A m nächsten Morgen war ich groggy, weil ich unruhig geschlafen hatte, und diese Nervosität begleitete mich den ganzen Tag über. Am Nachmittag beschwerte sich ein Familienvater lautstark bei mir, weil die Bockwürste ausgegangen waren, deren Nachschub noch nicht geliefert worden war. Nachdem er mich endlich in Ruhe ließ, sank ich wieder auf den Hocker am Ausgabefenster. Die Hitze verwandelte die Luft in Melasse, und bereits nach wenigen Minuten war ich durchgeschwitzt, und mein Hintern klebte am Stuhl fest.
Rosalie leistete mir eine Weile Gesellschaft. Sie trug grüne Shorts, die aussahen, als würden sie ihrem Vater gehören, und dazu ein beiges T-Shirt, das ihr den Teint einer Leiche verpasste.
»Was wirst du am Samstag für die Party anziehen?«, fragte sie mich, während ich, den Kopf in die Hand gestützt, nach draußen starrte und mir die Sonnenbrille langsam die Nase nach unten rutschte.
»Weiß ich noch nicht. Rock und Shirt vielleicht.«
»Was, denkst du, soll ich anziehen?«
Irritiert sah ich sie an. »Woher soll ich das wissen, ich weiß doch gar nicht, was du im Schrank hängen hast.«
Sie nickte und knabberte am Fingernagel herum.
Angeekelt blickte ich wieder nach draußen.
»Denkst du, es gibt dort etwas zu essen?«
»Wahrscheinlich.«
»Und sicher auch Alkohol.«
Ich schnaubte. »Davon kannst du ausgehen.«
»Sollen wir gemeinsam hingehen?«
Dazu hatte ich eigentlich keine Lust, aber bevor sie mich noch fragte, ob sie zum gemeinsamen Schminken zu mir kommen könnte, antwortete ich hastig: »Wir treffen uns in der Zirkelbahn, ich schreibe dir, wenn ich eingestiegen bin.«
Erleichtert nickte sie. »Ich weiß gar nicht, worüber ich mit den Leuten sprechen soll. Ich meine, ich kenne da ja niemanden außer euch.«
»Herrje, Rosalie, wir doch auch nicht. Das ist eine Party. Du isst, trinkst, tanzt, und irgendwie ergibt sich der Rest.«
»Bei Leuten wie dir ergibt sich der Rest«, erwiderte sie leise. »Bei mir ergibt sich nie etwas.«
»Mhm?« Ich schob mir die Brille hoch.
»Leute wie du«, wiederholte sie.
»Leute wie ich? Was soll das heißen?«
»Na, hübsche Leute.«
Ich verjagte eine Fliege, die mir vor dem Gesicht kreiste. »Was glaubst du, wie viele hübsche Leute ich kenne, die total schüchtern sind und nie den Mund aufkriegen, wenn sie irgendwo sind. Das heißt doch gar nichts.« Ich sah ihr an, dass sie mir widersprechen wollte, es dann aber nicht tat. Das nervte mich beinahe noch mehr als ihre Äußerung.
»Glaubst du, dass es der Dieb noch mal versuchen wird?«, wechselte sie das Thema.
Reflexartig warf ich einen Blick über die Schulter auf die Hintertür, die auf die Rückseite des Gebäudes führte. Dort draußen standen die Mülltonnen, und bis zum Zaun waren es höchstens zwei Meter.
»Wer weiß«, murmelte ich.
Ich fragte mich, wie der Dieb am Tag zuvor hereingekommen war. Kader hatte die Videoaufzeichnungen der Überwachungskameras angesehen, aber nichts entdecken können. Sie filmten ohnehin nur den Außenbereich. Irgendwie hatte es der Dieb geschafft, stets im toten Winkel zu bleiben. Die Hintertür war tagsüber durchgehend geöffnet, aber kaum jemand verirrte sich auf diese Seite des Gebäudes.
Vielleicht war er auch über die anderen Räume von innen gekommen? Der Gedanke, dass er mich beim nächsten Mal überraschen könnte, verstärkte meine Nervosität.
»Vielleicht war es wirklich nur jemand, der spontan etwas wollte«, sagte Rosalie und deutete nach draußen. »Ich mach mich mal wieder an die Arbeit.«
Ich nickte und sah ihr nach, wie sie am Beckenrand entlanglief und sich ihre Hose durch die Wasserspritzer dunkel färbte.
Danach wurde es noch einmal hektisch, und erst als die meisten Badegäste wieder gegangen waren, um pünktlich zum Abendessen zu Hause zu sein, entspannte sich die Lage im Josephine ein bisschen. Es kamen kaum noch Leute an das Imbissfenster, daher beschloss ich, Rosalie beim Aufräumen zu helfen. An mir nagte das schlechte Gewissen, weil ich zuvor so kurz angebunden gewesen war, dabei wusste ich doch, dass sie selten auf Partys ging. Ich nahm mir eine Plastiktüte, schloss die Küche ab und lief über die Wiese, um Müll einzusammeln. Die wenigen Badegäste, die noch hier waren, beachteten mich nicht. Ein leichter Wind kam auf, der kaum Kühlung brachte, und über uns flatterten die Palmenwedel geräuschlos vor sich hin. Ich musste mich immer wieder bücken, um den Abfall aufzuheben, auch die eine oder andere Badelatsche und das gelegentliche Handtuch. Dabei lief ich in einigem Abstand zu dem Maschendrahtzaun entlang, hinter dem sich der Dunkelbusch befand.
Auf einmal erfasste mich wieder dieses merkwürdige Gefühl, beobachtet zu werden. Ruckartig richtete ich mich auf, die Tüte fest in der Hand. Ich sah mich um, aber die anderen waren mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt, und die letzten Badegäste packten ohne Hast ihre Sachen zusammen. Niemand sah zu mir herüber.
Trotzdem kribbelte es mir zwischen den Schulterblättern, und irritiert trat ich langsam näher an den Zaun heran. Ich steckte die Finger in die Maschen und starrte in das dunkle Dickicht jenseits des Grasstreifens, aber ich konnte nichts Ungewöhnliches erkennen. Ich kniff die Augen zusammen und hob den Blick in den wolkenlosen Himmel, aber auch dort gab es nichts zu entdecken.
»Was machst du denn da?«, fragte mich plötzlich Kader, die neben mich getreten war, um die Schlösser an den beiden Türen im Zaun zu überprüfen, so wie sie es jeden Abend tat. Neugierig betrachtete sie mich von der Seite.
Zögerlich deutete ich auf den Wald. »Siehst du da etwas?«
Sie starrte hinüber. Doch hinter dem Zaun war nichts zu sehen außer den krummen Bäumen, die jeden Tag dort standen. Ihre Wipfel bewegten sich sanft hin und her, aber zwischen den Stämmen regte sich nichts.
»Alles wie immer«, antwortete sie, und ich seufzte.
»Es war nur so ein Gefühl …«
Sie schaute mich an, als wäre mir die Hitze nicht bekommen, und unter der Sonnenbrille lief ich rot an.
Hastig wandte ich mich ab. Doch das Gefühl ließ mich nicht los. Es war wie ein unangenehmer Juckreiz, der schlimmer wurde, wenn man kratzte. Ich beeilte mich damit, den Müll einzusammeln, in den Wald blickte ich nicht mehr.
»Wahrscheinlich waren es nur Spaziergänger«, sagte Sean eine halbe Stunde später, als wir wieder um das alte Nichtschwimmerbecken saßen und eine letzte Cola tranken.
»Das ist abseits der Wege doch verboten, oder?«, wandte ich skeptisch ein. »Und es führt auch kein Wanderweg hier hinten am Josephine vorbei.«
Kader schluckte eine ihrer Schmerztabletten mit Cola und setzte sich in einen pinken Schwimmring, den ein Badegast vergessen hatte. Sie sah aus wie eine Puppe, deren Glieder vom Mittelteil abgespreizt worden waren.
»Passiert trotzdem hin und wieder«, sagte sie. »Abenteuerlustige, die Nervenkitzel suchen. Oder Pilzsammler, die sich nicht an die ausgewiesenen Plätze halten, weil die Ausbeute tiefer drin größer ist.«
»Jetzt ist doch gar keine Pilzsaison«, erwiderte Rosalie und fing sich einen genervten Blick ein.
»Vielleicht war es eine Figur«, sagte Michael auf einmal grinsend. »Ein Bär! Oder ein Wolf! Ich habe gehört, der Wald soll voll davon sein. Deshalb erlaubt die Stadt auch nicht, dass man abseits der Wege läuft.«
Rosalie nickte eifrig. »Oder Rotkäppchen.«
»Klar, Frankensteins Monster«, warf Sean trocken ein.
»Hört doch auf«, erwiderte ich. Es ärgerte mich, dass Kader den anderen erzählt hatte, was ich zu ihr gesagt hatte. Es war keine große Sache, aber sie hätte wissen können, dass sie mich damit aufziehen würden. »Das sind doch alles nur Urban Legends.«
»Hast du vergessen, dass in dieser Stadt auch Urban Legends wahr werden können? Was war mit dem als Hund gehaltenen Braunbären? Über den hat jemand geschrieben, und schwups, ist er in diese Bäckerei gelaufen.«
»Es gab schon ewig keine Figuren mehr im Wald. Statistisch gesehen kommen die meisten Figuren im Hafenviertel vor. Das habe ich neulich erst gelesen.«
»Kann schon sein«, sagte Kader in einem seltsamen Ton, der mich dazu brachte, die Sonnenbrille nach oben zu schieben und sie anzusehen.
»Das meinst du doch nicht ernst, oder?«
»Warum denn nicht? Hier ist doch alles möglich.« Sie hob die Arme in die Luft und meinte wohl die Stadt, dabei stieß sie an das Baseballcap, das ihr vom Kopf rutschte. Das kurze braune Haar, das gerade erst wieder nachwuchs, stand wild vom Kopf ab. Es überdeckte noch nicht überall die kahlen Stellen, wo das Feuer ihr die Haut verbrannt hatte. Hastig setzte sie das Cap wieder auf. Der pinke Badereifen bildete einen seltsamen Kontrast zu dem Anblick, den sie bot.
»Das hätte doch irgendjemand gemerkt«, erwiderte ich. »Die Forstwacht oder so.«
Träge streckte sie die Beine aus und wackelte mit den Zehen, sodass ihre Badelatschen schief hingen. Ihre Beine waren im Feuer unversehrt geblieben, die Flammen hatten nur das Gesicht erfasst.
»Soll ich dir mal sagen, was in Kapitolo alles nicht bemerkt wird?«, flüsterte sie. »Von denen treiben sich hier noch sehr viel mehr rum, als man denkt.«
Sean verdrehte die Augen und kratzte sich an der Stirn, aber Kader ließ sich nicht beirren.
»Habe ich euch schon mal von der Nacht des Feuers erzählt?« Sie wartete unsere Antworten nicht ab. »Die Feuerwehr war gerade dabei, uns durchs Küchenfenster zu evakuieren, da ist mein kleiner Bruder vor Angst zur Wohnungstür gerannt. Es war eine Panikreaktion, er ist uns einfach entwischt. Aber dieser Ausgang war versperrt, es war schon eine riesige Feuerwand davor, weil die Flammen vom Keller aus das Treppenhaus erfasst haben. Ich war am dichtesten an ihm dran, deshalb bin ich ihm nachgerannt, um ihn davon abzuhalten, die Tür zu öffnen. Aber es war schon zu spät. Als er die Tür geöffnet hat, hat er sich an der Klinke fürchterlich die Hand verbrannt, und eine Stichflamme …« Sie deutete auf ihr Gesicht. »Irgendwie hat er Glück gehabt, weil er kleiner war als ich. Die Flamme kam auf meiner Höhe hereingeschossen.« Sie machte eine Pause und atmete tief durch, bevor sie weitersprach. »Meine Eltern haben mich von der Tür weggezogen, ich kann mich nicht mehr an alles erinnern, es ging ja zu schnell. Angeblich habe ich wie am Spieß geschrien. Meine Schwester …« Wieder brach sie ab.
Was auch immer ihrer Schwester passiert war, sie konnte nicht darüber reden. Wir wussten nur, dass sie noch immer im Krankenhaus lag.
Eine Weile schwiegen wir, dann räusperte sich Kader.
»Hat nicht lange gedauert, bis sie den Brandstifter gefunden haben.« Sie sah uns nacheinander an, als wolle sie sicher sein, dass ein jeder von uns ihr auch wirklich zuhörte. »Es war eine Figur aus einem Regionalkrimi. Elfter Band einer Reihe«, sagte sie verächtlich. »Die muss sich schon seit Wochen bei uns versteckt haben. Von wegen, das müsste jemand merken.«
Sean kickte mit den Fersen an die Fliesen. »Glaubst du, die hat das Feuer absichtlich gelegt?«
»Für die VdF sah es jedenfalls so aus.«
»Was war mit dem Autor?«, fragte ich.
»Verhaftet. Die Autorin wird sicher einsitzen. Und zu Recht, wenn ihr mich fragt!«
Zögerlich nickte ich. Ich wollte keinen Streit beginnen.
»Schätze, es wird keinen zwölften Band mehr geben«, sagte Michael und lachte unbeholfen.
»Es sei denn, es findet sich irgendein Kleinverlag, der die Lizenz übernimmt! Nur weil die Autorin nicht weiterschreiben kann, heißt das doch nicht, dass die Reihe tot ist. Gibt es doch immer wieder, dass abgesetzte Reihen von großen Verlagen in kleinere wandern. Erinnert ihr euch an die Blutigen Gutenacht geschichten ? Nach sieben Bänden sind die auch völlig neu herausgegeben worden und danach noch mal richtig durchgestartet. Und dann ist da so ein Typ mit der Axt in Kapitolo aufgetaucht!« Kader sah wieder zum Wald hinüber, als erwarte sie, dass jeden Moment eine Figur daraus erscheinen würde. »Ich mag Bücher einfach nicht. Und ich verstehe nicht, wie jemand das Risiko eingehen kann, solche Kreaturen auf die Leute loszulassen. Meines Erachtens sind das alles Verbrecher, diese Autoren!«
»Na ja, sicher nicht alle«, warf ich ein, aber sie hob nur stur das Kinn. »Nicht jede Figur ist ein Monster«, versuchte ich es noch einmal vorsichtig.
Kader schnaubte. »Aber meine war es.«
Der Satz hing über uns wie ein drohendes Gewitter, und was konnte ich schon dagegen sagen, sie hatte ja recht. Mir war klar, dass sie meine Argumente nicht hören wollte, und ich im Gegenzug wollte ihr nicht wehtun, also wechselten wir das Thema. Das Gespräch hatte jedoch ein unangenehmes Gefühl in mir hinterlassen.
Niemand hatte mich je für mein Hobby kritisiert oder mich darauf angesprochen, was passieren würde, wenn eine meiner Figuren nach Kapitolo gelangen sollte. Zum fünfzehnten Geburtstag hatten mir meine Eltern eine Figurenhaftpflichtversicherung für Minderjährige geschenkt, aber selbst sie gingen davon aus, dass diese nie zum Einsatz kommen würde. Im Grunde glaubten wir wie die meisten Leute daran, dass verbrecherische Figuren von Leuten kamen, die es mit dem Gesetz selbst nicht so genau nahmen. Außerdem war es in der Geschichte der Stadt bisher sehr selten dazu gekommen, dass sich minderjährige Autoren vor der VdF rechtfertigen mussten. Ein halbes Dutzend Mal vielleicht. Das Thema kam also so gut wie nie auf den Tisch.
Kaders offener Hass Figuren und Autoren gegenüber war etwas völlig Neues für mich. Ich wusste nicht, was ich davon halten sollte, beschloss aber, über mein Hobby zu schweigen.