16

N iemand hielt uns auf, als wir an den Ständen vorbeieilten. Doch ich merkte, wie man uns musterte. Sicher hatte die Nachricht vom zweiten Mord meiner Figur schon die Runde gemacht. Trotz Ausgangssperre pulsierte der Markt, die Geschäfte liefen weiter. Hin und wieder nickte Estelle jemandem zu, die Leute beobachteten uns genau. Sie mochten Estelle kennen, mich hingegen nicht, und was sie von Folkvar hielten, konnte ich nicht einschätzen. Er war sicher nicht die ungewöhnlichste Figur, die sie je gesehen hatten, immerhin begegneten uns auch ein gestiefelter Kater und ein Engel mit Heiligenschein und schneeweißen Flügeln, deren Federn mir im Vorbeigehen ins Gesicht schlugen. Ich nahm an, dass es ein Versehen war.

Schließlich kamen wir an einen Imbiss, der über eine größere Sitzfläche mit Tischen verfügte, die in den Felsen gehauen war. Auf dem Schild über dem Eingang stand in neonfarbenen Lettern A Moveable Feast. Darunter etwas kleiner: Gekocht und gegrillt. Inhaber Jack Leung.

Die Theke bestand aus alten Türen. Dahinter brutzelte Essen in mehreren großen und kleinen Pfannen. Es roch nach Knoblauch, Ingwer und Frittieröl, und mir knurrte sofort der Magen, denn seit dem Frühstück hatten wir nichts mehr gegessen.

»Setzt euch«, sagte Estelle und deutete auf einen Platz an der Wand. »Wir werden Tee trinken.«

»Aber wir haben keine Zeit für Tee, ständig sitzen wir nur herum, wir müssen endlich mal in Bewegung kommen!«

Amüsiert sah sie mich an. »Das ist eine Abenteuerquest. Wir reisen von Punkt A zu Punkt B und weiter zu C.«

»Solche Geschichten mag ich nicht.«

Sie seufzte. »Du hast wohl nicht viele Spionage- und Abenteuerromane gelesen, was?«

»Warum?«

»Weil du dann wüsstest, was jetzt passiert.«

Kurz darauf trat eine junge Frau an den Tisch. In der Hand hielt sie Block und Stift, und auf ihrem viel zu großen Shirt war das Emblem der VdF in einem blutroten durchgestrichenen Kreis zu sehen.

Estelle lächelte ihr zu und sagte: »Wir hätten gern drei Rhum Barbancourt auf Eis mit Limette nach Art des Hauses.«

Einen Moment lang betrachtete die Frau uns misstrauisch, doch dann fiel ihr Blick auf Folkvar, und sie nickte brüsk. Essen wurde leider keines bestellt, und ich warf sehnsüchtige Blicke zum Nachbartisch, an dem zwei Männer grüne Bohnen und panierte Hühnerschenkel aßen. Kaum hatte ich mich von diesem Anblick losgerissen, bemerkte ich, wie Folkvar aufmerksam die Leute betrachtete, die an dem Imbiss vorüberliefen.

Was sollten wir machen, wenn Ylvi uns tatsächlich Leute hinterherschickte? Pfannen mit brutzelndem Öl nach ihnen werfen? Ich wippte schon wieder mit dem Knie, bis mir Estelle die Hand auf den Oberschenkel legte.

Als die Bedienung wiederkam, hatte sie keine Getränke dabei, sondern bedeutete uns barsch, ihr zu folgen. Hastig erhoben wir uns und liefen ihr hinterher. Wir gingen durch einen Gang in den hinteren Bereich der Bar und eine kurze krumme Treppe hinab. Es wurde sogar noch ein wenig kühler, selbst im Sommer musste es hier so tief unter der Erde frostig sein.

»Ich nehme an, das endet in einem Hinterzimmer?«, flüsterte ich Estelle zu.

»Dann hast du also doch ein paar Romane gelesen.«

In der Tat öffnete uns die Frau eine Tür, die in ein winziges Büro führte. Natürlich gab es keine Fenster und keinen offensichtlichen zweiten Ausgang. An einer Wand standen Regale mit Ordnern, und es gab einen Schreibtisch mit zwei Sesseln davor. An der Wand, den Regalen gegenüber, hing ein Fernseher, auf dem stumm Musikvideos liefen. Allerdings kam es mir vor, als wären sie schon gute dreißig Jahre alt.

Hinter dem Schreibtisch saß ein Mann im mittleren Alter mit einer blond gefärbten Vokuhila-Frisur. Beide Ohren waren bis nach oben gepierct, und er trug mehrere silberne Ketten und Armbänder. Außerdem eine dicke blaue Strickjacke gegen die Kälte in seinem Büro. Er winkte uns zu, wir sollten uns setzen. Folkvar blieb an der Tür stehen, die Arme vor der Brust verschränkt.

»Du warst lange nicht mehr hier, Estelle«, wiederholte der Mann, als hätte er sich mit Ylvi und Tognazzi abgesprochen.

»Die Zeit verfliegt so schnell, Jack«, antwortete Estelle, aber diesmal klang es nicht unfreundlich.

»Soll ich so tun, als wüsste ich nicht, wer sie ist?« Er deutete auf mich. »Oder willst du mir gleich sagen, warum du sie hergebracht hast? Und natürlich den da.« Nun zeigte er auf Folkvar, der daraufhin einen Schritt vortrat und aussah, als würde er den Mann am liebsten am Schlafittchen packen. Diese ganze Sache behagte ihm gar nicht, das konnte ich ihm ansehen – Tee trinken und im Hintergrund abwarten entsprach einfach nicht seinem Naturell.

»Wir dachten, du könntest uns vielleicht helfen, nach ihrer Figur zu suchen.«

»Sieht so aus, als hätte sie ihre Figur schon gefunden.«

»Du weißt, welche ich meine.«

Er lächelte. »Ah ja. Die andere . Die, die schon wieder weg ist. Wir waren alle sehr gespannt, man hört ja so viel.«

»Was hört man denn?«, fragte ich misstrauisch.

»Dass sie eine besondere Figur ist.«

»Warum besonders?«

Das Lächeln wurde breiter.

»Hast du sie gesehen?«, hakte ich nach.

»Gesehen? Teile von ihr, ja.« Er wackelte mit dem Kopf. »Aber ich könnte dir nicht beschreiben, wie sie aussieht, falls du darauf hinauswillst. Ich hatte nicht den Eindruck, dass sie möchte, dass die Leute ihr Aussehen kennen.«

Verständlich, wenn sie Morde beging. Das Letzte, was sie brauchte, waren Zeugen. Damit bestätigte er nur, was Ylvi auch schon gesagt hatte.

Jack wandte sich wieder an Estelle. »Erwartet ihr noch mehr Figuren von ihr?«

»Nein!«, rief ich. Und dann etwas leiser: »Das hoffe ich jedenfalls.«

»Wenn ich richtig informiert bin, habt ihr schon bei unserer allwissenden Herrin des Goldenen Hauses Hilfe gesucht.«

Estelle seufzte. »Manchmal verbreiten sich hier Nachrichten schneller als Dorfklatsch. Jeder kennt jeden, und alle wissen Bescheid. Ylvi hat uns mitgeteilt, dass die Figur bei ihr war und wieder gegangen ist. Das war alles.«

»Was wollt ihr dann von mir, wenn ihr schon alles wisst?«

»Wir müssen zurück an die Oberfläche.«

Er nickte. »Nehmt den Weg, den ihr gekommen seid, oder einen der anderen Zugänge. Du kennst dich hier aus, du weißt, wie es funktioniert.«

»Wir müssen jetzt zurück.«

Jack runzelte die Stirn. »Jetzt könnt ihr nicht zurück. Die Ausgänge sind versperrt.«

Ihr Gesichtsausdruck zeigte deutlich, dass sie ihm nicht glaubte. »Es wäre nicht das erste Mal, dass du eine Möglichkeit findest, die Sperre zu umgehen.«

Er lachte und warf einen Blick auf den Fernseher, der weiterhin Musikvideos zeigte. »Wie kommst du denn darauf? Du weißt doch, dass man sich hier unten keine Freunde macht, wenn man die Sicherheitsmaßnahmen umgeht. Es wäre dumm, Ärger zu riskieren. Vor allem mit Ylvi.«

»Das hat dich doch bisher nicht abgehalten. Wir müssen den Ärger eben einfach vermeiden. Was sie nicht weiß …«

Er kniff die Augen zusammen, als würde ihn die grelle Sommersonne blenden. »Und woher weißt du etwas, das nicht einmal Ylvi weiß?«

»Wir haben alle unsere Kontakte, Ylvi, du … ich. Der Untergrund ist groß, du kennst Leute, ich kenne Leute, aber im Grunde ist es doch unerheblich, woher ich weiß, dass du einen Weg gefunden hast, die Sperre zu umgehen. Solange es Ylvi nicht erfährt, nicht wahr?«

Er biss die Zähne aufeinander, ich konnte ihm ansehen, dass er wütend war, auch wenn er versuchte, es zu verbergen. Es sollte sicher nicht bekannt werden, was Estelle da über ihn wusste, und einen Moment lang befürchtete ich, Jack würde uns auf sehr unangenehme Art zum Schweigen bringen.

Das schien auch Estelle durch den Kopf zu gehen, denn sie schob hastig hinterher: »Von uns wird es niemand erfahren, versprochen. Du und ich sind zwar nicht immer einer Meinung, aber grundsätzlich ziehen wir doch an einem Strang.«

Es überraschte mich, dass ausgerechnet dieser Jack für die Öffnung des Untergrunds sein sollte. Er schien ein gut laufendes Geschäft hier unten zu haben. Was gewann er, wenn die Welt von den Figuren erfuhr, die sich unter der Stadt aufhielten? Aber ich erinnerte mich an das, was Estelle mir eingeschärft hatte. Ich kannte die Geschichte nicht, die ihn in den Untergrund getrieben hatte, und ich konnte niemanden beurteilen, wenn ich seine Geschichte nicht kannte.

»Wer sagt mir denn, dass ihr das auch ehrlich meint? Vielleicht willst du mich nur ausspionieren und meine Geheimnisse verkaufen.«

Estelle lachte. »Mach dich nicht lächerlich, Jack. Du kennst mich lange genug und weißt, dass ich das nie machen würde.«

»Aber die da kenne ich nicht.« Beinahe aggressiv zeigte er auf mich. »Sie sagt, sie sucht ihre Figur. Aber wozu? Um sie bei der VdF zu verpfeifen?«

»Warum sollte ich meine eigenen Figuren verraten?«, fuhr ich auf.

»Um dir Vorteile in der kommenden Verhandlung zu erschleichen. Glaub mir, du wärst nicht die Erste. Autoren kann man nicht trauen.«

»Du weißt, ich würde niemanden herbringen, der eine Gefahr für den Untergrund darstellt«, ging Estelle dazwischen, und einen Moment lang herrschte unangenehmes Schweigen.

Schließlich deutete Jack mit dem Zeigefinger auf Estelle und sagte: »Dir ist klar, dass wir danach quitt sind. Keine Gefallen mehr, keine Forderungen! Die Schuld ist beglichen.«

Nachdrücklich nickte sie.

Was hätte ich darum gegeben zu erfahren, was sie getan hatte, damit Jack ihr half. Wer war diese Frau, die tagsüber Zeitungen und Imbissprodukte verkaufte und in ihrer Freizeit offenbar eine Art Revolution plante?

»Na schön«, erwiderte er mürrisch, »da sind aber noch ein paar Dinge, die wir brauchen.« Er nahm einen Zettel aus der Schublade und schob ihn zu mir rüber.

Es war eine Liste unterschiedlicher Lebensmittel, technischer Geräte und Werkzeuge. Alles zusammen ergab die Liste einen vierstelligen Betrag.

Mit offenem Mund starrte ich darauf.

»Wir können uns hier unten gut versorgen, aber es gibt einiges, das wir von oben brauchen. Wir haben Kontakte und ein gutes Versorgungsnetz ausgebaut. Zu dem jetzt auch du gehörst. Das ist doch nur fair, findest du nicht?« Er sah sehr zufrieden aus.

Etwas ratlos drehte ich mich zu Estelle. »Wie soll ich das alles besorgen? Ich meine, jetzt.«

Doch bevor sie antworten konnte, ergänzte Jack: »Keine Sorge, das hat ein bisschen Zeit. Wenn Estelle das nächste Mal vorbeischaut, nimmt sie die Sachen einfach mit. Sie wird hoffentlich nicht wieder so lange fortbleiben.« In seinen Worten war eine Warnung deutlich zu hören, doch Estelle nickte, als wäre sie nicht überrascht von der Forderung.

Sie hatte recht, es klang wirklich alles wie in einem Spionagethriller! Aber auch dieses Mal blieb mir keine Wahl, wenn ich nicht stundenlang unter der Stadt festsitzen wollte.

Jack deutete zur Tür. »Ich brauche noch einen Moment, bis wir aufbrechen können. Wir wollen schließlich sichergehen, dass Ylvi euch nicht auf den Fersen ist, nicht wahr? Wartet kurz draußen, ich bin gleich bei euch.«

Wir verließen das Büro, und dieselbe Frau, die uns auch hergebracht hatte, eskortierte uns nun wieder hinaus. Als wir unseren Tisch erreichten, standen dort die zuvor als Code bestellten Getränke und mehrere Schüsseln mit Essen. Es sah ungesund und lecker aus.

»Geht aufs Haus«, sagte die Bedienung, bevor sie sich wieder anderen Gästen widmete.

Vor Ungeduld wäre ich am liebsten an die Decke gesprungen. Für ein ausgiebiges Essen hatten wir keine Zeit, vor allem nicht, wenn Ylvis Köche aufwachten und unsere Flucht bekannt wurde. Doch in diesem Moment knurrte Folkvar der Magen, und auch ich merkte auf einmal, wie hungrig ich war.

»Wenn wir bei Jack essen, wird sie nicht versuchen, uns aufzuhalten«, sagte Estelle, als hätte sie meine Gedanken gelesen.

Also deutete ich auf die Speisen, und Folkvar fiel wie ein Wolf über die Schüsseln her. Auch ich schaufelte mir, so schnell es ging, Portionen auf den Teller. Ein leerer Magen hatte noch niemandem genützt, wer wusste schon, wann wir das nächste Mal etwas zu essen bekamen.

In Windeseile leerten wir die Teller, vermutlich dauerte es keine drei Minuten. Währenddessen sprachen wir nicht. Mich beschäftigten zu viele Erinnerungen und Fragen, die ich noch nicht in Worte fassen konnte, weder schriftlich noch mündlich. Wie wahrscheinlich war es, dass Michael nur ein Zufallsopfer gewesen war? Hatte ich das erste Opfer doch gekannt und konnte mich nur nicht erinnern?

Neben mir rülpste Folkvar und wischte sich mit dem Ärmel über den Mund.

Estelle beobachtete das Ganze amüsiert und sagte: »Tischmanieren beschreibt natürlich kaum ein Autor, nicht wahr?«

»Wir schreiben auch selten über Verstopfungen und Krampfadern, selbst die Ernsthaftesten unter uns nicht.«

Zehn Minuten später trat Jack an den Tisch, auf dem sich inzwischen leere Schalen und Teller stapelten. »Wir können los«, sagte er, dann führte er uns zu einem der zahlreichen Gänge, die von der Markthöhle aus abgingen.

Immer wieder sah ich mich um, aber die Leute reagierten nicht darauf, dass wir den Markt wieder verließen. Wenn uns tatsächlich jemand verfolgte, war er gut darin, nicht aufzufallen.

Der Gang war schmal, keinen Meter breit und keine zwei Meter fünfzig hoch. Alles schien hier unten entweder sehr groß oder sehr klein zu sein. Ein bisschen mulmig wurde mir, als wir den Gang durchquerten. Immer wenn uns Menschen oder Figuren begegneten, mussten wir uns an ihnen vorbeiquetschen. Wir stießen an den Schultern aneinander, vermieden Blickkontakt, sortierten Arme und Beine und den einen oder anderen Reptilienschwanz. Manches Mal war der Geruch kaum zu ertragen, und die Enge machte mir zu schaffen. Mir schossen Bilder durch den Kopf, wie ich stecken bleiben und es weder vor noch zurück gehen würde. Die Panik griff nach mir, kroch mir in die Knochen und lief mir als Zittern über die Haut. Ich atmete tief durch und lief weiter, ein Schritt nach dem anderen, ein paar Meter, ohne jemandem zu begegnen, das half.

Während wir durch den Gang liefen, fiel mir auf, dass hier unten wirklich alle Altersgruppen vertreten waren. Kinder, Alte, und beinahe so viele Figuren wie Menschen. Es schien kein Muster zu geben, dem die übergetretenen Figuren folgten. Zumindest konnte ich keines erkennen. Nach und nach dünnte sich die Menge jedoch aus, die Gänge wurden leerer, die Höhlen kleiner. Nur mein Erstaunen wuchs immer weiter, je mehr ich von diesem Untergrund sah, der sich unter der Stadt ausbreitete wie ein Meer, dessen gegenüberliegendes Ufer man nicht sehen, ja, nicht einmal erahnen konnte.

Irgendwann kamen wir an einer Art Altarnische vorbei. Statt des zu erwartenden Altars befand sich allerdings eine Tür in der Nische. Zwei Wachen standen davor, in ihrer Montur denen vor Ylvis Haus nicht unähnlich, und versperrten den Weg in die Nische. Die Tür war schmucklos. Eichenholz mit Messingbeschlägen, jener Tür nicht unähnlich, durch die wir im Kaufhaus der Wünsche getreten waren. Doch ein seltsamer Schimmer lag auf ihr, beinahe wie ein Wasserfilm.

»Das ist der Zauber«, erklärte mir Estelle flüsternd. Wohin die Tür führte, sagte sie nicht.

Wir liefen daran vorbei und tauchten erneut in das Labyrinth unter der Stadt ein, bis wir nach über einer halben Stunde schließlich in eine lang gezogene, aber nicht sehr breite Höhle gelangten. Unterwegs hatte ich das Gefühl gehabt, dass wir dabei stets ein Stück weiter nach oben gegangen waren, aber mit Gewissheit konnte ich es nicht sagen.

»Wir sind da«, sagte Jack, und Estelle blieb wie angewurzelt stehen.

Unzählige Papiergirlanden hingen von der Decke, auf denen in winziger Schrift Namen standen. Eine kalte Brise bewegte sie sanft hin und her, und an den Wänden standen auf schmalen Brettern Hunderte Kerzen wie in einer Kirche, die den Raum erhellten und Schweigen geboten.

»Was ist das?«, fragte ich leise und zeigte darauf.

»Die Höhle der Gefallenen«, antwortete Estelle ebenso leise. Ihr Blick war auf die schmalen Papierbänder gerichtet. »Sie ist den Toten gewidmet.«

Mir stockte der Atem. »Figuren, die hier gestorben sind?«

Sichtlich aufgewühlt schüttelte sie den Kopf. »Die Figuren, denen hier gedacht wird, sind auf der anderen Seite gestorben. Drüben in der Fantasiewelt … durch die Haderer …« Ihre Stimme versagte, doch neben mir zog Folkvar scharf die Luft ein.

Fasziniert beobachtete ich, wie er die Schultern hochzog, als müsste er sich vor Kälte schützen. Etwas sehr Merkwürdiges ging mit diesem Mann vor sich, der eigentlich vor nichts Angst hatte.

»Was meinst du damit?«, fragte ich nach, doch Estelle konnte mir nicht antworten, sie war zu entsetzt.

Stattdessen antwortete mir Folkvar. »Nicht nur wir erzählen uns Geschichten über Dinge, die uns Angst einjagen, auch die Figuren haben Albträume.« Er räusperte sich. »Schreckgespenster, vor denen sie sich fürchten …« Er war leichenblass geworden.

Was musste das für ein Ungeheuer sein, vor dem ein Held wie er sich fürchtete?

»Die Haderer«, flüsterte ich, und Jack nickte.

»Sie ziehen durch die Buchwelten. Sie sind nicht an eine einzige gebunden, und wer ihnen begegnet …« Er sprach nicht aus, was diesen Unglücklichen geschah, aber Estelles Gesichtsausdruck verriet, dass es nichts Gutes war.

»Wenn Figuren zu uns kommen, schreiben sie die Namen derer auf, die durch die Haderer gefallen sind«, sagte sie. »Es ist eine Heilige Höhle.« Ihr Blick ruhte vorwurfsvoll auf Jack.

Aber das schien ihn nicht zu stören. »Mit Religion hatte ich es noch nie so.« Er wandte sich an mich. »Keine Bange, diese Kreaturen können nicht nach Kapitolo übertreten, dazu fehlt ihnen das Talent .« Er klopfte mir beschwichtigend auf die Schulter. »Bei uns hier sind sie nichts weiter als Schreckensgestalten, mit denen man Kindern Angst macht.«

»Ich habe einen von ihnen gesehen«, sagte Folkvar und starrte dabei auf das Kerzenmeer. »Er kam eines Tages in unser Dorf, da war ich noch ein Kind. Er kam mit dem Sonnenaufgang, viele von uns schliefen noch …« Was immer er auch in seiner Erinnerung vor sich sah, es brachte ihn dazu, den Kopf zu senken und die Hände zu Fäusten zu ballen.

Ich hatte noch nie von diesen Haderern gehört, das Wissen um sie war nichts, was einem in der Schule oder einem Kurs für Kreatives Schreiben beigebracht wurde, und langsam fragte ich mich, was uns noch vorenthalten wurde. Waren die Haderer am Ende der Grund, warum so viele Figuren nach Kapitolo flohen?

Jack deutete auf eine Stelle im Felsen, an der ich nichts Besonderes erkennen konnte. Er schob mich vorwärts, bis ich direkt davorstand, und selbst dann sah ich noch nicht, worauf er hinauswollte. Das flackernde Licht der Kerzen erzeugte unruhig zuckende Schatten auf dem Felsen, die es unmöglich machten, die Augen auf einen Punkt zu fokussieren. Ungeduldig nahm Jack meine Hand und legte sie auf den Stein, in dem ich schließlich einen Spalt ertasten konnte. Doch erst als Jack seine Taschenlampe darauf richtete, erkannte ich die tatsächliche Breite dieses Spalts.

»Wie bitte?« Ungläubig starrte ich ihn an.

Er legte die Hand daneben. »Das ist er. Der Ausgang.«

»Du machst wohl Witze«, entschlüpfte es mir, aber er schüttelte nur den Kopf.

»Der Durchgang ist so schmal, dass die Zauberer ihn nicht versiegeln.«

»Ja, weil da niemand durchpasst!«

Estelle trat näher und prüfte den Spalt mit der Schulter. Außerdem leuchtete sie hinein. »Es sieht so aus, als würde der Gang nach oben führen. Aber er bleibt … schmal.«

»Zugegeben, man muss die ganze Zeit seitwärts laufen und mit dem Gesicht nach vorn«, fügte Jack hinzu. »Und allzu breit darf man auch nicht sein.«

»Nie im Leben!«, erwiderte ich und trat einen Schritt zurück.

»Das ist der einzige Weg für die nächsten Stunden. Deine Entscheidung.«

Ich war hin und her gerissen. Machten diese Stunden einen Unterschied? Vielleicht sollte ich einfach hier im Untergrund bleiben. Für immer. Ich könnte mich verstecken. Ein neues Leben beginnen! Als Bardame arbeiten, irgendetwas würde sich schon für mich finden.

Folkvar legte mir die Hand auf die Schulter. Sie war warm und schwer. »Du schaffst das, Kate. Meine Hulda würde es auch schaffen.«

»Ja, aber …«

»Nichts aber. Sieh es doch mal so. Ein Teil von dir steckt auch in ihr, ein Teil ihres Muts ist also auch deiner.«

Skeptisch sah ich auf den Spalt. »Wenn ich dort stecken bleibe, wäre das ein furchtbares Ende für diese Geschichte.«

Jack nickte. »Ich kann dir versichern, du bist nicht die Erste, die diesen Weg benutzt.«

Da ertönten hinter uns plötzlich Geräusche, allerdings konnten wir nicht erkennen, ob es mögliche Verfolger waren oder einfach Leute, die in die Höhle der Gefallenen wollten.

Hastig bedeutete uns Jack, in den Spalt zu treten. »Ihr müsst euch beeilen, ich will nicht, dass irgendwer weiß, wo dieser Spalt liegt. Es reicht schon, dass überhaupt jemand von seiner Existenz weiß.« Er warf Estelle einen finsteren Blick zu.

Folkvar wandte sich an mich und legte mir beide Hände auf die Schultern. »Hör zu, Kate. Ich passe dort nicht durch. Ich kann euch nicht begleiten. Wenn uns jemand gefolgt ist, werde ich ihn ablenken und später nachkommen, wenn die Sperre aufgehoben ist.«

»Was meinst du mit ablenken? In Romanen ist das meistens Code für ›Ich werde mich opfern und einen heroischen Tod sterben‹.« Meine Stimme rutschte schon wieder eine Oktave nach oben, doch er lächelte nur.

»Ich habe nicht vor zu sterben. Ich bringe sie einfach dazu, mir zu folgen. Ylvi und ich haben kein Problem miteinander.« Er verzog das Gesicht. »Abgesehen von den drei gefesselten Köchen. Aber sie wird mir schon nichts tun.«

Mir war nicht wohl dabei, ihn zurückzulassen. Er war ein krisenerprobter Mann, dennoch fühlte ich mich für ihn verantwortlich, jetzt, da er in Kapitolo war. Ich konnte das Band zwischen uns immer noch spüren, aber ich musste nach oben, und er war in der Tat zu breit für den Spalt.

Widerwillig nickte ich. »Kleine, schmale Männer«, sagte ich mit erstickter Stimme zu ihm. »Ab dem nächsten Roman!« Ich holte ein paar Geldscheine aus der hinteren Hosentasche und gab sie ihm. »Das ist Taxigeld. Lass dir von Jack erklären, wozu du es brauchst. Wenn du draußen bist, suchst du dir ein Taxi.« Ich deutete auf seine Kapuze. »Zieh sie so tief wie möglich ins Gesicht und versuch, deine Hände zu bedecken.« Dann nannte ich ihm Estelles Adresse, umarmte ihn, so fest ich konnte, und flüsterte ihm ins Ohr: »Danke. Pass auf dich auf.«

Estelle betrat den Spalt zuerst, ich war mir nicht sicher, ob sie so viel mutiger war als ich oder ob sie einfach aus der Höhle herauswollte. Der Anblick der Papiergirlanden schien sie verschreckt zu haben. Offenbar kam sie nicht oft hierher. Ich wollte sie nach den Haderern befragen, aber das musste alles warten, bis wir aus dem Untergrund heraus waren.

Nach einem letzten Blick auf meine Figur folgte ich ihr in den Spalt, die linke Schulter voraus, den Kopf nach links gedreht, die Füße leicht gespreizt, weil der Spalt zu schmal war für ihre ganze Länge.

»Warum habe ich nicht Schuhgröße fünfunddreißig?«, murmelte ich.

»Frag mich mal«, antwortete Estelle gepresst. »Dreiundvierzig.«

Seitwärts den Hang hinaufwatschelnd, kamen wir nur langsam vorwärts, inzwischen hatten wir den Schein der Kerzen hinter uns gelassen, und es war stockdunkel. Wir warfen uns ein paar Sätze zu, nur um uns zu vergewissern, dass der andere da war.

»Wenigstens können wir hier nicht vom Weg abkommen«, sagte Estelle.

»Keinen Zentimeter.« Ich stieß mit der Stirn an die Wand und fluchte.

»Alles in Ordnung?«

»Ja.«

Der Aufstieg in ungewohnter Haltung war anstrengend, und so verstummten wir irgendwann, um Atem zu sparen. Die Luft wurde muffig. Minischritt um Minischritt kämpften wir uns voran, ich hörte Estelles Keuchen vor mir, das reichte, um mir ihrer Nähe bewusst zu sein.

Und dann hörte ich etwas anderes, ein Schaben oder Kratzen. Waren wir das, oder lebte in dem Spalt irgendetwas? Vielleicht gar im Felsen? Unvermittelt fielen mir Lovecrafts Die Ratten im Gemäuer ein, und in aufkeimender Panik schlug ich mit Schulter und Knie gegen den Stein, klemmte mir den linken Fuß ein und fluchte erneut.

»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«, fragte Estelle.

»Ja!« Wütend riss ich den Fuß frei. »Hast du jemals Die Ratten im Gemäuer gelesen?«

Sie stöhnte auf. »Musst du mich ausgerechnet jetzt daran erinnern?«

»Entschuldige. Ich weiß nicht einmal mehr, wie es ausgeht, aber …«

»Denk lieber an Endes Felsbeißer, der könnte uns den Weg freikauen.«

Ich lachte, aber meine Gedanken kreisten um bösartig lauernde Kreaturen, obwohl ich das Scharren gar nicht mehr hören konnte. Die Stille im Spalt war beinahe noch beängstigender. Etwas krabbelte über meine Hand, und ich schüttelte es panisch ab. Immer wieder mussten wir kurze Pausen einlegen, weil Estelle durch die ungewohnte Haltung zu sehr ihr Bein belastete. Der Spalt war zu eng, um es einmal richtig auszuschütteln. Die Angst, hier unten mitten im Felsen stecken zu bleiben, brannte mir wie Säure in den Gliedern. Ich wollte schreien und konnte es nicht, ich wollte umkehren und durfte es nicht. Wenn Estelle zu lange stehen blieb, tastete ich nach ihrer Schulter und schob sie sanft weiter. Merkte sie, dass ich ihr nicht folgte, streckte sie die Hand aus und griff nach meiner, um mich ein Stück mit sich zu ziehen.

Auf diese Weise kämpften wir uns weiter voran, bis Estelle irgendwann keuchte: »Licht!«