K ate! Kate!«
Jemand rüttelte mich an der Schulter. Mir fuhr ein scharfer Schmerz in den Oberschenkel, ich zuckte zusammen und blinzelte.
Estelle hatte mich ins Bein gekniffen, und besorgt sah sie mich an. »Bist du wieder bei uns?«
Zitternd nickte ich. Mein Kopf war wie leer gefegt, ich wusste nicht, was ich als Nächstes tun sollte, alles schien auf einmal sinnlos – meine Zukunft ausgelöscht.
»Reiß dich zusammen!«, sagte Folkvar bestimmt.
Langsam, als wäre ich unter Wasser, drehte ich ihm das Gesicht zu.
Er hatte sich erhoben und ragte über mir auf. Ich streckte die Hand nach ihm aus, berührte seinen Arm, und ein leichter elektrischer Schlag erfasste meine Fingerspitzen. Fragend blickte er zu Estelle, als könne sie ihm erklären, was mit mir los sei.
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte sie eindringlich, aber ich konnte nur laut lachen.
»Ich komme ins Gefängnis!«, rief ich. »Niemand in meiner Familie war je im Gefängnis. Mein Vater traut sich nicht mal, bei der Steuererklärung zu schwindeln! Und das ist doch so etwas wie ein Volkssport.«
Den schlechtesten Ruf hatte mein Großonkel Richard, weil er manchmal eine Handvoll lose Schrauben aus Baumärkten klaute. Ich wäre die Erste, die jahrelang eingesperrt sein würde. Und wenn ich irgendwann wieder freikäme, würde ich eine Umschulung machen müssen, weil mir sicher niemand mehr die Lizenz zum Schreiben ausstellte. Meine Karriere war vorbei!
Das Zittern in meinen Fingern wurde stärker.
»Tu doch was!«, rief Folkvar, aber es war unklar, ob er Estelle, mich oder sogar Ylvi meinte.
Schließlich war es tatsächlich Ylvi, die mich aus meiner Starre löste, indem sie schlicht sagte: »Menschen sind manchmal so dramatisch. Das ist doch nicht das Ende der Welt.«
Ihre Worte durchdrangen den Nebel, der sich in meinem Gehirn gebildet hatte, und überrumpelt erwiderte ich: »Wie bitte?«
»Es wird sich eine Lösung finden.«
Wie sollte diese Lösung denn aussehen? Sollte ich auswandern? Mich für immer verstecken? Driessen hatte von Anfang an recht gehabt: Meine Figur war schuldig, und ich würde dafür bezahlen müssen. Vielleicht war es auch eine gerechte Strafe: Ich hatte einen Mörder erschaffen, das ließ sich jetzt nicht mehr leugnen, und ohne mein Schreiben würde ein unschuldiger Mensch noch leben.
»Sie hat recht«, sagte Estelle. »Du musst dich zusammenreißen. Noch ist nichts verloren. Wir müssen die Figur finden und herausfinden, warum sie diese Frau umgebracht hat. Möglicherweise gibt es mildernde Umstände, die das Gericht anerkennt. Vielleicht war es Notwehr?«
Skeptisch blickte ich auf.
»Und wir müssen sie finden, bevor Driessen sie in die Finger bekommt, daran hat sich nichts geändert. Wenn ihr beide eine faire Chance wollt, musst du dafür sorgen, dass er sie nicht einschüchtern kann. Oder sogar Schlimmeres …«
»Oder ihr könntet sie herbringen«, warf Ylvi ein, und wie auf Kommando drehten wir ihr die Köpfe zu.
»Was?«, flüsterte ich überrumpelt.
Sie deutete vage in den Raum. »Der Untergrund ist groß, sie wäre nicht die erste Figur mit zweifelhafter Vergangenheit. Anstatt sie der Polizei zu übergeben, wäre es besser, ihr bringt sie her, und wir klären das auf unsere Weise.«
Das war eine Variante, an die ich noch gar nicht gedacht hatte. Wenn meine Figur im Untergrund verschwand, war sie genauso wenig in der Lage, vor Gericht auszusagen. Außerdem bliebe mir dann genug Zeit zu überlegen, wie ich sie möglicherweise in den Schwarzen Tempel bringen konnte.
Dass Estelle mit diesem Angebot nicht zufrieden war, konnte ich ihr ansehen, ich verstand nur nicht, warum. Ging es ihr um die Bestrafung? Gab es hier unten überhaupt so etwas wie Gesetze? Es musste immerhin Regeln für das Zusammenleben geben, sonst würde ja alles im Chaos versinken. Aber wer setzte diese Regeln durch? Oder steckte mehr dahinter? War das eine politische Sache, und Estelle dachte langfristig an die Öffnung des Untergrunds? Dann würde es schwierig werden, den Menschen dort oben zu erklären, dass man Mörder versteckt hatte.
Doch bevor ich etwas sagen konnte, ging die Tür auf, und eine weitere Figur betrat den Raum. Dass es kein Mensch war, sah man sofort: Der Junge besaß Katzenohren und einen langen buschigen Fuchsschwanz, mit dem er nach dem frei laufenden Vogel schlug, der hinter ihm herlief. Er flüsterte Ylvi etwas ins Ohr, und überrascht zog sie die Brauen nach oben. Einen Moment lang schien sie nicht genau zu wissen, was sie tun sollte, dann legte sie die Hände auf den übereinandergeschlagenen Knien ab.
»Ich glaube, dir wird nichts anderes übrig bleiben, als die Figur hierherzubringen. Wie es aussieht, gab es einen zweiten Mord, und diesmal lag die Mordwaffe neben dem Opfer. Mit Fingerabdrücken deiner Figur darauf.«
»Was?«
»Unser Kontakt bei der VdF hat es uns gerade mitgeteilt. Allerdings ist es noch nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Driessen hält den Deckel darauf, weil die Spurensicherung am Tatort noch nicht abgeschlossen ist. Außerdem wird gemunkelt, dass er eine größere Operation vorbereitet, aber mehr konnte unser Kontakt noch nicht dazu sagen.«
Für einen kurzen Moment empfand ich gar nichts. Jegliche Emotion war wie ausgelöscht, als könnte ich damit die Welt zum Stillstand zwingen. Für wenige glorreiche Sekunden hielt ich die Katastrophe auf und verspürte Frieden.
Doch dann blinzelte ich, und das Wissen um das Geschehene brach über mir herein. Ein brennendes Schuldgefühl raste mir durch die Glieder und breitete sich im Bruchteil einer Sekunde vom Magen explosionsartig in den ganzen Körper aus. »Wissen sie schon, wer es war?«, fragte ich krächzend.
»Offenbar ein Arzt. Michael Jones. Er wurde in seiner Garage erstochen. Mit einem Schraubendreher.«
Mir wurde schlagartig so schlecht, dass ich den Oberkörper nach vorn beugte und den Kopf zwischen die Knie nahm. »O Gott …«
Dieses Mal kannte ich das Opfer.
Fünfzehn Jahre war es her, dass ich ihn das letzte Mal gesehen hatte, aber das konnte kein Zufall sein. Der Name stimmte überein, und Michael hatte Arzt werden wollen wie seine Eltern. »Das träume ich …«
Die Erinnerungen an jenen Sommer mit Rosalie durchbrachen die letzte Barriere und ließen sich nicht mehr aufhalten. Sie rissen sämtliche Mauern ein, die ich in mir aufgebaut hatte, und ich konnte sie sofort wieder auf der Haut spüren, die Hitze dieser langen Tage. Der Geruch von Chlor und Sonnencreme stieg mir in die Nase; das Gleißen der Sonne auf dem türkisfarbenen Wasser blendete mich. Ich hörte Michaels Lachen und Seans klappernde Schuhsohlen, sah Kaders unbewegliche Maske vor mir und auch Rosalies langes Haar in der Nachmittagsbrise.
Folkvar kniete sich vor mich hin und legte mir die Hände auf die Knie. »Kate!«, rief er wieder und wieder, bis ich ihn blinzelnd anblickte. Was auch immer er in meinem Gesicht sah, ließ ihn zurückzucken.
Ylvi betrachtete mich eindringlich. »Es gibt Gerüchte, dass du untergetaucht seist, weil du dich noch nicht im Präsidium gemeldet hast.«
»So ein Quatsch, ich bin doch nicht untergetaucht.«
»Wenn die VdF versucht hat, dich zu erreichen, haben sie in den letzten Stunden hier unten kein Glück damit gehabt.«
Aber das war nebensächlich, es gab eine drängendere Frage. »Hat sie dir gesagt, warum sie diese Leute umbringt?«, fragte ich Ylvi. »Sie muss doch etwas gesagt haben! Etwas angedeutet haben!«
Langsam schüttelte sie den Kopf. Ihre Miene war unergründlich, während ich fieberhaft überlegte, was mein nächster Schritt sein sollte. »Wir müssen zurück nach oben!«, sagte ich zu Estelle und Folkvar. »Wir sind es völlig falsch angegangen.«
»Kennst du das Opfer?«, fragte Estelle.
Ich nickte und öffnete den Mund, doch die Worte wollten mir nicht über die Lippen kommen. Wie sollte ich etwas erklären, das so furchtbar war, dass ich fünfzehn Jahre darüber geschwiegen hatte?
Zweimal setzte ich an, bevor ich endlich hervorbrachte: »Wir haben uns als Jugendliche gekannt. Wir … wir haben einen Sommer lang im selben Freibad gearbeitet, während der Ferien.«
»Und seitdem hast du ihn nicht mehr gesehen?«
»Nein.«
Ich konnte ihr ansehen, dass sie skeptisch war und weitere Fragen hatte, aber dafür blieb keine Zeit. »Ich muss wissen, was es mit Damla Abbas auf sich hat, dem ersten Opfer«, stieß ich hervor. »Gibt es hier ein Telefon, das funktioniert?«
Ylvi schüttelte den Kopf. »Wir können dir keine Leitung anbieten, wenn wir nicht wissen, ob die andere Seite sicher ist.«
Ich sprang auf. »Wir müssen sofort zurück zu Jop.«
Aber als hätte sich alles gegen mich verschworen, ertönte auf einmal eine Sirene. Sie war so schrill, dass Estelle und ich uns die Hände auf die Ohren legten.
»Was zum Henker …«, murmelte ich, während Ylvi zur Tür hinausging, kurz darauf jedoch wieder hereinkam.
»Im Moment könnt ihr den Untergrund nicht verlassen«, sagte sie. »Nicht, solange die Magier die Türen verschlossen halten.«
»Wie bitte?«
Estelle deutete unbestimmt nach oben. »Das ist der Alarm, weil Unbefugte einer der geheimen Türen zu nah gekommen sind.«
Ylvi nickte. »Es ist einer von Driessens Bluthunden. Er hat sich der Tür im alten Stahlwerk genähert.«
»Magier?«, erwiderte ich viel zu spät, und alle drei sahen mich an, als wüssten sie nicht, wo mein Problem liege. »Sagtest du gerade, Magier bewachen die Türen?«
»Natürlich. Wie hätte der Untergrund sonst so lange unentdeckt bleiben können?«
Estelle tätschelte mir den Arm. »Ich habe es dir doch gesagt: Zauberei.«
»Warum gehen die Magier dann nicht einfach nach oben und verzaubern die Leute in Kapitolo, damit ihr an die Oberfläche könnt?«
»Weil sie es nicht dürfen«, antwortete Ylvi gelangweilt, als wäre es eine alte Diskussion – und vielleicht war sie das für sie auch. »Sie wären ein leichtes Ziel, immerhin haben sie alle ihre Kryptonit-Eigenschaft. Nein, sie sind die Einzigen, die den Untergrund niemals verlassen dürfen.«
Mir war es schleierhaft, wie dieses Geheimnis so lange bewahrt werden konnte. Über all diese Jahrzehnte, es war unfassbar.
»Es gibt Überlegungen, die Dinge zu ändern«, erklärte Estelle. »Niemand möchte ewig im Dunkeln leben und …«
»Niemand möchte sich täglich einer Gefahr aussetzen«, fuhr ihr Ylvi ins Wort. »Hier unten ist es sicher für die Figuren. Oben werden sie nur zur Zielscheibe.«
»Ein schleichender Tod endet auch in Zerstörung.«
Ich sah Estelle an, dass sie kurz davor war, laut zu werden. Ausgerechnet sie. Die Luft zwischen den beiden lud sich auf wie die Luft vor einem Gewitter.
Aber das war nicht meine Angelegenheit, die Politik dieses Orts ging mich nichts an. Ich hatte dringendere Probleme, schließlich musste ich zuerst meine Figur finden.
»Ich muss mit einem dieser Magier sprechen. Einer von ihnen wird doch sicher eine Glaskugel besitzen.«
»Wozu brauchst du eine Glaskugel?«, fragte Folkvar irritiert.
»Vielleicht nicht unbedingt eine Glaskugel, aber irgendetwas, mit dem man jemanden beobachten kann. Einen Spiegel vielleicht? Ein Wasserbecken? Oder vielleicht können sie noch irgendetwas anderes tun … irgendeinen Zauber wirken, was weiß ich. Kommt doch drauf an, aus welchen Büchern die Zauberer sind und wann die geschrieben wurden. In den aktuelleren Büchern haben sie vielleicht keine Spiegel mehr, sondern Tablets. Sie müssen mir helfen, die Figur aufzuspüren.«
Ylvi hob die Hand. »Die Magier sind sehr zurückhaltend.«
»Was soll das heißen?«
»Sie zeigen sich nicht.«
»Sind sie Einsiedler?«
»Könnte man so sagen.«
Für mich klang das eher nach Gefangenen, wenn sie nicht rausdurften, aber auch diese Diskussion musste warten. »Wie lange werden die geheimen Türen versperrt sein?«
»Ein paar Stunden.«
Entsetzt fuhr ich auf. »Stunden? Aber die habe ich nicht! Driessen wird versuchen, mich aufzuspüren. Wenn ich bis morgen nicht auftauche, werden sie offiziell nach mir fahnden, und dann wird man denken, ich sei abgehauen, weil ich etwas zu verbergen habe.«
»Willst du dich stellen?«, fragte Estelle überrascht.
»Wofür denn? Ich kann hier nicht sitzen bleiben, während sich dort oben mein Leben auflöst und die Figur vielleicht noch mehr Menschen tötet. Ich meine, wer sagt uns denn, dass sie nicht schon das nächste Opfer im Visier hat? Wir müssen doch etwas dagegen tun!«
Ylvi betrachtete mich neugierig. »Ich fürchte, dir wird nichts anderes übrig bleiben«, sagte sie. »Mein Diener wird euch zur Bar bringen. Dort könnt ihr etwas essen und trinken und warten, bis die Sperre wieder aufgehoben wird.«
»Nein, ich …« Aber ich kam nicht weiter, denn Estelle stand auf und fiel mir ins Wort.
»Das werden wir machen«, sagte sie und legte mir die Hand auf die Schulter.
Fragend blickte ich zu ihr auf. Sie drückte mir leicht die Schulter, und widerwillig folgte ich der stummen Aufforderung und erhob mich ebenfalls, obwohl ich den Frust über die Entwicklung der Ereignisse kaum verbergen konnte.
Damit war die Audienz vorbei. Ylvis Gesicht glich einer Maske, und Estelle schob mich hastig aus dem Raum, bevor ich auch nur eine weitere Frage stellen konnte. Selbst eine Verabschiedung erfolgte nicht. Stattdessen bedeutete sie mir, ruhig zu bleiben und einfach dem Jungen mit den Katzenohren zu folgen.
»Vertrau mir«, flüsterte sie mir zu, »eine Diskussion bringt gar nichts.«
Das Gefühl, in eine Traumlandschaft geraten zu sein, verstärkte sich. In mir tobte ein Chaos an Emotionen, sodass ich keine mehr richtig identifizieren konnte. Nur meinen rasenden Herzschlag spürte ich überdeutlich.
Der Junge führte uns durch das Haus, das weit in den Felsen hineinreichen musste. In den Gängen waren viele Figuren und auch Menschen unterwegs. Manche von ihnen trugen Bücher in den Händen, andere nur Papierstapel unter dem Arm. Einigen konnte man ansehen, dass sie geweint hatten, andere wiederum stritten lauthals miteinander. Eine Figur warf ihrer Autorin einen fetten Rotstift an den Kopf, woraufhin diese damit drohte, deren Katze von einem Laster überfahren zu lassen. Daraufhin wurde die Wache gerufen, da es offenbar strengstens verboten war, Figuren unter Druck zu setzen. Wir sahen auch Umarmungen und hörten Gelächter. Und immer wieder das Tippen auf Tastaturen.
Wieder einmal ging es die teppichbesetzten Treppen und Gänge hinauf und hinunter, bis ich erneut die Orientierung verloren hatte. Die schlichte Bezeichnung Haus wurde diesem Ort nicht gerecht, es war ein Palast, dessen Treppenaufgänge mit den aus dem Felsen herausgehauenen Stufen und geschwungenen Handläufen den architektonischen Kunstwerken Gaudís glichen.
Unser Ziel war ein großer Raum, der eine Bar im Art-déco-Stil beherbergte. Es gab eine kleine Bühne, auf der jedoch im Moment niemand spielte. Hinter einem glänzenden Tresen erhob sich ein grün ausgeleuchtetes, verspiegeltes Regal, in dem Dutzende Flaschen mit alkoholischen Getränken standen. An der Decke hingen zwei große Kronleuchter, und auf den Tischen standen kleine Lampen mit roten Schirmen. Es roch schwach nach Blumen, und aus verborgenen Lautsprechern drang leise Jazz aus der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts.
Der Junge, der uns geführt hatte, deutete auf die Bar, während die Spitzen seiner Ohren zuckten. »Bitte warten Sie hier, die Getränke übernimmt das Haus. Sie können so lange bleiben, wie Sie möchten.«
»Wir wollen aber gar nicht bleiben«, erwiderte ich trotzig.
Er lächelte, ohne dass das Lächeln die Augen erreichte. »Ich fürchte, das lässt sich nicht vermeiden.« Mehr sagte er nicht. Stattdessen lächelte er noch einmal und blieb in der Tür stehen.
Wieder schob mich Estelle weiter, diesmal in Richtung der Tische. »Wenn Ylvi nicht will, dass wir gehen, werden die Wachen am Eingang uns nicht hinauslassen. Glaub bitte nicht, dass sie dir und deiner Figur aus reinster Herzensgüte Hilfe anbietet. Irgendetwas verspricht sie sich von dieser ganzen Sache.«
Folkvar hob die Hand. »Ich brauche mein Schwert zurück.«
»Dein Schwert wird dir gegen halbautomatische Waffen wenig helfen.«
An seinem Blick konnte ich erkennen, dass er nicht richtig verstand, worauf sie hinauswollte. Kein Wunder, mit dieser Art von Waffen hatte er keine Erfahrung.
»Wir müssen einen Weg finden, hier wegzukommen. Erst aus diesem Haus und dann aus dem Untergrund«, sagte ich entschlossen. »So schnell wie möglich.«
Estelle zog mich tiefer in den Raum. »Wir sollten uns kurz setzen. Zumindest so lange, bis der Kerl da«, sie deutete mit dem Daumen zur Tür, »sich eine andere Beschäftigung sucht.«
Widerwillig folgte ich ihr, wir setzten uns an einen Tisch an der Wand auf lederbezogene Sofas und bestellten bei einer jungen Dame, die offenbar ein Mensch war, Wasser. Für das, was vor uns lag, brauchten wir einen klaren Kopf. Als die Bedienung die Getränke brachte, stellte sie außerdem eine Schüssel mit Nüssen auf den Tisch, deren Inhalt Folkvar in wenigen Augenblicken verschlang. Die Bar war gut besucht, aber noch nicht überfüllt. Offenbar nutzten sie viele Gäste dieses Hauses, um die Ausgangssperre zu überbrücken. Wieder konnte ich hautnah beobachten, wie Menschen mit Figuren sprachen, lachten und sich gegenseitig berührten, als wäre es das Normalste auf der Welt.
Damals wusste ich noch nicht, wie häufig die Sirene es den Bewohnern des Untergrunds unmöglich machte, ihn zu verlassen oder zu betreten. Aber eines wurde mir sehr schnell klar: Sie reagierten gelassen darauf. Es war nichts, dem sie größere Beachtung schenkten, eher ein unbequemes Ärgernis. Sie verließen sich auf die Sicherheitsmaßnahmen und vertrauten der Macht der Magier. Vermutlich hatten Hickman und Weis ihnen einen großen Dienst erwiesen.
Eine Figur fiel mir jedoch auf, sie saß nur wenige Tische von uns entfernt. Es war ein großer hagerer Mann, doch das war gar nicht das Erstaunliche an ihm. Ihn umgab eine erdrückende Aura der Traurigkeit, die beinahe in Wellen von ihm abzustrahlen schien. In den Händen drehte er einen Bierkrug, sein Blick war auf die Tischplatte gerichtet, doch ob er irgendetwas davon sah, schien unwahrscheinlich. Er wirkte tief in Gedanken versunken.
»Das ist eine verwaiste Figur«, sagte Estelle, die meinen fragenden Blick bemerkte. »Ihr Autor ist tot.«
»Wie bei Ylvi?«
»Nein. Sicher nicht wie bei Ylvi.« Sie seufzte, während sie den Mann beobachtete. »Manche Figuren nehmen die Erkenntnis, dass ihre Autoren bereits verstorben sind, wenn sie nach Kapitolo kommen, nicht gut auf. Wir nennen sie die verwaisten Figuren. Manchmal drückt sich die mit dieser Erkenntnis einhergehende Orientierungslosigkeit auf diese Weise aus, die du dort drüben siehst.«
»Aber was macht er dann hier? Ich meine, in Ylvis Haus, wenn er keinen Autor mehr hat?«
»Er sucht einen neuen. Es gibt Autoren, die sich der verwaisten Figuren anderer Autoren annehmen und deren Geschichte korrigieren. Aber das ist kein Thema, über das gern geredet wird.«
Ich wollte gerade etwas dazu sagen, als ein kleiner Mann in einem hellen Anzug und Seidenhemd an unseren Tisch trat. Auf seiner Schulter saß eine Figur, die man im ersten Moment für eine Art Fee halten konnte, denn sie besaß Flügel, und ein leuchtender Schimmer umgab sie. Irritiert stellte ich fest, dass sie große Ähnlichkeit mit Betty Boop besaß. Allerdings zeigte sie beim Lächeln winzige spitze Zähne und eine dünne lange Zunge, ähnlich der einer Schlange. Dafür, dass sie so winzig war, war sie sehr üppig ausgestattet. Ihren Bewegungen haftete etwas Anzügliches an, und ihr Anblick bereitete mir auf eine unbestimmte Art Unbehagen, da offensichtlich war, für welchen Zweck sie geschrieben worden war.
Der Mann schob sich einen Stuhl an unseren Tisch und setzte sich unaufgefordert hin. Er besaß ein attraktives Gesicht und ein charmantes Lächeln, und es dauerte nur einen kurzen Moment, bis ich erkannte, wer er war.
»Oliver Tognazzi«, entfuhr es mir überrascht.
Er legte die Hand auf die Brust und deutete im Sitzen eine Verbeugung an. »Es ist mir ein Vergnügen.«
Von allen Kollegen, die ich hier unten erwartet hätte, war er der Letzte, an den ich gedacht hätte. Während seiner Karriere hatte er so oft Ärger mit der VdF gehabt, dass es mir unmöglich schien, ein solches Risiko einzugehen, sich mit dem Untergrund einzulassen. Allerdings hatte ich auch nicht erwartet, ihn mit einer Figur zu sehen wie die, die sich auf seiner Schulter rekelte – für die Bewohner von Kapitolo mochte Tognazzi ein sympathisch-kauziger Kinderbuchautor sein, doch wer war er für die Leute hier unten?
Estelle schnaubte, und er wandte sich mit einem breiten Lächeln an sie.
»Wir haben dich lange nicht mehr gesehen«, sagte er.
»Ich hatte zu tun.«
»Ja, das Zeitungsgeschäft ist stressig.« Es klang herablassend.
»Du hast nicht gesagt, dass du ihn persönlich kennst«, sagte ich spitz und sah Estelle mit hochgezogenen Brauen an.
Sie winkte nur ab. »Was heißt schon kennen?«
»Man kommt sich eben näher, wenn man dieselben Ziele hat«, sagte er, doch davon wollte sie nichts hören.
»Wir haben sicher nicht dieselben Ziele.«
Er wandte sich an mich. »Frau Kollegin, es ist mir eine Freude, Sie hier zu sehen.«
Ich fand seine geschwollene Rede albern, auch dass er so tat, als würden wir uns kennen. Ich bildete mir nicht ein, dass er vor dieser ganzen Geschichte schon einmal von mir gehört oder gar etwas von mir gelesen hatte. Wir verkehrten nicht in denselben Erfolgskreisen .
»Man hört so einiges von Ihnen, Sie produzieren einen hübschen kleinen Skandal«, sagte er lächelnd. »Ich habe ja schon oft mit der VdF zu tun gehabt, und wenn man weiß, wie man mit ihnen umgehen muss …« Er klatschte in die Hände. »Ein Kinderspiel. Sie werden sehen, dass sich das alles wunderbar auf die Verkäufe auswirkt.«
Offenbar hatte er von dem zweiten Mord noch nichts gehört, sonst hätte er die Lage möglicherweise anders eingeschätzt.
Während er sprach, verfinsterte sich Estelles Gesichtsausdruck, aber das schien er nicht zu bemerken. Ich bekam den Eindruck, dass er sich gern reden hörte und lediglich ein Publikum gesucht hatte. Doch was tat er hier unten? Vor allem bei Ylvi? War auch Tognazzi gegen eine Öffnung des Untergrunds? Wenn sich an der Oberfläche herumsprach, dass er von den verborgenen Figuren in Kapitolo wusste, hatte er einiges zu verlieren. »Ist das eine von Ihren Figuren?«, fragte ich mitten in seine Ausführungen hinein und deutete auf die Fee auf seiner Schulter.
Tognazzi lachte. »Denkt man nicht, was?«
Nein, sicherlich nicht. Er wirkte ganz anders als in den Interviews, die ich von ihm gesehen hatte. Der Charme eines Schlitzohrs verlor sich im Ego eines Mannes, der sehr genau wusste, was er tat und wollte.
»Aus welchem Buch stammt sie?«
»Aus keinem.«
»Sie ist aus einem unveröffentlichten Text?«, fragte ich verblüfft.
Sein Grinsen und das seiner Figur wurden breiter, und mir kam ein unglaublicher Gedanke, den ich kaum auszusprechen wagte. »Können Sie … Figuren bewusst in die Wirklichkeit schreiben?«
Neben mir schnaubte Estelle genervt, und ich war genau das gefesselte Publikum, das sich Tognazzi wünschte – so ungern ich es heute zugebe.
»Ganz so einfach funktioniert das leider nicht«, antwortete er lächelnd. »Zu meinem größten Bedauern.«
»Da bin ich mir sicher«, warf Estelle bissig ein.
»Wie funktioniert es denn?«, wollte ich wissen.
»Das ist das Geheimnis, nicht wahr?«
Sosehr mich sein Verhalten auch irritierte, ich musste erfahren, ob er mehr über den Übergang wusste, als er zugab. Also versuchte ich es mit einem der ältesten Tricks, die es gab, weil er dafür anfällig schien: Ich streichelte sein Ego.
Lächelnd fuhr ich mir über die Lippen und beugte mich nach vorn. Es war nicht einfach, in Jeans und Pullover verführerisch zu wirken, aber jahrelanges Flirten mit Lesern und Buchhändlern bei Signieraktionen hatte mich einiges gelehrt. Allerdings hatte das auch mehr Spaß gemacht. »Ich würde dieses Geheimnis gern kennen«, flüsterte ich.
»Sicher, wer nicht?«
Ich wartete.
Er lächelte.
Estelle verschränkte die Arme, und Folkvar ballte wieder einmal die Hand zur Faust.
»Niemand kann Figuren mit Sicherheit in die Wirklichkeit schreiben …«, begann Tognazzi.
»Aber?«
»Aber … bei manchen liegt die Quote höher.«
Ich strich mir eine Strähne hinters Ohr. »Weil?«
»Weil die Bedingungen stimmen.« Zufrieden lehnte er sich zurück, und ich legte die Hand über die Brust.
»Die da wären?«, säuselte ich. Himmel, wenn das so weiterging, hatte ich graue Haare, bevor ich irgendetwas aus ihm herausbrachte.
»Ich weiß, welche meiner Figuren gute Chancen haben überzutreten«, gab er schließlich zu. »Und eben welche eher nicht. Es ist«, er machte eine dramatische Pause, »eine Frage der Kommunikation.«
»Wie eine Beschwörung?«
Er lachte. »Eher wie der Wunsch, in Kontakt zu treten.«
Diese Aussage verblüffte mich. Ich hatte nie den Wunsch verspürt, eine meiner Figuren zu treffen, da war ich mir ziemlich sicher. Und schon gar nicht eine, die dazu fähig war, Leute umzubringen. Das konnte ich nicht glauben!
Er musste mir meine Skepsis ansehen, denn er fügte hinzu: »Ich sagte ja, es ist kompliziert. Aber das sind die besten Sachen im Leben, nicht wahr? Vielleicht ist Wunsch auch das falsche Wort. Man bekommt nicht immer, was man sich wünscht, nicht wahr? Im besten Falle bekommt man das, was man braucht.« Plötzlich sah er mich eindringlich an, als warte er darauf, dass ich etwas begriff. Aber natürlich verstand ich nicht, was er mir zu sagen versuchte. Da lächelte er wieder breit. »Wenn Sie meine persönliche Meinung hören wollen, dann sollte man Autoren diesen Kontakt auch nicht verwehren.« Er streichelte die Fee auf seiner Schulter, und ich hätte mich bei diesem Anblick beinahe geschüttelt.
»Interessante Ansicht«, fuhr Estelle dazwischen. »Soweit ich weiß, gilt deine Meinung nicht für Autoren dort oben, nicht wahr?«
Für eine Sekunde verlor sich das Lächeln, bevor sich Tognazzi zusammenriss. Nachsichtig blickte er Estelle an. »Du kennst meine Meinung zu deiner Forderung, den Untergrund zu öffnen. Die Welt ist noch nicht so weit. Du kannst nicht ernsthaft glauben, dass wir nicht alle in Gefahr wären, wenn die Welt von uns wüsste.«
Verärgert schüttelte Estelle den Kopf. »Dir geht es doch nicht um die Sicherheit, nur darum, deinen Spielplatz nicht zu verlieren.« Verächtlich deutete sie auf die Fee. »Das ist auch der Grund, warum du dich so blendend mit Ylvi verstehst. Euretwegen kann das alles noch bis in alle Ewigkeit so weiterlaufen.«
Aber Tognazzi ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »Das ist vielleicht nicht der richtige Zeitpunkt, um diese Diskussion zu führen. Ich könnte mir vorstellen, dass es dringendere Probleme gibt, deretwegen ihr hier seid.« Bedeutungsschwanger sah er mich an, und als ich nicht antwortete, fuhr er fort: »Sie sind sicher auf der Suche nach Ihrer Figur, sonst wären Sie nicht im Untergrund, das ist offensichtlich. Wir wollen nicht um den heißen Brei herumreden, ja? Natürlich wissen die aufmerksameren Bewohner dieser Ebene, wer Sie sind und was gerade dort oben passiert. Ich möchte Ihnen also helfen, die Suche nach Ihrer Figur fortzusetzen.« Wieder lächelte er mich breit an.
»Warum sollten Sie mir helfen wollen?«
Vertraulich legte er mir die Hand auf den Arm. »Weil wir Kollegen sind, selbstverständlich.«
Langsam entzog ich ihm den Arm. Ich glaubte keine Sekunde lang an diese plötzliche Nächstenliebe, genauso wenig wie bei Ylvi. »Und was wollen Sie dafür?«
»Wollen? Gar nichts. Außer vielleicht … Informationen.«
»Welche Informationen?«
»Über Ihre Figur.«
Irritiert runzelte ich die Stirn. »Wozu benötigen Sie Informationen über meine Figur?«
Sein Lächeln vertiefte sich noch. »Sagen wir einfach, ich weiß gern Bescheid. Und das Auftauchen einer Figur im Untergrund, die sich so bedeckt hält«, er lachte über das eigene Wortspiel, »sorgt eben für Neugier.«
»Sie wollen Ihre Neugier befriedigen?« Seine Begründung verblüffte mich.
»Aber ja. Ich bin ein sehr neugieriger Mensch. Wahrscheinlich ist meine Neugier sogar noch stärker als meine Genusssucht. Außerdem ist es hier unten äußerst wichtig, auf dem Laufenden zu bleiben. Was die Vergnügungen betrifft genauso wie … alles andere.«
»Alles andere?«, wiederholte ich. »Und dafür riskieren Sie auch, sich mir zu erkennen zu geben. Haben Sie keine Angst, dass ich Sie an die VdF verpfeife?«
Er lachte laut. »Nein, nicht besonders, um ehrlich zu sein. Da verlasse ich mich ganz darauf, dass Sie weitaus mehr zu verlieren hätten als ich, wenn unser kleines Geheimnis auffliegt, meine Liebe. Außerdem gibt es möglicherweise bald schwerwiegendere Probleme als Driessen und seine elendige Suche nach einem … Eingang.«
Wieder schnaubte Estelle ungehalten. »Er versucht nur, dich zu verwirren, Kate. Ignorier ihn einfach.«
Er lächelte sie übertrieben breit an. Trotzdem erstaunte mich sein Verhalten, es mussten ihn doch schon viele Leute vor mir erkannt haben. Möglicherweise verließ er sich darauf, dass sie genau wie er kein Interesse daran hatten, mit der VdF zu reden. Da wir aber jede Hilfe brauchten, die wir kriegen konnten, nickte ich schließlich und versprach ihm Informationen über meine Figur, von denen ich gar nicht wusste, wie sie aussehen würden. Dabei kam ich mir ein bisschen vor wie die Leute in Märchen, die dem Teufel ihre erstgeborenen Kinder versprachen.
Zufrieden klatschte er in die Hände. »Wie schön, dass wir uns einig sind. Gehe ich recht in der Annahme, dass ihr«, jetzt sah er wieder Estelle an, »gern so schnell wie möglich Ylvis Gastfreundschaft verlassen möchtet?«
»Kennst du noch andere Ausgänge aus dem Haus als die große Eingangstür, durch die wir gekommen sind?«, fragte sie brüsk.
»Es gibt einen Speiseaufzug, der Essensreste aus der Küche in eine tiefere Ebene bringt. Dort gibt es einen Wächter, der die Lebensmittel an Figuren verteilt, die sich im Moment nicht, sagen wir mal, einfügen wollen in die Gesellschaft des Untergrunds.«
Folkvar beugte sich vor. »Den Wächter könnte ich ausschalten, er rechnet sicher nicht damit, dass jemand auf diese Weise das Haus verlässt. Aber wie komme ich an mein Schwert?«
Amüsiert wackelte Tognazzi mit dem Kopf, während ihm die Fee den Hals leckte. Es war ein bizarrer Anblick. »Im Moment gibt es keine Möglichkeit, es zu holen. Ich kann es später an mich nehmen und bei passender Gelegenheit zurückgeben, aber wenn ihr jetzt gehen wollt, müsst ihr es auch ohne Umwege jetzt tun.«
Bedauernd nickte Folkvar, und ich drückte ihm die Schulter. Das Schwert war kein Erbstück seines Vaters oder dergleichen, aber er besaß es schon lange, und es hatte ihm treue Dienste erwiesen.
»Die Küche ist am Ende des Gangs, natürlich in der Nähe der Bar. Zu dieser Zeit arbeiten dort drei Leute. Niemand, der für einen erfahrenen Krieger wie dich ein Problem darstellen dürfte. Mit oder ohne Schwert.« Tognazzi lehnte sich zurück. »Na schön, ich wünsche viel Glück und hoffe, dass wir uns bald unter glücklicheren Umständen wiedersehen.« Ein letztes Mal lächelte er mich an. »Zögern Sie nicht, mich anzusprechen, wenn wir uns an der Oberfläche wiedersehen. Wir werden einfach erzählen, wir hätten in einem Restaurant Bekanntschaft geschlossen. Wie wäre es mit dem Aus Fenstern steigen und verschwinden ?« Er lachte über seinen eigenen Witz.
»In Ordnung«, sagte ich, dann erhob ich mich ebenso wie Estelle und Folkvar.
Als sie schon halb um den Tisch herum war, wandte sich Tognazzi noch einmal an Estelle. »Lass dich bald mal wieder hier unten sehen, es ist mir immer ein Vergnügen, mit dir zu plaudern.«
Sie ersparte sich eine Antwort, warf ihm nur einen genervten Blick zu. Erst als wir außer Hörweite waren, sagte sie: »So eine Laus.« Womit sie vermutlich recht hatte.
Während wir dem Ausgang entgegengingen, fragte ich: »Wäre es nicht möglich, dass er ein Spion für die VdF ist?«, aber Estelle schnaubte nur.
»Dann hätten sie den Untergrund längst infiltriert und ausgeschaltet. Nein, ich fürchte, dieser Kerl ist genau das, was du gesehen hast. Ein Blender mit einem Ego so groß wie ein Stadion.«
»Ein Blender, der sich Figuren nach Kapitolo schreibt«, erwiderte ich nachdenklich. »Wie viele Autoren können das von sich behaupten?«
»Nicht so viele, wie du jetzt offenbar annimmst, aber zugegeben: Er ist nicht der Einzige.«
»Wie kann es sein, dass das niemand weiß?« Es schien mir immer noch unglaublich, doch Estelle betrachtete mich amüsiert.
»Aber es wissen doch Leute, Kate. Oder was glaubst du, warum Driessen so erpicht darauf ist, die Figuren in die Finger zu bekommen und ihre Autoren kaltzustellen?« Sie hob die Hände. »Es steckt so viel mehr dahinter, meine Liebe, so viel mehr.«
Ich wusste nicht, was ich dazu sagen sollte. Ich kam mir unglaublich naiv und dumm vor. Damals vor fünfzehn Jahren hätte ich weiter recherchieren sollen, stattdessen hatte ich mich dazu entschlossen zu ignorieren, was mir widerfahren war. Ich hätte wissen müssen, dass mich diese Geschehnisse irgendwann einholen.
»Ich muss hier raus«, flüsterte ich eindringlich. Dieser Ort, der mir noch vor Kurzem märchenhaft und fantastisch erschienen war, machte mich nun nur noch nervös. »Gibt es wirklich keine Möglichkeit, den Untergrund zu verlassen, wenn die Magier«, ich räusperte mich, »die Türen versiegeln?« Es fiel mir immer noch schwer, das Wort auszusprechen, weil es mir schwerfiel, mir vorzustellen, dass solche Figuren tatsächlich in Kapitolo existierten. Es war ein Paradoxon; obwohl wir in Kapitolo jeden Tag die Magie der Figuren durch ihren Übertritt sahen oder davon hörten, fiel es uns schwer, uns vorzustellen, dass Magie auch noch in anderer Form auftreten konnte. Frei nach dem Motto: Es kann nicht sein, was nicht sein darf.
»Na ja, so oft habe ich noch nicht erlebt, dass der Alarm ausgelöst wurde«, sagte Estelle. »Aber ich kenne da eventuell jemanden, der uns helfen kann, an die Oberfläche zu gelangen. Abseits der bekannteren Wege.«
»Was ist mit dir?«, fragte ich Folkvar. »Du könntest hierbleiben. Dort oben läufst du nur Gefahr, dass die VdF dich aufgreift. Ylvi hat gesagt, sie könnten dich zurückbringen.«
Er grinste schief. »Was soll schon passieren? Wenn sie mich zurückschicken, passiert doch genau das, was ich will. Meine Hulda würde mir schön die Hölle heißmachen, wenn sie erfahren würde, dass ich dich allein gelassen hätte.«
Ich war mir nicht sicher, ob das die klügste Entscheidung war, immerhin wusste ich durch Hensen, wie triggerfreudig Driessen und seine Leute waren. Wenn er Folkvar hier bei uns erschoss, dann war es das – selbst für einen Helden wie ihn. Trotzdem war ich froh, dass er an unserer Seite blieb.
Wir verließen die Bar, und niemand hielt uns auf. Wenn Ylvi uns beobachten ließ, ging sie offenbar davon aus, dass die Wächter an der Eingangstür ausreichten, um uns am Fortgehen zu hindern.
»Na schön«, sagte ich, als wir den Gang zur Küche betraten. »Wir brechen aus!«