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E s war der Sommer der toten Fliegen. Sie lagen auf Tischen, Fensterbänken und Kissen. Die Sonne verbrannte ihnen die Flügel, und in Dutzenden fielen sie von den Wänden und bedeckten sämtliche Oberflächen. Ich sparte auf meinen ersten eigenen Cityroller, der mir die Fahrten mit der Zirkelbahn ersparen sollte, und wachte nachts häufig auf, weil mir die Schienbeine wegen eines Wachstumsschubs schmerzten.

Während andere Jugendliche in meinem Alter ihre Wochenenden unter dem bunten Stroboskoplicht großer Diskotheken verbrachten, verschlang ich reihenweise Bücher, hörte mir in verranzten Indie-Clubs Texte von Autoren an, die kaum zehn Jahre älter waren als ich und soffen wie die Löcher. Dabei knutschte ich mit viel zu dünnen Jungs in schwarzen T-Shirts vor Toiletten herum, deren Türen nie richtig schlossen. Ich verliebte mich in die Falschen, bekam mein Herz ein paarmal gebrochen und erholte mich stets innerhalb weniger Tage, während ich davon träumte, eine berühmte Autorin zu werden.

Natürlich besaß ich mehrere alt aussehende Notizbücher und die dazu passenden Stifte, die ich bei jeder Gelegenheit aus der Tasche zog, um Gedanken festzuhalten, die ich für tiefgründig hielt, die aber schon Tausende Teenager vor mir ebenfalls in fleckige Hefte geschrieben hatten. Meistens traf ich mich mit Freunden aus Schreibgruppen in Cafés, in denen wir stundenlang traurige, von Selbstzerstörung handelnde Texte verfassten und so taten, als würden wir Kaffee mögen. Für manche von uns waren diese Treffen ein Hobby, für andere eine Überlebensstrategie, weil sie es zu Hause nicht mehr aushielten.

Es war eine ziemlich gute Zeit. Alles erschien mir überlebensgroß, intensiv und gestochen scharf, wie es sich nur in dieser viel zu kurzen Zeitspanne auf der Schwelle zum Erwachsenwerden anfühlt und danach nie wieder.

Ich war sechzehn.

Die Sommerferien bestanden aus einer Reihe unerträglich heißer Tage und kaum besserer Nächte, in denen jede Bewegung anstrengend wurde. Ich hatte einen lausig bezahlten Ferienjob in einem winzigen Freibad in Gründorf ergattert – einem Viertel, das ich nur selten betrat, weil ich niemanden kannte, der dort wohnte.

Es war eines der ältesten Viertel der Stadt (die Leute nennen es die grüne Lunge von Kapitolo) und bestand aus einem Gewirr winziger Gassen mit niedrigen Fachwerkhäusern, grauem Kopfsteinpflaster und der gelegentlich breiteren Straße, gesäumt von alten Gaslaternen, deren Licht längst durch Strom erzeugt wurde. Das gesamte Viertel war terrassenförmig angelegt und verlief über einen kleineren Hügel, dessen oberer Rand an den Dunkelbusch grenzte, den Wald, der Kapitolo im Norden umgab und nur auf ausgewiesenen Wegen, Pfaden und Lichtungen betreten werden durfte. Auf diese Weise wollte man verhindern, dass Figuren, die sich möglicherweise im Wald versteckten, auf Einwohner trafen und ihnen schadeten.

In Gründorf gab es kein Haus, dessen Fassade nicht von wildem Wein, Efeu oder anderen Ranken überwuchert war. Die Kronen alter Laubbäume bildeten ein Dach über den Gassen, die stets in dunkle, grüne Schatten getaucht wurden. Dazwischen befanden sich Parks, in denen zahlreiche Bänke standen, im Sommer Boule gespielt und an gemauerten Grillstellen bis spät in die Nacht gefeiert wurde.

Die Leute, die dort wohnten, waren weder arm noch außergewöhnlich vermögend. Häuser und Wohnungen wurden innerhalb der Familie weitervererbt, und so mancher galt auch in der dritten Generation noch als Zugezogener . Es hatte etwas sehr Dörfliches an sich, genau wie der Name vermittelte.

Das Freibad, in dem ich in jenem Sommer arbeitete, besaß den klangvollen Namen Josephine , und meine Eltern amüsierten sich prächtig darüber. Bis ich einwarf, dass die Namensgeberin möglicherweise Josefine Mutzenbacher gewesen sein könnte, und meine Mutter damit drohte, mir den Bibliotheksausweis zu entziehen, der zur Befriedigung meiner Leseleidenschaft so wichtig war.

»Manchmal sind lesende Kinder anstrengend«, behauptete sie und forderte mich auf, mich nachts mit Freunden auf Partys herumzutreiben so wie andere normale Teenager auch.

»Wer liest, kann nicht schwanger werden«, wandte ich altklug ein, woraufhin sie mich lachend aus der Küche warf.

Wir haben nie herausgefunden, nach wem das Josephine wirklich benannt wurde oder ob überhaupt irgendeine interessante Geschichte dahintersteckte – mein Ferienjob jedenfalls war alles andere als spannend.

Von zwei Uhr nachmittags bis abends um acht verkaufte ich aus einem Fenster heraus Eis, Snacks und Getränke an die Badegäste. In der winzigen Küche war es nur wenige Grad kühler als draußen, und so hing ich die meiste Zeit auf einem wackeligen Barstuhl herum, die Arme auf den Fensterrahmen gestützt, und beobachtete die Leute, die sich auf der Wiese um den Pool sonnten oder im Wasser versuchten, den hineinspringenden Kindern auszuweichen. Weil die Sonne auf dem türkisfarbenen Wasser unerträglich blendete, trug ich die meiste Zeit eine Sonnenbrille und sah schon am zweiten Tag aus wie ein Waschbär.

Die Stelle hatte ich über eine Anzeige in einem Stadtmagazin gefunden, in der explizit nach Schülern und Studenten gesucht worden war. Der Betreiber musste uns nur die Hälfte bezahlen, obwohl wir genauso in der Lage waren, die Fritteuse und den Getränkeautomaten zu bedienen, wie alle anderen auch. Ich begriff sehr schnell, dass wir nicht nur für Besen, Kasse und Kaffee angestellt worden waren, sondern auch dafür, junge Leute anzulocken, denen es nichts ausmachte, dass das Freibad seine besten Tage längst hinter sich hatte.

Das Mauerwerk des Gebäudes neben dem Pool besaß zahlreiche Risse, die sich wie Spinnennetze durch die altrosafarbene Fassade und unter dem dichten Efeu entlangzogen. Auch die Steinplatten rings um das Becken herum besaßen Sprünge, an denen sich so mancher Badegast die Zehen stieß. Neben der Kasse stand stets eine Schachtel mit Pflastern bereit, für den Fall, dass sich wieder einmal jemand eine blutige Zehe holte. Die Palmen in den riesigen Terrakottapflanzkübeln waren mehr gelb als grün, und nur wenige Meter hinter dem Drahtzaun begann der Dunkelbusch, der sich wie eine riesige Mauer düster im Hintergrund erhob. Dazwischen lag ein sonnenverbrannter Grasstreifen, für den sich die Stadtverwaltung offenbar nicht zuständig fühlte.

Hin und wieder schickte uns Herr Rawat, der Leiter des Freibads, auf die andere Seite des Zauns, wenn es mit dem hinübergeworfenen Müll zu schlimm wurde und die Abfälle zu riechen begannen. Aber die meiste Zeit überdeckte der Geruch nach Chlor und Sonnencreme ohnehin alles andere.

Im Nachhinein sehe ich noch immer keine Anzeichen dafür, was in jenem Sommer geschehen sollte. Es schien ein Sommer wie jeder andere in Kapitolo zu sein, nichts daran war wirklich ungewöhnlich – bis auf die Fliegen –, und wenn ich über diese Ereignisse nachdenke, so beginnt die Geschichte in der Geschichte wohl an einem Montag vier Wochen nach dem Schuljahresende.

Genau genommen an einem Nachmittag, an dem ich die Plakate mit Schauspielern und Bands von meinen Zimmerwänden riss und sie durch gerahmte Sinnsprüche und Zitate aus berühmten Romanen ersetzte. Ich hielt mich für zu alt für kindische Schwärmereien und nahm meine Kunst sehr ernst. In den Schubladen meines Schreibtischs lagen Dutzende Ausdrucke von Kurzgeschichten, die darauf warteten, bei Ausschreibungen und Nachwuchswettbewerben eingereicht zu werden. Ich hatte bereits erste kleinere Erfolge feiern können, und natürlich ging ich davon aus, dass der Weg zur Erfüllung all meiner Träume ein gerader sein würde. Stets nach oben und ohne Kurven.

Nachdem ich die Neugestaltung meines Zimmers beendet hatte, musste ich jedoch nicht nur Papierschnipsel vom Fußboden aufsaugen, sondern auch ein gutes Dutzend Fliegen, die über Nacht auf dem Teppich verendet waren. Doch am Ende war ich mit dem Ergebnis zufrieden, ich hatte das Gefühl, dass ich nun in eine neue Phase meines Lebens eintreten würde, der ich mit hohen Erwartungen entgegensah.

Als ich eine Stunde später bei Sean klingelte, erhielt meine gute Laune in der stickigen Hitze, die durch die Hausflure kroch, den ersten Dämpfer. Mit dem Handrücken wischte ich mir über die Stirn. Der Schweiß lief mir unter dem gelben Top den Rücken hinunter und sammelte sich unter dem Bund meiner Jeansshorts. In den unklimatisierten Containerhäusern in Neuwest war es kaum auszuhalten. Während draußen die Temperatur der 40-Grad-Marke entgegenkletterte, heizten sich die Räume innerhalb der Container noch weiter auf, und das Atmen brannte in den Lungen.

Es war nicht zu vergleichen mit den Altbauten, in denen meine Familie und deren Bekannte drüben in Mitte-West lebten. Die wenigen Straßen, die beide Viertel trennten, veränderten nahezu alles. Mit anderen Worten: Die Leute hier besaßen kaum Geld.

Fragte man diejenigen, die sich Wohnungen in der Altvorstadt leisten konnten, dem teuersten Viertel Kapitolos, war das natürlich alles dasselbe, der westliche Rand eben. Dabei wurde aus einer Ortszuweisung auch eine Bezeichnung für die Menschen, die dort wohnten. Man kam nicht nur von da, man war es auch.

Eigentlich bestanden die Häuser in Seans Straße gar nicht aus Containern, aber in der Gleichförmigkeit ihrer Grundrisse, Geschosse und Fassaden ähnelten sie Schiffsbehältern, von denen jemand acht, zwölf oder auch sechzehn übereinandergestapelt hatte. Der einzige Unterschied bestand in den farbigen Rahmen um die Fenster. Manche davon waren grün, andere rosa oder auch gelb. Mit den Jahren färbte das Wetter jedoch auch die zu einem einheitlichen Grau, das für Neuwest so typisch war.

Blinzelnd sah ich den Gang hinunter. Bei jeder noch so kleinen Bewegung quietschten die Sohlen meiner roten Sandalen auf dem Linoleumboden. Irgendwo schrien spielende Kinder, und im Treppenhaus klappte eine Tür. Ich breitete die Arme aus, in der Hoffnung, dass ich mir dadurch Linderung von der Hitze verschaffen könnte, aber es brachte gar nichts. Selbst mein Pferdeschwanz war am Ansatz feucht.

Hinter der Tür, auf der in abblätternder Farbe die Nummer 512 stand, gab es Gemurmel, bevor sie aufgerissen wurde und sich Sean mürrisch an mir vorbei in den Gang drängte. Als er sich bückte, um die abgewetzten Turnschuhe zuzubinden, rutschte ihm der Rucksack von der Schulter aufs Handgelenk, und er fluchte. Nach ihm erschien sein Großvater Paddy im Türrahmen.

Wenn ich dem alten Mann begegnete, wusste ich nie so recht, was ich zu ihm sagen sollte. Die meiste Zeit verstand ich ohnehin nur die Hälfte von dem, was er vor sich hin nuschelte, weil ihm mehrere Zähne fehlten. Doch aus irgendeinem Grund hatte der Alte einen Narren an mir gefressen und versuchte auch dieses Mal wieder, mich in ein Gespräch zu verwickeln.

»Es ist heiß«, sagte er, und ich nickte, während er sich am Oberschenkel kratzte. Dabei rutschte ihm die Trainingshose, die sowieso schon zu tief hing, noch weiter nach unten. »… kann man gar nicht mehr schlafen.«

»Meine Mutter hängt die Fenster ab«, antwortete ich unsicher.

Auch er nickte und blickte zu Sean, der wieder aufgestanden war und den Wohnungsschlüssel in die Hosentasche stopfte.

»Kommst du?«, fragte er mich ungeduldig, ohne seinen Großvater anzusehen.

Unangenehm berührt blickte ich zwischen den beiden hin und her. Ich wollte nicht unhöflich sein, wusste aber auch nicht, was ich zu dem alten Mann noch sagen sollte. Wie die meisten Teenager empfand ich Leute jenseits der fünfzig als uralt und fragte mich, wie sie es zulassen konnten, dass ihr Gesicht Falten bekam, ihr Rücken schmerzte oder sie bei Anbruch der Dunkelheit nicht mehr rausgehen wollten.

»Wann bist du zurück?«, fragte Paddy und umklammerte mit zitternden Fingern das Türblatt.

»Weiß ich noch nicht.« Sean sah ihn nicht an. »Du musst nicht auf mich warten.«

Der Alte wandte sich mit seinem zahnlosen Lächeln an mich. »Ich mache Kartoffelbrei und Klopse. Sein Lieblingsessen.«

Ich lächelte erneut und verkrampfte mir dabei fast die Kiefermuskeln. »Klingt gut.« Dann winkte ich unbeholfen und rannte Sean hinterher, der auf den Fahrstuhl zusteuerte. Doch kurz bevor er ihn erreichte, bog Sean ins Treppenhaus ab und rannte wie getrieben die Stufen hinunter.

»Warte doch mal!«, rief ich ihm nach, aber er hielt erst an, als er die Haustür aufgestoßen und vor dem gleißenden Sonnenschein Zuflucht im Schatten eines großen runden Betonpfeilers gefunden hatte. Dort zündete er sich eine Zigarette an.

Atemlos blieb ich neben ihm stehen. »Du bist so ein Arschloch«, sagte ich. »Dein Großvater versucht doch nur, nett zu sein.«

Er zuckte mit der Schulter, sah mich aber nicht an. Stattdessen fuhr er sich über die kurz geschorenen Haare am Hinterkopf. Über der Stirn schälte sich seine blasse Haut, weil er immer vergaß, sich auch den Kopf mit Sonnencreme einzuschmieren.

Gemeinsam starrten wir einen Moment lang auf den Platz vor dem Haus, auf dem ein paar Skater mit ihren Boards fuhren und sich zwei Mütter neben ihren Kinderwagen unterhielten.

»Es muss dir nicht peinlich sein …«, versuchte ich es erneut, erntete aber nur einen wütenden Blick, weshalb ich verstummte. Ich hatte keine Ahnung, wovon ich sprach, das sagte mir dieser Blick. Natürlich fand ich meine Eltern manchmal peinlich, aber ich hatte mich nie wirklich für sie geschämt . Wo Seans Eltern waren oder warum er bei seinem Großvater lebte, wusste ich nicht, und er machte keine Anstalten, es mir zu erzählen. Es gibt Leute, die kann man solche Dinge fragen – Sean gehörte nicht zu ihnen. Er war ein guter Schwimmer, das musste er als Rettungsschwimmer sein, und er trug eine Sicherheitsnadel im Ohr, die kein Schmuckstück war. Das waren die Dinge, die ich über ihn wusste, bei allem anderen hielt er sich bedeckt.

Manchmal ermahnte ihn Kader, Rawats rechte Hand, zu Schichtbeginn wegen des Ohrrings, aber das war Sean egal und unserem Chef wohl irgendwie auch. Es hatte sich nämlich herumgesprochen, dass Sean nicht zögerte, Typen, die Ärger machten, aus dem Josephine zu schmeißen, selbst wenn sie doppelt so breit waren wie er. Er hatte seinen Ruf als Terrier des Josephine weg, und Herr Rawat war zufrieden, wenn es ruhig blieb.

Kopfschüttelnd zog ich Sean zum Motorroller, den ich mir von unseren Nachbarn geborgt hatte. Wenn wir gemeinsam Schicht hatten, holte ich Sean meistens ab, weil sein Haus ohnehin auf meinem Weg lag. Mit mehr Schwung als nötig knallte ich ihm den zweiten Helm gegen die Brust, und er taumelte einen Schritt zurück, fing sich aber schnell wieder. Dann grinste er mich plötzlich an, und ich rollte mit den Augen. Als er sich hinter mich gesetzt hatte, deutete ich auf den Gepäckträger. Es war viel zu heiß, um zueinander aufzurücken oder die Arme um den Fahrer zu legen. Nur unsere Oberschenkel berührten sich und klebten sofort aneinander. Es war keine bequeme Fahrt, aber Sean beteiligte sich am Sprit, also nahm ich es in Kauf.

Während wir uns mit dem Motorroller durch den Sommerverkehr schlängelten, strich uns der warme Fahrtwind über die Haut, und über uns hing ein blendendes, wolkenloses Hellblau.

Ich mochte die breiten Hauptstraßen von Neuwest nicht besonders, deren grau glitzernder Asphalt Flecken auf meiner Pupille erzeugte, wenn ich zu lange darauf starrte. Doch Sean hatte mir geraten, die weniger befahrenen Seitenstraßen zu meiden. Es kam vor, dass Gangs Fahrer von Rädern und Rollern holten oder sogar aus Autos, wenn diese an Ampeln hielten. Ständig mussten wir anderen Rollern und Autos ausweichen, deren Abgase in der Hitze standen.

In Neuwest wohnten dreimal so viele Leute wie in der Altvorstadt, und das Viertel wimmelte nur so von Menschen. In den Straßen herrschte ein eigener Rhythmus, und als oberstes Gebot galt stets: Du kannst dich verfahren, aber stehen bleiben darfst du nicht. Dann brach hinter dir ein lautes Hupkonzert aus.

So schnell es ging, fuhren wir vorbei an einer langen Reihe von Geschäften, die sich rechts und links der großen Verkehrsadern auffädelten. Wir bogen auf den Platz 451 ein, den ein riesiger Kreisverkehr beherrschte, in dessen Mitte das bekannteste Wahrzeichen des Viertels stand. Es waren zwei gusseiserne, acht Meter hohe Statuen von Thomas Morus und Erasmus von Rotterdam, die über die Jahrzehnte zu rosten begonnen hatten wie ihre Utopien von einer besseren Zukunft.

Als wir endlich in die Schatten von Gründorf eintauchten, prallte die Kühle beinahe unangenehm auf unsere verschwitzte Haut, an der kleine Fliegen kleben geblieben waren. Wir hatten unsere Schicht noch vor uns und fühlten uns schon zu Beginn erschöpft.

Die nächsten Stunden verbrachte ich mit denselben eintönigen Handgriffen, die ich schon seit Ferienbeginn ausübte, während ich eine Abneigung gegen den Geruch von Kaffee und Frittierfett entwickelte und lernte, die Launen der Badegäste nicht persönlich zu nehmen.

Nachdem das Josephine am Abend seine Tore geschlossen hatte, stand die Sonne bereits tief, doch das Wasser verströmte noch immer einen intensiven Chlorgeruch, den ich auf immer mit der Erinnerung an diesen Sommer verbinden werde. Ich stellte die letzte Maschine aus, reinigte die Küche und taperte anschließend zu dem winzigen nierenförmigen Nichtschwimmerbecken, das schon vor Jahren trockengelegt worden war. Es diente der Spätschicht als Treffpunkt, um nach dem Dienst noch ein paar Minuten zusammenzusitzen. Seine Fliesen überzog ein Schmutzfilm, und im Abfluss wuchsen Blumen.

Ich legte mich an den Rand, die nackten Füße gegen die aufgeheizten Steinplatten gedrückt und den Handrücken auf die Augen gepresst. Im letzten Licht der Abendsonne färbten sich meine Knie rot. Ich lauschte den Geräuschen um mich herum, dem entfernten Autolärm, irgendwo in der Nähe gurrte eine Taube.

Kurz darauf gesellten sich auch die anderen zu mir, wir waren zu fünft, alle ungefähr im selben Alter, und schätzten und verachteten gleichermaßen die Eintönigkeit, die ein Ferienjob meistens mit sich bringt.

»Wollt ihr am Samstag mit zu einer Party kommen?«, fragte Michael, nachdem sich jeder eine Dose Cola genommen hatte, die ich aus der fürs Personal reservierten Kiste am Rand abgestellt hatte. Er rollte träge mit dem Skateboard von einer Seite des flachen Beckens zur anderen und plapperte dabei unablässig vor sich hin. Wieder einmal trug er kein T-Shirt, nur seine roten Bademeistershorts, und das weiße Tattoo auf seinen Rippen hob sich leuchtend gegen die dunkle Haut ab. Er war das, was mein Vater spöttisch einen »Mädchenschwarm« nannte.

Jeden Tag sahen wir atemlos dabei zu, wie er Telefonnummern einsammelte, ohne sich ein einziges Mal anzustrengen. Selbst wenn er sich nie bei den Mädchen meldete, nahmen sie es ihm nicht übel. Niemand erwartete, dass der beliebteste Junge des Sommers sich für einen interessierte. Tat er es dennoch, kam das einem Ritterschlag gleich.

Ähnlich häufig, wie er Telefonnummern angeboten bekam, wurde er auch auf Partys eingeladen. Und obwohl er andere Freunde besaß, waren wir in jenen Wochen diejenigen, mit denen er die meiste Zeit verbrachte. Vielleicht war ihm deshalb der Gedanke gekommen, uns einzuladen.

»Das ist doch lahm, Mann«, erwiderte Sean, der am Beckenrand mit den Händen in den Hosentaschen wie in Zeitlupe die Schuhsohlen gegen die Platten klackern ließ, als wäre er beim Irish Dance. Er hatte schon wieder eine rote Stirn, und ich wettete darauf, dass er sich in der Nacht blutig kratzen würde, weil es so juckte.

»Komm schon, saufen und Mädchen für nix!«, rief Michael und machte einen Ollie am Beckenrand.

»Oh, na dann.« Kader war anzuhören, dass sie sich über ihn lustig machte, auch wenn man nichts von ihrem Gesicht ablesen konnte.

Seit ich hier arbeitete, trug sie die blaue Verbrennungsmaske aus Silikon, die Nasenlöcher, Mund und Augen zwar frei ließ, aber auch Schatten darüber warf. Sie hatte bei einem Wohnungsbrand Verbrennungen zweiten Grades erlitten und musste die Maske viele Monate aufsetzen, um der verstärkten Narbenbildung entgegenzuwirken. Deshalb trug sie auch stets ein Baseballcap mit breitem Schirm, der ihr Gesicht zusätzlich vor der Sonne schützte. Ich wusste nicht, wie sie vor ihrem Unfall ausgesehen hatte, und es fiel mir manchmal schwer, sie anzusehen.

Kader war nur einen Meter sechzig groß und hatte schmale Schultern, genau wie ihre Mutter und ihre Schwester, wie ich später lernen sollte. Die Kleidung, die sie trug, war stets einen Tick zu lang, ich nahm an, dass sie von einer Verwandten geborgt war, da ihre eigenen Sachen im Feuer zerstört worden waren.

Wenn ich sie beobachtete, wie sie ganz still an einer Wand lehnte und das Geschehen um sie herum beobachtete, flößte mir ihr Anblick beinahe Furcht ein, weil sie wirkte, als würden ihr die Blicke der Leute nichts ausmachen. Es war mir unbegreiflich, wie sie so abgeklärt sein konnte.

Acht Wochen zuvor hatte jemand nachts im Keller ihres Hauses ein Feuer gelegt, und beide Wohnungen im Erdgeschoss waren komplett ausgebrannt. Kaders Familie war daraufhin zu ihrem Onkel gezogen, bei dem sie nun vorübergehend zu neunt in einer Vierzimmerwohnung lebten. Sie schluckte jeden Tag ein halbes Dutzend Schmerztabletten und massierte sich immer wieder fahrig die Stellen neben den Augen, um das Spannen der Haut zu lindern. Trotzdem gab sie den Job im Freibad nicht auf. Die Familie war auf das Geld angewiesen, behauptete sie. Kader arbeitete bereits das dritte Jahr während des Sommers im Josephine und war inzwischen so etwas wie Rawats Stellvertreterin. Er vertraute ihr sowohl mit der Anlage als auch bei der Sicherheit, wenn er nicht da war, was damals so gut wie immer war, da seine Frau gerade ein Baby zur Welt gebracht hatte.

»Ich würde gern auf die Party mitkommen«, sagte Rosalie vorsichtig von ihrem Platz auf der Treppe aus, die ins Becken führte.

Wir wandten ihr die Köpfe zu, weil keiner von uns an sie gedacht hatte, als Michael die Einladung ausgesprochen hatte, auch er nicht, da war ich mir sicher. Doch zurücknehmen konnte er sie nicht, ohne verletzend zu werden, und Michael war kein schlechter Kerl.

Es war nur so, dass man Rosalie leicht vergessen konnte. Sie besaß dünnes aschblondes Haar, viel zu große Schneidezähne und etwas hervorstehende Augen über der sommersprossigen Nase. Sie war zwar da, aber doch auch wieder nicht. Die meiste Zeit erledigte sie schweigsam Handlangerarbeiten und putzte die Toiletten. Wenn sie doch einmal sprach, war man schnell genervt. Entweder war sie zu langsam oder zu nervös, zu aufgedreht oder zu traurig, zu laut oder zu leise. Sie traf nie den richtigen Ton bei den Leuten und war schlichtweg immer irgendwie ein bisschen daneben. Jemand, der nie richtig passte.

Aber auch sie gehörte in jenen Sommermonaten zu uns, also ließen wir sie am Ende einer Schicht bei uns sitzen. Sean half ihr dabei, die schweren Trennleinen aus dem Wasser zu hieven, und Michael holte ihr die Putzutensilien vom Regal, an die sie nicht herankam, während ich hin und wieder mit ihr plauderte, wenn es vor dem Imbissfenster keine Schlange gab. Es tat uns nicht weh, und wir mussten keine coole Fassade aufrechterhalten, denn uns allen war klar, dass diese Kameradschaft eine Beziehung auf Zeit war. Wenn der Sommer vorbei war, würden wir wieder in unsere eigentlichen Leben zurückkehren und uns nicht wiedersehen.

Doch für ein paar Wochen, in diesem abgeschlossenen Kosmos, waren wir die Bruderschaft der zu engen Badeanzüge, klebenden Badehosen und schlappenden Badelatschen – und für einen kurzen Moment in der Zeit war Rosalie eine von uns.

»Na schön«, sagte Michael und breitete die Arme aus, während die Abendsonne seine Haut rötlich färbte. »Wer kommt mit?«

Zaghaft hob Rosalie die Hand, und ich brachte es nicht über mich, sie zu enttäuschen, weil ich wusste, dass es die einzige Einladung bleiben würde, die sie den ganzen Sommer über erhalten würde. Also hob auch ich die Hand.

Daraufhin zuckte Sean mit den Schultern und nickte. »Na schön.«

»Was ist mit dir, Kader?«, fragte ich.

Sie schüttelte den Kopf und legte eine Badelatsche auf ihre Coladose, um zu verhindern, dass Fliegen hineinflogen.

»Wir haben es versucht.« Michael rollte weiter von einer Seite zur anderen, und ich ließ mich zurück auf den Boden sinken.

Mit geschlossenen Augen lauschte ich wieder den Geräuschen um mich herum. Dem Klatsch und Tratsch, Seans Klackern, Michaels Rollen im leeren Becken und dem Rauschen des Dunkelbuschs jenseits des Zauns. Eine Fliege landete auf meinem Oberschenkel, und ich scheuchte sie träge davon.

Nach einer Weile sammelte Kader unsere leeren Dosen ein, um sie zurück in die Küche zu bringen. Kurz darauf rief sie plötzlich: »Verdammt!«, und blinzelnd öffnete ich die Augen.

Sie stand im Türrahmen und deutete mit dem Daumen hinter sich ins Dunkel der Küche. »Irgendwer hat zwei Kartons Würstchen geklaut.«

»Was?« Langsam setzte ich mich auf.

»Es ist eine Lücke in der Tiefkühltruhe.«

Ich erhob mich und ging zu ihr. »Aber ich war doch die ganze Zeit da.«

»Sicher warst du mal auf Klo.«

»Ja, aber …« Ich trat über die Schwelle, es dauerte einen Moment, bis sich meine Augen an das Dämmerlicht gewöhnt hatten.

»Ist nicht das erste Mal. In letzter Zeit passiert so was ständig.«

»Da muss jemand wirklich den richtigen Zeitpunkt abgepasst haben. Schnell rein und weg.« Sean trat hinter mir in die Küche und lehnte sich mit verschränkten Armen an den Kühlschrank.

Michael und Rosalie tauchten ebenfalls in der Tür auf und blockierten das hereinfallende Licht.

»Wer klaut denn vier Dutzend tiefgefrorene Bockwürste?«, rief Kader empört, fasste sich aber gleich darauf an die Maske, weil sie offenbar das Gesicht verzogen hatte.

Ich verspürte den Impuls, ihr die Hand auf die Schulter zu legen und sie zu fragen, ob es ihr gut ginge, aber ich hielt mich zurück. Kader mochte keine mitfühlenden Gesten, das hatte sie sehr schnell klargemacht. Sie redete kaum über das Feuer, und es war mir auch recht, da ich nie so genau wusste, was ich zu ihr sagen sollte.

»Leute, die eine Party feiern wollen«, beantwortete Sean ihre Frage mit einem Schulterzucken.

»Das ist doch beschissen«, murmelte sie.

Ich beugte mich über die Kühltruhe, um die Bestände zu überfliegen. »Fehlt sonst noch etwas?«

»Ich glaube nicht.«

Gemeinsam sahen wir uns um, aber die Regale schienen in Ordnung zu sein.

»Müssen wir jetzt die Polizei holen?«

Kader winkte ab. »Der Chef sagt, bei solchen Delikten lohnt sich der Aufwand nicht. Polizei wird nur geholt, wenn du jemanden erwischst, weil du dann zeigen musst, dass du das nicht tolerierst.« Sie stöhnte auf und deutete nach draußen, wo vier Kameras das Gelände des Freibads aufnahmen. »Jetzt muss ich hierbleiben und mir die Bänder ansehen.«

Die Kameras waren vor allem aus Versicherungsgründen da, falls doch einmal ein Badeunfall passieren würde – und als Abschreckung für Jugendliche, die sich nachts ins Bad schleichen wollten.

»Sollen wir bei dir bleiben?«, fragte ich, aber sie schüttelte den Kopf.

»Ich schließe hinter euch ab, und mein Vater kommt gleich, um mich abzuholen. Wir müssen einfach besser aufpassen, damit das nicht noch mal passiert. Und neue Würstchen bestellen.«

»Es ist die Hitze«, sagte Rosalie auf einmal leise. »Die macht die Leute komisch.«

»Und da klauen sie Würstchen?« Michael lachte, aber Rosalie zuckte nur mit der Schulter und stieß mit der Schuhspitze gegen den Türrahmen.

Wenige Minuten später verließen wir das Josephine , und Kader schloss hinter uns ab. Die Sonne war inzwischen fast hinter dem Wald untergegangen, und durch ihren roten Schein sah es aus, als würden die Bäume in Flammen stehen. Die Straßenlaternen waren angegangen und durchbrachen mit ihrem Licht die Schatten von Gründorf.

Als ich auf den Roller stieg und sich Sean hinter mich setzte, fröstelte mich auf einmal. Ich sah hinüber zum Dunkelbusch – und in diesem Moment hatte ich das erste Mal das Gefühl, beobachtet zu werden.

Es kam oft vor, dass mich jemand anschaute. Wartende in der Schlange vor dem Imbissfenster; Badegäste, die gelangweilt den Blick schweifen ließen, oder auch andere Jugendliche auf der Suche nach einem Sommerabenteuer. Ich war weder schüchtern noch extrovertiert, manchmal unsicher, manchmal viel zu selbstbewusst. Im Grunde war ich ein typischer Teenager, sah man einmal von der ganzen Leserei und dem beinahe zwanghaften Festhalten meiner Gedanken auf Papier ab.

Die meiste Zeit über störten mich die Blicke nicht. Doch das Gefühl, das mich an jenem Abend zum ersten Mal erfasste, als wir das Josephine verließen, war neu. Es beunruhigte mich, weil ich nicht herausfand, woher es kam. Ich spürte deutlich einen Blick aus dem Verborgenen heraus, der an mir klebte wie die Hitze jenes Sommers.

Allerdings war ich mir damals noch nicht sicher, ob ich mir das alles nur einbildete und mich das Gerede über einen Dieb, dem es gelungen war, sich an mir vorbeizuschleichen, vielleicht nur verunsichert hatte. Während ich nach Hause fuhr, versuchte ich, das Gefühl abzuschütteln, aber es verfolgte mich bis in meine Träume.