M isstrauisch blickte ich über die Schulter. Ich begann schon wieder zu schwitzen und war mir inzwischen ziemlich sicher, dass ich mich wirklich nicht zur Heldin eignete. Doch wie kam man aus einem Abenteuer wieder heraus, wenn man erst einmal hineingeraten war? Ich konnte mich ja schlecht hinstellen und sagen: »Danke, mir reicht’s jetzt! Ab morgen gibt’s wieder zu spät aufstehen und zu viel Kaffee, und niemand erwähnt mehr diese Sache mit den Figuren, okay?«
»Ylvi wird nicht damit rechnen, dass wir zu flüchten versuchen«, sagte Estelle, die deutlich besser zur Heldin taugte.
War ich etwa der Sidekick in meiner eigenen Geschichte?
»Und wenn sie es merkt, wird sie uns dann durch den Untergrund folgen?«
»Kann schon sein. Zur Freundin machst du sie dir dadurch jedenfalls nicht. Aber glaub mir, es gibt Schlimmeres, und ich bin nicht so weit in meinem Leben gekommen, um mich jetzt von ihr einsperren zu lassen!«
Auch Folkvar schaute sich konzentriert um und versuchte, die Gefahr für uns einzuschätzen. Der Gang war genauso dämmrig wie alle Flure hier unten. Von weiter oben und aus Richtung der Bar hörten wir Stimmengewirr und Musik, aber es war niemand zu sehen, und es hielt uns niemand auf, bis wir den Eingang zur Küche erreichten.
Durch das Bullauge in der Tür erkannten wir zwei trollähnliche Figuren und eine Gestalt, die vermutlich ein Mensch war. Es roch nach Braten und karamellisiertem Zucker. Mehrere Edelstahltöpfe und eine große Pfanne standen auf alten Industrieherden. Alles sah gebraucht aus, die Tische, technischen Geräte und Küchenutensilien, doch die Küche wirkte insgesamt sauber.
»Sollen wir einfach so hineingehen?«, flüsterte ich, und Folkvar nickte.
Da er sich mit Auseinandersetzungen am besten von uns auskannte, taten wir, was er vorschlug.
Wir traten ein, und mit einem hörbaren Klick schloss er hinter uns die Tür. Daraufhin hielten die drei in ihrer Arbeit inne und wandten sich uns zu. Alle hielten Messer in Händen, die sie gerade noch dazu benutzt hatten, Früchte und Brot zu schneiden. Doch jetzt sahen sie aus, als wären es Allzweckmesser, die man auch gut verwenden konnte, um jemanden daran zu hindern, das Haus zu verlassen. Die Trolle waren nicht viel größer als wir, aber um ein gutes Stück breiter.
Beschwichtigend hob ich die Hände. »Das wird nicht nötig sein. Wir möchten einfach nur dieses Etablissement verlassen.« Ich machte einen Schritt auf sie zu. Der Aufzug befand sich am Ende der Küche hinter den Arbeitstischen.
Sie hoben die Messer noch ein Stück höher, und ich blieb wieder stehen. Einer der Trolle knirschte mit den Zähnen, der andere grinste.
»Das ist doch albern«, erwiderte Folkvar, »wir sind nicht zum Verzehr geeignet.«
»Und unsere Küche nicht zum Durchqueren«, brummte der Mensch.
»Außerdem«, fügte der grinsende Troll hinzu und leckte sich über die Lippen, »sehen die Frauen da schon lecker aus.«
Innerlich stöhnte ich auf. Wer hatte den Kerl nur so geschrieben?
»Nicht so lecker, wie das riecht.« Folkvar nickte lächelnd in Richtung der Töpfe und trat einen Schritt hinüber. »Was ist das für ein Gewürz?«
»Ist nicht nur eins«, antwortete der Mann überrumpelt.
»Raus hier!«, drängte der knirschende Troll, während der zweite Estelle und mich weiter grinsend anstarrte.
»Riecht ein wenig säuerlich«, fuhr Folkvar ungerührt fort und hängte die Nase über den Topf. »Und so intensiv. Da wird einem ja schwummrig von.« Er taumelte. »Wie Gift!«
»Gift?«, echote der Mann verwirrt.
»He, großer Bursche!«, blaffte der erste Troll. »Kipp jetzt bloß nicht um. Das kann ich in meiner Küche nicht gebrauchen.«
»Ich doch nicht«, sagte Folkvar, riss mit einer Hand die Pfanne vom Herd und stieß mit der anderen den großen Topf um, sodass kochendes Wasser über den Boden schwappte und überall Nudeln herumflutschten. Er klatschte den Inhalt der Pfanne gegen die Wand, dann wirbelte er sie weiter durch die Luft und drosch sie dem ersten Troll gegen die Schläfe, sodass der das Messer fallen ließ und in die Knie sackte. Danach schleuderte er die Pfanne dem Menschen gegen die Brust, der hart getroffen aufstöhnte und auf dem glitschigen Boden ausrutschte. Im selben Augenblick packte er den leeren Topf, stülpte ihn dem zweiten, völlig überrumpelten Troll über den Kopf, griff sich eine große tropfende Kelle und schlug mit ihr auf den Topf, dass es laut schepperte.
Stöhnend riss der Troll die Arme hoch und presste sie von außen gegen den Topf, wo seine Ohren sein mussten. Folkvar trommelte noch zweimal auf das Metall, dann warf er Estelle die Kelle zu und rief: »Mach weiter!«
Schneller, als ich es mir vorstellen konnte, sprang Folkvar an die Wand, riss ein Geschirrtuch vom Haken und sprang rückwärts ab, drehte sich im Sprung und hechtete so direkt auf den Mann zu, der sich von seiner Verblüffung erholt hatte und den Mund aufriss, um nach Hilfe zu schreien. Bevor er jedoch einen Ton herausbrachte, hatte Folkvar ihm das Geschirrtuch zwischen die Zähne gestopft und schickte ihn mit einem gezielten Faustschlag gegen die Schläfe in die Bewusstlosigkeit.
Diese Fähigkeit hatte ich ihm zwar zugeschrieben, sie in Aktion zu sehen, erstaunte mich trotzdem. Die Trolle waren bewusstlos.
»Haben empfindliche Gleichgewichtssinne«, erklärte Folkvar lächelnd. »Ist jedes Mal so. Hat was mit ihrer Größe und der Form ihrer Ohren zu tun oder so.« Er nahm Estelle die Kelle wieder aus der Hand und legte sie zurück. An mich gewandt, sagte er: »Schaltest du bitte die Platten aus? Es muss ja nichts anbrennen, nur weil die Köche schlafen.«
Leicht verdattert nickte ich und tat wie geheißen.
»Danke.« Zufrieden durchsuchte Folkvar derweil die Schubladen, bis er Faden für Fleischrouladen fand. »Da«, sagte er und drückte mir den Faden in die Hand. »Du musst ihnen nicht das Blut abschnüren. Das ist nur, damit wir es hier rausschaffen, ohne dass sie aufspringen, um Alarm zu schlagen.«
Ich nickte und fesselte das erste Mal in meinem Leben jemanden an einen Stuhl, während Estelle die Küchentür verbarrikadierte. Zum Glück hatte ich das einmal für einen Roman recherchiert, sodass ich mein theoretisches Wissen endlich auch einmal in der Praxis anwenden konnte. Es war eines dieser Themen, das jeder Autor einmal in seinem Leben recherchierte: Knoten binden.
»Beeindruckend«, sagte Folkvar, als ich fertig war.
»Wenn du wüsstest, was ich alles übers Schafescheren weiß …«
Folkvar kletterte als Erster in den Lastenaufzug. Er passte kaum hinein und musste die Beine anziehen und sich umständlich zusammenfalten. In der Hand hielt er einen Fleischklopfer. Ich mochte mir nicht so richtig vorstellen, was er damit anstellen würde.
»Bis gleich«, sagte er, und ich drückte mit hämmerndem Herzen auf den Knopf neben dem Aufzug, der ihn summend in Bewegung setzte.
Als wir in den Schacht sahen, konnten wir nur für einen kurzen Moment das Dach des Aufzugs erkennen, bevor die Dunkelheit alles verschluckte. Gespannt lauschten wir.
Nach einem Moment hörten wir dumpfe Geräusche, Gurgeln, dann wieder Stille. Estelle und ich sahen uns an. Hoffentlich hatte der Plan geklappt. Kurz darauf hörten wir den Aufzug zurückkommen. Als er bei uns hielt, war er leer.
Estelle nickte entschlossen und kletterte hinein. Ob es Folkvar tatsächlich gelungen war, den Wachmann zu besiegen, würden wir erst wissen, wenn wir ebenfalls unten angekommen waren. Estelle war wirklich unerschrocken.
Wieder wartete ich darauf, dass der Aufzug zu mir zurückkehren würde. Die Sekunden dehnten sich zu einer Ewigkeit aus. Als der Aufzug endlich vor mir hielt, war er erneut leer. Ich hatte Angst, dass jeden Moment jemand in die Küche kommen würde, um uns mit Waffengewalt in die Bar zurückzutreiben, aber wir hatten Glück – etwas, womit ich nach all dem Pech schon nicht mehr gerechnet hatte. Niemand betrat die Küche, und die drei Gefesselten waren noch immer bewusstlos.
Als Letzte setzte ich mich in den Lastenaufzug, der für Menschen natürlich nicht vorgesehen war, und zog die Beine an. Ich war größer als Estelle und musste den Kopf zwischen die Knie klemmen. Komfortabel war es nicht, aber auch weniger beengend, als ich befürchtet hatte. Für Folkvar musste es hingegen eine unbequeme Reise gewesen sein.
Ruckelnd ging es nach unten. Zentimeter für Zentimeter. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man mit diesem Ungetüm Suppenteller transportieren konnte, ohne den Inhalt zu verschütten. In dem Schacht gab es kein Licht, wozu auch, und ich versuchte, mich mit tiefen Atemzügen zu beruhigen. Obwohl die Fahrt keine Minute dauerte, stellte ich mir ein Dutzend Szenarien vor, was am Ende dieser Fahrt auf mich warten konnte. Die Mehrzahl davon war unerfreulich.
Als ich schließlich unten ankam, kletterte ich umständlich, aber so schnell wie möglich aus dem engen Käfig und traf auf Estelle und Folkvar, die bereits auf mich warteten. Der Wachmann lag an der Seite an der Felswand und rührte sich nicht.
»Ist er …«
»Der schläft mal für eine Weile«, sagte Folkvar und grinste, während er den Kopf kreisen ließ. »Ich mag keine Aufzüge.«
Erleichtert atmete ich aus, und Estelle lachte.
»Du bist ja auch keine Speise«, sagte sie. »Es gibt Aufzüge, die sind für Leute geeignet.«
Neugierig blickte ich mich um. Wir waren in einer kleinen Höhle gelandet, in der es nur einen einzigen Ein- und Ausgang gab. Ein winziger Klapptisch mit einem leeren Tablett stand neben dem Aufzug. Eine Grubenlampe erhellte schwach die Höhle und erzeugte mehr Schatten als Sichtbarkeit.
Ich hatte den Eindruck, dass sich im Schatten des Eingangs etwas bewegte, und machte Folkvar darauf aufmerksam.
»Das sind nur Figuren, die sich das Essen holen wollten. Sie sind geflüchtet, als ich hier aufgetaucht bin. Mach dir keine Sorgen, die sind keine Gefahr.« In seiner Stimme schwang Mitleid mit, und ich ärgerte mich darüber, dass wir nicht daran gedacht hatten, Essen mitzunehmen. Wir hatten ihnen schließlich die Möglichkeit genommen, an die Lebensmittel zu kommen – zumindest für den Moment –, indem wir Wache und Köche ausgeschaltet hatten. Das tat mir leid. Doch jetzt konnten wir nichts mehr daran ändern.
Estelle winkte uns ungeduldig weiter. »Beeilt euch, wir haben noch einiges vor. Wir müssen zurück zum Markt.« Sie klopfte sich die Manteltaschen ab. »Schade, dass ich meine Pistole verloren habe.«
»Erwartest du denn, dass wir sie brauchen?«, fragte ich besorgt.
»Eigentlich nicht.«
»Eigentlich?«
Sie ersparte sich eine Antwort und lief weiter. Folkvar und ich folgten ihr, ohne dass wir jemandem in dem Gang, der aus der Höhle führte, begegneten. Wer auch immer uns vom Eingang her beobachtet hatte, war längst geflüchtet.
Es begann ein anstrengender Aufstieg, der uns wieder auf die Marktebene bringen sollte. Auf dieser Seite des Untergrunds dauerte es eine Weile, bis Estelle den richtigen Weg fand. Immer wieder mussten wir stehen bleiben, um uns mithilfe der Plaketten am Felsen neu zu orientieren. Zweimal liefen wir im Kreis und kamen durch dieselben Höhlen, und einmal mussten wir sogar ein ganzes Stück zurücklaufen, weil wir in einer Sackgasse landeten. Dass wir uns schließlich dem Markt näherten, merkten wir vor allem daran, dass uns wieder mehr Leute entgegenkamen und die Geräusche zunahmen.
»Was tun wir, wenn wir bei deinem Kontakt ankommen?«, fragte ich, als wir die Markthöhle zum zweiten Mal an diesem Tag betraten.
»Wir bitten um einen Gefallen.«
Ich stöhnte auf. »Schon wieder? Warum können wir nicht einfach jemanden dafür bezahlen?«
»Ich fürchte, das werden wir.«
»Oder bedrohen?«, ergänzte Folkvar.
»Weil die Leute hier unten kaum noch vor etwas Angst haben. Außer davor, zum Schwarzen Tempel geschleift zu werden.«
»Aber es kann doch nicht jede Welt schlecht sein, aus der sie kommen«, warf ich ein. »Es gibt doch auch wirklich schöne Buchwelten. Was ist mit Nicholas Sparks oder Jojo Moyes?«
»Hast du die Bücher mal gelesen? Die haben auch nicht alle ein Happy End.« Estelle zog mich drängend an den ersten Ständen vorbei. »Ihr werdet schon noch sehen, Gefallen sind im Untergrund sehr viel mehr wert als schnöder Mammon.«