A ls wir den Spalt wieder verließen, war ich vollkommen durchgeschwitzt. Mir rauschte das Blut in den Ohren, und ich war mir sicher, dass ich nur fünf Minuten länger in der dunklen Enge zwischen den Felsen den Verstand verloren hätte. Es waren die schlimmsten dreißig Minuten meines Lebens gewesen – und das wollte einiges heißen.
Aber wir schafften es hinaus. Wir waren wieder an der Oberfläche, in dem Kapitolo, das ich kannte – und ich begriff, was Estelle damit meinte, man könne die Figuren nicht für immer im Untergrund festhalten. Er mochte weitläufig und vielfältig sein, doch ihm fehlte die Weite eines Himmels.
Wir waren hinter dem Technischen Friedhof in Hainberg herausgekommen, dessen übergroße Rechenschieberplastik am Eingang darauf hinwies, dass hier vor allem Angehörige technischer Berufe bestattet waren. Zum Glück waren hier nicht viele Leute unterwegs. Der Ausgang, durch den wir gekrochen waren, lag zwischen einem Dutzend moosbewachsener Felsen, die nicht viel Aufmerksamkeit erregten. Heute waren nur sehr wenige Menschen auf den Wegen zwischen den Grabstellen unterwegs. Niemand achtete auf uns.
Ich stützte die Hände auf die Knie und versuchte, zu Atem zu kommen. Es dauerte eine Weile, bis sich mein rasender Herzschlag beruhigt hatte. Noch während ich tiefe Atemzüge nahm, erklang der Benachrichtigungston meines Handys, das endlich wieder Empfang hatte. Als ich mich aufrichtete, sah ich, dass Estelle in kaum besserem Zustand war. Sie rieb sich das Knie, und die Erschöpfung war ihr deutlich anzusehen.
»Ich glaube, ich habe noch nie so viel gebetet wie eben gerade«, sagte sie und deutete auf den Spalt.
Ich fasste nach ihrer Hand und drückte sie fest. Mir fehlten die Worte, um meine Dankbarkeit auszudrücken. Diese Frau, die mich kaum kannte, riskierte so viel für mich, dass ich ein Leben lang brauchen würde, um ihr diesen Gefallen zurückzuzahlen.
Wir lächelten uns zu. Das würde für immer eine Erinnerung sein, die uns verband.
»Komm, wir müssen weiter«, sagte sie schließlich.
Auf unserem Weg zur nächstgelegenen Haltestelle der Zirkelbahn fuhr uns der kalte Wind über die Wangen. Das Wetter war seit dem Vormittag nicht besser geworden, die Temperatur nur wenige Grad gestiegen. Selbst in meinem dicken Mantel fröstelte ich, und ich sehnte mich nach einem heißen Bad, nach Entspannung und Ablenkung. Was hätte ich darum gegeben, einen langweiligen Abend mit einem Glas Wein und einem Buch bei mir zu Hause zu verbringen, frei von allen Gedanken der Schuld.
Stattdessen rief ich Jop an und sah mich nervös nach allen Seiten um, während ich sprach, ob jemand in unserer Nähe war, der das Gespräch belauschen konnte. Ich erzählte ihm, dass es einen zweiten Mord gegeben hatte, meine Figur offenbar tatsächlich der Täter war und ich diesmal das Opfer kannte. Dabei überschlug sich meine Stimme, weil ich so schnell redete, bis Estelle mir die Hand auf den Rücken legte, damit ich mich beruhigte. Doch das war kaum möglich.
Als ich fertig war, herrschte einen Moment lang Stille am anderen Ende, sodass ich panisch fragte: »Bist du noch dran?«
»Ja«, antwortete er ernst, und ich fürchtete das Schlimmste.
»Du musst mir nicht mehr helfen, ich verstehe, wenn du dich da raushalten willst. Es ist wirklich zu viel verlangt und …«
»Kate! Atme tief durch.«
Das tat ich. Es half ein bisschen.
»Was soll ich tun?«
Ich hätte heulen können vor Erleichterung. Jop war einfach der Beste. »Ich brauche eine aktuelle Adresse oder Telefonnummer von Sean Yu. Er müsste inzwischen dreiunddreißig sein.« Ich musste auch Kader finden, aber ihren Nachnamen hatte ich nie erfahren, und im Josephine , dem Freibad, in dem wir in jenem Sommer gejobbt hatten, würde man mir sicher keine Auskunft darüber geben. Vielleicht wusste Sean etwas, aber dazu musste ich ihn erst einmal finden. »Kannst du herausfinden, ob er noch in Kapitolo lebt?«
»Vielleicht.«
»Und Kader. Sie ist vierunddreißig oder fünfunddreißig. Einen Nachnamen habe ich nicht. Vermutlich bekommst du da Dutzende Einträge, aber irgendwo müssen wir anfangen.«
»Dir ist schon klar, dass ich kein Zauberer bin, der mal eben so Daten aus dem Rechner zieht, oder? Ich bin Versicherungsvertreter, Kate, nicht Anonymous. Meine Möglichkeiten sind begrenzt und die Gefallen, die mir andere Leute schulden, auch.«
»Aber du kannst es schaffen?«
Er seufzte. »Ich sehe zu, was sich machen lässt.«
»Danke. Ich erkläre dir alles, wenn wir da sind.«
»Seid vorsichtig.«
Als ich auflegte, näherten wir uns gerade der Haltestelle, ein Gespräch war aufgrund der vielen Menschen, die uns umgaben, nicht mehr möglich, wenn wir sichergehen wollten, dass uns niemand belauschte. Stattdessen sah ich die Nachrichten auf dem Handy durch.
Meine Eltern hatten mehrfach versucht, mich anzurufen. Hensen dreimal. Es gab eine Nachricht von Olga, anderen Freunden, meinen Großeltern und einigen Journalisten. Außerdem eine Sprachnachricht des Polizeipräsidiums, dass ich mich innerhalb der nächsten acht Stunden dort einzufinden hätte. Sie war bereits vor drei Stunden bei mir eingetroffen.
Das war also das Zeitfenster, das mir blieb.
In diesen verbleibenden fünf Stunden musste ich meine Figur finden, die Morde aufklären und entscheiden, ob ich die Figur zurückschicken, in den Untergrund bringen oder sie doch der Polizei übergeben sollte.
Während die Stadt vor den Fenstern der Zirkelbahn an uns vorbeirauschte, huschte mein Blick über die anderen Passagiere. Die Angst, erkannt zu werden, verkrampfte mir den Magen, und mit steigender Nervosität überflog ich die Werbe- und Informationsschaltflächen in den Bahnhöfen, um zu sehen, ob die Nachricht über den zweiten Mord inzwischen an die Öffentlichkeit gelangt war.
Das war nicht der Fall, aber der Fahndungsaufruf zu meiner Figur wurde stetig wiederholt – in Form einer Top-10-Liste der wahrscheinlichsten meiner Figuren, die den Übertritt nach Kapitolo geschafft haben könnten. Es war die Liste, die ich Driessen geschickt hatte. Meine Leser wurden außerdem dazu aufgefordert, weitere Vorschläge mit Begründung an die VdF zu schicken. Dafür war eine Sondernummer eingerichtet worden.
Die VdF war im Großeinsatz, nicht nur, was meine Figur betraf. Man hatte bereits den alten Fischer und den Raben eingefangen, die am Mittag noch auf der Fahndungsliste gestanden hatten. Die dazugehörigen Autoren hatten Glück im Unglück, weil meine Geschichte von ihren weitestgehend ablenkte. Ein möglicher Mord war interessanter als ein alter Mann, der seine Angel unerlaubt in fließende Gewässer hängte, oder ein Rabe, der die ausgeführten Hunde in Stadtparks angriff.
Es waren auch Wortmeldungen von Schauspielern zu lesen, die jegliche Zusammenarbeit mit mir bestritten, denn irgendjemand hatte die Fotos, die ich an die VdF geschickt hatte, der Presse geleakt, sodass sich einige der von mir als Vorlagen verwandten Menschen zu einem Statement genötigt fühlten. Natürlich nutzte der eine oder andere ehemalige Klassenkamerad die Gunst der Stunde, um seine Meinung über mich im Fernsehen kundzutun. Man habe schon immer gewusst, dass ich etwas seltsam sei. Weil ich Klassenfahrten nicht gemocht hätte.
Das waren die harmlosen Auswüchse. Mehr Sorgen bereiteten mir die Proteste in Mitte-West, die sich gegen zwei Textwerkstätten in Stadtteilbüros richteten. In einem Haltestellenbahnhof der Zirkelbahn hing ein Plakat, das stärkere Eignungskontrolle für Autoren forderte. Sie nahmen meinen Fall zum Anlass, um die Vergabe der Schreiblizenzen weiter einzuschränken.
Estelle bebte vor Zorn, als sie das las. Sie flüsterte mir ins Ohr: »So ein Unsinn. Jeder Teenager kann Sachen in seinen Computer schreiben, wie wollen sie das verhindern? Glauben sie etwa, die Leute hören auf, Geschichten zu erzählen, nur weil sie keine Lizenz zum Veröffentlichen dafür haben? Als ob es den Leuten immer nur ums Publizieren gehen würde.« Ich merkte ihr an, wie sehr ihr das Thema am Herzen lag. »Genau das ist der Grund, warum wir den Untergrund öffnen müssen. Wir können die übergetretenen Figuren nicht für immer dort unten einsperren, ganz gleich, was sich Ylvi einbildet. Sie behauptet zwar, es gehe ihr um die Sicherheit der Figuren, aber eigentlich geht es ihr nur um sich. Sie hat es sich sehr bequem eingerichtet.« Als uns eine ältere Dame, die uns gegenübersaß, zu mustern begann, verstummte Estelle.
Ich sah auch einen Beitrag, in dem Reporter vor Weras Haus warteten, um sie zu befragen. Mit Mütze und bis zur Nase hochgezogenem Schal drängte sie sich durch die Menge zu ihrem Auto. Dabei murmelte sie die ganze Zeit: »Kein Kommentar!« Bei ihrem Anblick zuckte ich unwillkürlich zusammen und rutschte auf meinem Sitz noch tiefer nach unten.
Als wir die Zirkelbahn nach zwanzig Minuten endlich verließen, um das letzte Stück Weg zu Fuß anzutreten, atmete ich erleichtert auf. Ein paarmal rutschten wir auf dem Gehweg fast aus, weil wir viel zu eilig über die vereisten Platten voranschritten.
Kaum in Estelles Wohnung angekommen, umarmte uns Jop, als hätten wir uns wochenlang nicht gesehen. Ihm fehlte seine übliche Leichtigkeit, das konnte ich spüren. Estelle und ich gingen nacheinander eilig unter die warme Dusche und zogen uns um. Mir kribbelte es in Händen und Füßen, und selbst mein Hintern war kalt. Währenddessen kochte Jop in der Küche wieder einmal Tee, als wäre das das Mittel, das diese ganze Geschichte zusammenhielt. Anschließend goss er uns einen Schnaps ein.
»Das können wir jetzt wohl alle gut gebrauchen«, sagte er trocken.
»Was ich bräuchte, sind eine Rückenmassage und portugiesische Puddingtörtchen, aber die Chancen dafür stehen wohl schlecht, oder?«, fragte Estelle, um die Stimmung aufzuheitern.
Ich kippte den Schnaps hinunter, dann rief ich meine Eltern an, um ihnen zu raten, für ein paar Tage die Stadt gänzlich zu verlassen. Ich erzählte ihnen von dem zweiten Mord und dass die Figur möglicherweise doch Menschen umbrachte, die ich kannte. Mehr erklärte ich nicht, dazu blieb keine Zeit.
Zuerst weigerten sie sich zu gehen, weil sie mir beistehen wollten, doch als ich sie anflehte, sich in Sicherheit zu bringen, damit ich mir keine Sorgen um sie machen musste, versprachen sie es. Danach rief ich Olga an und erklärte ihr dasselbe. Sie hatte Verwandte in einem Vorort von Kapitolo, die sie ohnehin mit dem Baby hatte besuchen wollen. Sie bat mich mitzukommen, aber das konnte ich nicht.
»Du hättest damals mit mir in den Chor gehen sollen, statt dir das Schreiben als Hobby auszusuchen«, sagte sie zum Schluss, und ich hörte die Tränen in ihrer Stimme.
»Mit mir im Chor hättet ihr aber nie einen Wettbewerb gewonnen«, erwiderte ich und musste ebenfalls schlucken.
Mit dem Versprechen, uns bald wiederzusehen und uns dann ein Wellnesswochenende zu gönnen – ohne Kind und ohne Polizei –, legten wir auf. Damals ahnten wir wohl beide, dass es ein Versprechen war, das wir nicht würden halten können.
»Hast du etwas zu Sean gefunden?«, fragte ich Jop, als ich später wieder in die Küche kam.
Er nickte und holte Laptop und Zettel aus dem Wohnzimmer. Auf dem Küchentisch breitete er alles aus und tippte auf einen Notizzettel. »Zu einer Kader in dem von dir genannten Alter habe ich über hundert Einträge, und ob eine davon auch wirklich deine ist, ist fraglich. Aber das hier ist die aktuelle Adresse und der Arbeitsplatz von Sean Yu. Er ist noch hier. Handynummer konnte ich nicht ermitteln, aber Festnetz. Was willst du jetzt damit machen?«
»Ich muss mit ihm reden.«
»Warum?« Estelles Blick lag schwer auf mir.
»Weil ich das Gefühl habe, dass diese Geschichte mit ihm zusammenhängt. Ich kann euch das jetzt nicht erklären, dafür ist keine Zeit. Wir müssen los.« Ich sprang auf, aber Jop griff nach meinem Arm.
»Kate!«, sagte er warnend.
»Das ist keine Ausrede, die Geschichte ist wirklich zu lang, und wir dürfen keine Zeit verschwenden. Ich erkläre es dir unterwegs.«
Eindringlich sah er mich an, und auch Estelle wirkte, als hätte sie Einwände. Nach allem, was sie für mich getan hatte, hatte sie eine Erklärung verdient, doch dafür hatten wir einfach keine Zeit. Ein guter Geschichtenerzähler weiß um die Länge seines Plots – und auch, an welcher Stelle er die Geschichte einkürzen muss.
»Ich würde verstehen, wenn ihr mir jetzt nicht mehr helfen wollt«, sagte ich kleinlaut. »Immerhin wissen wir nun, dass meine Figur die Morde tatsächlich begangen hat, und die Sache wird einfach viel zu gefährlich für euch. Aber ich muss jetzt wirklich los. Ich verspreche, ich werde euch alles erzählen. Aber nicht jetzt. Jetzt müssen wir Sean finden.«
Die beiden sahen sich ernst an und hatten eine stumme Kommunikation. Schließlich nickte Estelle ernst. »Na schön«, sagte sie. »Aber du schuldest uns eine Antwort, vergiss das nicht.«
Ich nickte, und Jop erhob sich. Er griff nach dem Zettel mit der Adresse.
»Mein Wagen parkt zwei Straßen weiter. Wir müssen über den Fluss. Sean wird jetzt arbeiten.« Ohne ein weiteres Wort ging er hinaus, um sich anzuziehen und die Ausdrucke seiner Recherche in eine Umhängetasche zu stopfen, die eigentlich Estelle gehörte. Sie bestand aus grünem glänzenden Cordstoff und wurde mit einem goldenen Knopf verschlossen.
Auch Estelle erhob sich, aber ich legte ihr die Hand auf die Schulter.
»Es ist besser, wenn du hierbleibst«, sagte ich sanft. »Du hast wirklich genug für mich getan, mehr, als ich je wiedergutmachen könnte. Und ich sehe doch, dass du humpelst.« Ich deutete auf ihr Knie.
Ihrem Gesicht war anzusehen, dass sie mit sich rang. »Ich könnte mit euch kommen …«
»Ich zweifle nicht daran, dass du dich in einem Kampf besser behaupten würdest als ich. Vor allem, nachdem ich den Inhalt dieser Kiste gesehen habe. Aber ich kann wirklich nicht einschätzen, was uns noch alles erwartet. Und«, kurz blickte ich über die Schulter, »ich bin mir ziemlich sicher, dass Jop es besser finden würde, wenn du dich erst einmal ausruhst.«
Estelle runzelte die Stirn. »Dieser Junge ist nicht mein Aufpasser.«
»Nein, er ist der Mann, dem du sehr viel bedeutest.«
Sie seufzte. »Man merkt, dass du zu viele Liebesromane geschrieben hast.«
»So viele waren es gar nicht.« Ich drückte ihr noch einmal die Hände, bevor ich sie losließ. »Du solltest ihm eine Chance geben. Ich glaube, er würde dich überraschen.«
»Ja, wenn er endlich diese Bananenkisten entsorgen würde.«
Ich grinste schief, und Estelle klopfte mir auf die Manteltasche.
»Hast du noch das Pfefferspray?«, fragte sie.
Ich nickte.
»Jop soll sich etwas mitnehmen, wer weiß, was ihr gebrauchen könnt.« Bedauernd legte sie den Kopf schief. »Mir gefällt der Gedanke nicht, dass Ylvi eine Pistole mit meinen Fingerabdrücken darauf hat. Wenn ich sie nicht wiederbekomme, muss ich sie als verloren melden.«
»Tut mir leid.«
»Ach was. Ich habe noch zwei andere.«
»Natürlich.« Inzwischen war ich nicht einmal mehr überrascht.
»Ich werde dir ein Prepaidtelefon geben. Es läuft auf einen falschen Namen. Damit kannst du Anrufe tätigen, die nicht zurückzuverfolgen sind.«
»Und du bist sicher, dass du früher nicht Agentin warst oder so?«
Mit einem überlegenen Lächeln wandte sie sich ab. »Früher war ich vieles, meine Liebe. Agentin gehörte nicht dazu.«
Kopfschüttelnd ging ich hinaus. Es fiel mir schwer, die Wärme ihrer Wohnung und Fürsorglichkeit zu verlassen, aber ich musste endlich meine entflohene Figur finden, und ich spürte, dass ich auf der richtigen Spur war. Es konnte kein Zufall sein, dass Michael das zweite Opfer war, und ich ahnte, dass eingetreten war, wovor ich mich all die Jahre gefürchtet hatte.
Meine Vergangenheit hatte mich eingeholt.