir sagen, dass es noch mehr Morde an Autoren gibt und meine Figur mich töten will?« Wartete sie auf die passende Gelegenheit?
»Ich will damit sagen, dass es immer einen Ersten seiner Art geben wird. Irgendwann.«
»Was bedeutet das?«
»Das musst du schon selbst herausfinden. Ich kann dir nicht alles verraten, so läuft das nicht. Wo kämen wir da hin, wenn im Krimi nach der Hälfte bereits alles erklärt wird?« Wieder wirkte sie amüsiert über meine Unwissenheit, und auf einmal regte sich Widerstand in mir. Ich wollte mich nicht einschüchtern lassen.
»Ich hasse es, wenn der Plot einer Geschichte nur dadurch vorankommt, weil irgendjemand zum falschen Zeitpunkt schweigt«, sagte ich, um sie zu provozieren, und Estelle nickte.
»Spannungsaufbau durch Verzögerung«, fügte sie hinzu, den Blick direkt auf Ylvi gerichtet. »Der älteste Trick im Buch. Novellen sind sowieso die besseren Romane.« Sie warf einen abfälligen Blick auf das mindestens vierhundert Seiten starke Taschenbuch zwischen uns.
Dieser Satz führte dazu, dass Ylvi zum ersten Mal missmutig die Stirn runzelte und mit ihrer Rolle als gelassener Bond-Bösewicht brach. Es war offensichtlich, dass Estelle einen wunden Punkt getroffen hatte. Ich war mir nur nicht sicher, wie klug es war, eine bekennende Mörderin zu provozieren.
»Ich nehme nicht an, dass du meine Figur zu den Umständen in Mitte-West ausgehorcht hast?«, fragte ich schnell, um von Estelle abzulenken.
»Du meinst, ob sie Damla Abbas getötet hat?«
Ich nickte, und Ylvi wandte endlich den Blick von Estelle ab.
»Doch, das habe ich.«
»Und ist das eine dieser Fragen, die du mir nicht beantworten kannst?«, nahm ich die Antwort vorweg, die ich erwartete.
Zu meiner Überraschung zuckte sie jedoch mit den Schultern und sagte: »Sie hat es zugegeben, als ich sie danach gefragt habe.«
Sämtlicher Mut, den ich mir eben noch eingeredet hatte, war wie weggeblasen, und meine Hoffnung, dass diese Geschichte für mich möglicherweise zu einem guten Ende führen könnte, fiel schlagartig in sich zusammen wie ein Kartenhaus.