W ir nahmen die Fähre 7, um über den Fluss zu wechseln. Während der Überfahrt blieben wir in Jops himmelblauem Oldtimer sitzen, der mir jedes Mal, wenn ich mit ihm fuhr, Albträume bescherte, weil ich jede Minute mit seinem Auseinanderfallen rechnete.
Doch Jops Vertrauen zu der alten Kiste war unerschütterlich. Als ich misstrauisch auf das Bodenblech sah, tätschelte er das Armaturenbrett und sagte beleidigt: »Einmal bin ich mit diesem Wagen in ein Gewitter geraten und vom Blitz getroffen worden. Ist mir etwas passiert? Nein! 1961er-Messerschmitt-KR -200-Kabinenroller-Zweisitzer! Mit Ledersitzen und eingebautem Radio. Weißt du, wie viel Sammler rund um die Welt dafür zahlen würden?«
»Es hat drei Räder, Jop!«
»Und du keine Ahnung!«
Skeptisch schüttelte ich den Kopf und rutschte vorsichtshalber tiefer in meinem Sitz, als ein älterer Herr an uns vorbeilief, der seinen modernen (vierrädrigen!) Wagen hinter uns geparkt hatte. Der Mann stützte sich auf die Reling und betrachtete das trübe Wasser, während sich die Fähre langsam auf das andere Ufer zubewegte. Der Himmel war grau und hätte nicht besser zu meiner Stimmung passen können.
Ich fragte mich, wie es Folkvar in der Zwischenzeit erging, und machte mir Sorgen, dass er bei seiner Rückkehr an die Oberfläche als Figur erkannt werden würde, jetzt, da die halbe Stadt in Alarmbereitschaft war. Außerdem stellte ich mir vor, wie verzweifelt Hulda sein musste. Ging sie davon aus, dass sie ihn nie wiedersah? Oder hoffte sie, dass er zu ihr zurückkehren würde?
Diese Gedanken deprimierten mich, und der Anblick des Uferlosen Flusses trug nicht dazu bei, meine Stimmung zu heben.
Wir hätten auch über die Nordbrücke fahren können, doch diese war stärker befahren und lag weiter von unserem Ziel entfernt. Sean arbeitete im Druckerviertel, das östlich vom Uferlosen Fluss lag. Er war als eine Art Hausmeister in einem luxuriösen Spa tätig, das in den Räumen eines ehemaligen Spitals untergebracht und auf Monate im Voraus ausgebucht war.
Bei dem Gedanken, Sean nach all diesen Jahren wiederzusehen, wurde mir flau im Magen. Ich starrte durch die Scheibe des Wagens raus auf den Fluss, der sich in dieser Jahreszeit und zu dieser Uhrzeit schlammig durch die Mitte der Stadt wälzte. Krähen und Möwen kreisten über der Fähre und warteten auf Almosen der Fahrgäste. Eine Mutter gab ihrem Sohn Vogelfutter aus einer Plastiktüte, das er mit ungelenken Bewegungen ins Wasser schmiss. Ich konnte nicht erkennen, ob es Brotstückchen oder richtiges Vogelfutter war.
Auf einmal klingelte mein Handy, mein eigenes, nicht das, was ich von Estelle erhalten hatte. Ich zog es aus der Hosentasche und starrte auf das Display.
»Wera«, sagte ich irritiert.
»Deine Lektorin? Ich dachte, die redet nicht mehr mit dir?«
»Dachte ich auch. Die letzte Unterhaltung verlief nicht gerade freundlich.« Einen Moment lang sah ich noch auf das Handy, dann nahm ich das Gespräch an.
»Was machst du nur?«, war das Erste, was Wera mich fragte. Sie klang ehrlich besorgt.
»Ich mache gar nichts!«
»Die VdF hat sich schon wieder bei mir gemeldet, sie wollen wissen, wo du bist.«
»Ähm … ja, ich weiß, ich melde mich bald bei ihnen.«
»Kate! Denkst du nicht, dass ich merke, wenn du versuchst, Zeit zu schinden? Damit habe ich wirklich sehr viel Erfahrung.«
Ich starrte durch die Wagenscheibe auf den Fluss.
»Du hast denselben Tonfall, wenn du mir sagst, dass du das Manuskript in ein paar Tagen fertig hast, wir aber beide wissen, dass du eigentlich zwei Wochen meinst.«
»Also …«
»Wo bist du?«
»Du wolltest mir doch nicht mehr helfen«, erwiderte ich trotzig. Ihr Verrat hatte mich tief getroffen, auch wenn ich ihn bis zu einem gewissen Grad verstand.
Sie seufzte laut. »Ich war wütend. Aber ich wollte dir nicht schaden, das musst du mir glauben.«
Wir schwiegen, über mir kreischte eine Möwe.
»Hör zu, Wera, ich weiß, dass ich in letzter Zeit ziemlich undankbar war. Du hast mir immer wieder geholfen, und ich hätte mehr Anerkennung zeigen sollen. Du hast so viel mehr gemacht, als nur Sätze zurechtgeschliffen. Du hast meine Deadline nach hinten verschoben, hast mit den Verlagen geredet, hast dir Nächte um die Ohren geschlagen, wenn ich zu spät dran war. Du hast dir stundenlang mein Gejammer angehört und versucht zu vermitteln, wenn der Verlag etwas anderes wollte als ich. Ich weiß das, Wera.«
Sie schwieg.
»Und es tut mir leid, dass ich das irgendwann als selbstverständlich hingenommen habe. Das war alles nicht dein Job.«
»Na ja«, sagte sie leise. »Irgendwie ist es doch mein Job.«
»Nein, ist es nicht. Es ist dein Charakter. Es tut mir ehrlich leid, Wera.«
»Okay.«
»Okay?«
»Okay.«
Wieder hörte ich, wie sie nervös auf und ab ging.
»Kann ich dir irgendwie helfen?«
Ich war hin und her gerissen. Einerseits brauchte ich jede Hilfe, die ich kriegen konnte, andererseits hatte das Vertrauen zwischen uns einen Schlag abbekommen. Was, wenn sie alles, was ich ihr sagte, der VdF weitergab?
Doch dann entschied ich mich, das Risiko einzugehen. Ich kannte Wera! Und auch wenn die Zeitungen voll waren mit Geschichten, in denen Leute völlig überraschend für sie von Menschen verraten wurden, denen sie vertraut hatten – das entsprach einfach nicht Weras Wesen. Sie konnte gar nicht anders, als ihre Hilfe anzubieten.
»Ich glaube, es ist eine Figur, die ein von mir begangenes Unrecht wiedergutmachen will«, gab ich zu.
»Welches Unrecht?«
»Je weniger du darüber weißt, desto besser, glaub mir.« Ich spürte Jops brennenden Blick auf mir, ignorierte ihn aber für den Moment. »Ich muss wissen, welche meiner Figuren am rechtschaffensten ist. Welche hat einen ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und würde über ein begangenes Unrecht am schlechtesten hinwegsehen können? Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist es eine Frau.«
»Die Ermittler?«, antwortete sie wie aus der Pistole geschossen.
»Ja, aber wer noch? Ich habe das Gefühl, das ist viel zu offensichtlich.«
»In Ordnung, ich sehe mir die Bücher an und schicke dir eine Liste.«
»Ich sende dir gleich eine neue Nummer, verwende die.«
»Eine neue Nummer?«
Ich konnte ihr Stirnrunzeln beinahe hören.
»Kate, wo bist du? Du wirst doch keine Dummheit begehen, oder?«
»Na ja, nicht so eine Dummheit, wie an einem Samstagnachmittag auf die Buchmesse zu gehen, wenn die meisten Besucher dorthin wollen.«
Sie lachte. »Ja, das ist wirklich nicht sehr schlau.«
»Hör mal, Wera, ich wollte nur …«
»Ich weiß.«
Einen Moment lang trat Stille ein, dann sagte ich: »Mir tut es wirklich leid, dass alles so gekommen ist.«
»Mir tut es auch leid. Dass ich dich nicht vor der Presse beschützt habe und so.«
Ich musste schlucken. »Alles Schnee von gestern, ehrlich. Ich bin einfach froh, dass du mir jetzt hilfst.«
»Dafür bin ich doch da, oder?« Ich konnte die Tränen in ihrer Stimme hören. »Dafür hast du schließlich eine Lektorin.«
»Die beste.«
Wir schnieften beide.
»Pass auf dich auf, Kate«, sagte Wera leise.
»Ich werde es versuchen.«
Als ich das Gespräch beendet hatte, trommelte Jop mit den Fingern auf dem Lenkrad. »Habt ihr euch wieder versöhnt?«
»Ich denke schon.«
Er sah auf die Uhr. »Die Überfahrt dauert noch. Das wäre jetzt der passende Moment, um mir zu erzählen, warum wir so dringend diesen Sean Yu finden müssen.«
Ich atmete tief durch. Ich wollte ihm nicht erzählen, warum ich Sean suchte. Oder Kader. Woher ich Michael kannte und warum ich Rosalies Adresse eben nicht mehr brauchte. Aber ich ahnte, dass in all diesen Dingen der Schlüssel zum Geheimnis meiner Figur lag. Und Estelle hatte recht: Ich schuldete es ihnen beiden, die Wahrheit zu sagen.
Mit klammen Fingern rieb ich mir die Augen. Es wurde Zeit, sich meinen Erinnerungen zu stellen, denn ich konnte nicht ewig vor ihnen davonrennen. Dafür stand zu viel auf dem Spiel.
Ich warf einen Blick auf die große digitale Anzeige, die an einem Pfahl an der Reling befestigt war und die Minuten herunterzählte, die die Fähre noch benötigte, um das andere Ufer zu erreichen.
»Na schön, dann lass mich dir eine Geschichte erzählen …«, begann ich.
»Von Jungfrauen und Monstern?«, fragte Jop erschöpft.
»Ja. Von Jungfrauen und Monstern.«