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A m Nachmittag des folgenden Tages kam Kaders Mutter im Josephine vorbei. Sie war eine schmale, kleine Frau. Ihre Haut wirkte fahl, und sie lächelte nicht. Sie hatte etwas Gehetztes an sich, was kein Wunder war, bei dem, was der Familie gerade widerfahren war. Sie brachte Koshari vorbei, aus dem Kader später die Zwiebeln herausfischen würde, so wie jedes Mal.

Die meisten Tage aß Kader das gleiche Gericht aus einer kleinen ehemaligen Eisverpackung, die sie stets ordentlich ausspülte und wieder mitnahm. Sie kaufte sich auch nie Limonade oder Fast Food für ihre Pausen im Josephine . Ich nahm an, dass sie sparen mussten, um die zerstörten Sachen zu ersetzen, weshalb mir meine Mutter manchmal eine Schale Erdbeeren und Schüsseln mit Obstsalat für alle mitgab.

Kaders Mutter erkundigte sich, wie es uns ginge. Ich fand sie sehr nett, und es tat mir leid, wie schwer es die Familie hatte. Sie berichtete auch von Kaders Schwester, die immer noch krankgeschrieben sei. Es ginge ihr ein bisschen besser, behauptete sie, aber an der Art, wie Kader die Schultern hochzog, erkannte ich, dass sie das nur sagte, um Kader aufzuheitern. Die ganze Zeit über, während ihre Mutter bei uns war, wirkte Kader nervös. Sie zupfte an ihrer Maske herum und gab einsilbige Antworten auf alles, was ihre Mutter sagte. Ich hatte den Eindruck, sie wollte sie so schnell wie möglich loswerden.

»Sie ist wirklich sehr nett«, sagte ich zu ihr, nachdem ihre Mutter gegangen war, doch sie erwiderte nur: »Seit dem Brand ist sie überhaupt nicht mehr sie selbst. Da kannst du sehen, was diese Monster anrichten.« Sie verstaute das Essen im Kühlschrank und trat dann neben mich, um zu begutachten, was ich mit Kreidestift auf die Anzeigentafel schrieb, die ich auf den Knien balancierte.

Ich saß auf dem Barhocker vor dem Fenster und führte in winziger Schrift unser Tagesangebot auf. Im Grunde änderten sich ohnehin nur die Kuchenangebote, die wir täglich von einem Bäcker drei Straßen weiter geliefert bekamen. In diesem Sommer waren das meistens Streusel- und Rührkuchen, weil alles andere zerlief, bevor es Kaffeezeit wurde.

Ich konnte Kader nicht in die Augen blicken, weil ich Angst hatte, sie könnte mir ansehen, dass ich am Tag zuvor die Taube freigelassen hatte.

Sie verschränkte die Arme und deutete durch das offene Fenster hinüber in den Wald. »Wer weiß, was da drinnen noch lauert.«

Auch ich sah nun zu den Bäumen. Bisher war der Dunkelbusch für mich ein Wald wie jeder andere gewesen. Ein bisschen unheimlich, aber nicht richtig bedrohlich. Es gab Dutzende wie ihn in diesem Land, und um die meisten rankten sich irgendwelche Legenden. Ich war nie ein großer Fan von Wandern oder Campen gewesen, daher drängte es mich auch nicht hinein. Meine Eltern waren ein paar Mal mit mir auf den ausgeschilderten Wegen spazieren gegangen, aber mein Interesse an diesen Ausflügen hielt sich in Grenzen.

Doch nach ihrem Unfall war der Dunkelbusch für Kader zu etwas anderem geworden. Etwas, das in seiner undurchdringlichen Dichte Kreaturen verbarg, vor denen man Angst haben und die man vernichten musste. Sie war überzeugt, dass dort etwas auf uns alle lauerte, und bekam dabei selbst etwas Lauerndes.

Während wir aus der Wärme der Küche in das kalte Dunkel starrten und sich unsere Schultern dabei berührten, wusste ich plötzlich sehr genau, dass ich das Richtige getan hatte. Wenn Kader die Taube gefunden hätte, hätte sie ihr den Hals umgedreht.

Eine Stunde später ging ich in den kleinen Lagerraum, der an die Küche anschloss, um weitere Burgerbrötchen zu holen, und stellte fest, dass sich dort, wo die Pakete im Regal gelegen hatten, nun eine Lücke befand. Ich war mir sicher, dass die Lücke am Vortag noch nicht existiert hatte, weil ich die Bestände am Ende einer Schicht kontrollierte und es Vorschriften gab, wie viel von jeder Sache vorhanden sein musste.

»Das darf doch nicht wahr sein«, schimpfte Kader, als ich ihr das Regal zeigte. »Nicht schon wieder!«

»Ich war doch die ganze Zeit hier.« Hilflos hob ich die Hände. »Ich schwöre dir, als ich auf Toilette gegangen bin, habe ich Rosalie gefragt.«

»Es muss nachts passiert sein.«

Skeptisch sah ich zur Hintertür. »Müsste man dann nicht Einbruchsspuren sehen?«

»Nicht, wenn jemand einen Schlüssel hat.«

»Was machen wir jetzt? Doch die Polizei rufen?«

Sie seufzte. »Lass mich das mal mit Rawat bereden, dann sehen wir weiter.« Sie zückte das Handy und verließ die Küche, um im Büro in Ruhe zu telefonieren, während ich mit einem Klemmbrett bewaffnet die Bestände kontrollierte. Es fehlte nichts weiter.

Warum nahm der Dieb immer nur einige wenige Sachen mit und nie die Dinge, die er vielleicht noch zu Geld machen konnte? Er vergriff sich weder an den technischen Geräten noch an den wenigen Medikamenten, die sich im Erste-Hilfe-Schrank befanden, er stahl immer nur Essen.

Ich suchte die Küche nach Spuren ab, fand aber nichts, das mir verdächtig erschien. Alles stand genau da, wo es immer gestanden hatte, und ich konnte weder am Fenster noch an den Türen Kratzspuren erkennen. Kader hatte vermutlich recht, der Dieb besaß einen Schlüssel. Das bedeutete, dass der Besitzer sämtliche Schlösser austauschen lassen musste. Davon war er sicher nicht begeistert.

Ich ging durch die Hintertür hinaus und schaute auf den eingestampften Lehmboden, der sich hinter dem Gebäude befand. Zum Zaun waren es nur wenige Meter. Der Geruch der Mülltonnen überdeckte hier hinten sogar das Chlor. Es waren Fußabdrücke im Boden zu erkennen, allerdings konnte ich nicht sagen, von wem, immerhin liefen wir ja auch hier draußen herum.

Ich schaute sogar rauf zum Dach, aber es war kein Efeu heruntergerissen worden oder sonst irgendeine Beschädigung zu sehen. Wahrscheinlich war es viel einfacher, einen Schlüssel zu entwenden, als ich annahm. Die Badegäste mussten ständig ins Gebäude, schließlich befanden sich hier die Umkleiden und Toiletten, und wer ein bisschen geschickt war, konnte sich leicht an den Mitarbeitern vorbeischleichen. Vielleicht war auch kein Schlüssel nötig, und der Dieb war am helllichten Tag hereingekommen und hatte seinen Moment abgepasst.

Wie bei einem überraschenden Niesen, das einem aus dem Nichts heraus überfiel, erfasste mich auf einmal erneut das Gefühl, beobachtet zu werden, das ich inzwischen schon so gut kannte. Ich konnte den neugierigen Blick so plötzlich auf mir spüren, als hätte mir jemand die Hand auf die Schulter gelegt.

Ich wich in den Schatten des Hauses zurück und stand dicht bei der Wand neben der Tür. Mein Blick versuchte, das Dunkel des Waldes jenseits des Zauns zu durchdringen. Und diesmal war ich mir sicher, dass ich dort etwas sah! Eine Bewegung. Eine Silhouette. Vielleicht jemanden, der im Wald spazieren ging. Oder einen Spanner.

»Hallo!«, rief ich, aber es antwortete niemand. Ich rief ein zweites Mal. »Ich weiß, dass du da bist. Und nur damit du es weißt, wir werden die Schlösser austauschen!«

Es knackte im Unterholz.

Ich trat näher an den Zaun heran, um meinen Beobachter auf frischer Tat zu ertappen und zur Rede zu stellen.

Es raschelte, und der Schatten bewegte sich tiefer ins Dunkel des Waldes.

Schnell ging ich noch ein paar Schritte voran. Vielleicht würde ich einen Blick auf denjenigen erhaschen können, der sich dort versteckte.

»Was machst du denn schon wieder?«, ertönte da hinter mir Seans Stimme. »Erst hockst du neben der Spüle, und dann schreist du den Wald an. Bist du sicher, dass bei dir alles in Ordnung ist?« Er klang amüsiert, als er nach draußen trat, winkte mich jedoch hektisch herein. »Vor dem Fenster wartet eine Schlange darauf, dass du ihnen labberige Bockwürste in mehlige Brötchen legst.«

Angewidert verzog ich das Gesicht.

»Was denn?«, fragte er nur und zündete sich eine Zigarette an.

»Du hättest sie bedienen können.«

»Ich habe Pause.« Grinsend lehnte er sich an die Hauswand und winkelte das Bein an.

Nach einem letzten enttäuschten Blick in den Wald beeilte ich mich, meinen Platz am Fenster wieder einzunehmen. Den Rest der Schicht verbrachte ich grübelnd, ob ich die Einzige war, die dieses seltsame Gefühl überkam, oder ob es noch einer der anderen verspürte. Hatten sie wirklich nichts bemerkt, oder trauten sie sich wie ich einfach nicht, etwas davon zu erzählen, weil sie Angst hatten, jemand würde sie damit verspotten?

Diese Überlegungen verfolgten mich bis nach Hause. Das Abendessen war eine schweigsame Angelegenheit, weil meine Eltern zu jener Zeit beruflich sehr eingespannt waren. Eine lähmende Erschöpfung hatte uns erfasst, die zur Hälfte der Hitze geschuldet war und zur anderen Hälfte den Dingen, die uns jeweils beschäftigten.

Nach dem Essen zog ich mich in mein Zimmer zurück, telefonierte eine Weile mit Olga, die ich in jenem Sommer nur selten zu Gesicht bekam, weil wir beide jobbten. Anschließend schrieb ich an einer Kurzgeschichte weiter, die von einem Erdbeben handelte, das einen kleinen Laden erfasste, der mit Glaswaren handelte. Ich hatte vor, den Text bei einem Nachwuchswettbewerb einzureichen, der überregionale Aufmerksamkeit erhielt. Darüber vergaß ich die Zeit, bis kurz nach zehn Uhr mein Handy klingelte.

Es war Michael. »Mach mal das Fenster auf«, sagte er.

Als ich mich aus dem Fenster lehnte, um nach unten auf die Straße zu sehen, winkte er zu mir herauf. Er stand an eine Laterne gelehnt, ein dünner Hoodie über dem T-Shirt.

»Kann ich raufkommen?«

»Jetzt?«

Er senkte den Kopf und murmelte ins Telefon: »Ich bräuchte einen Platz zum Schlafen.«

Ich winkte ihn herauf und schloss verwundert das Fenster. »Ich frage meine Eltern«, sagte ich ins Telefon.

Zuerst öffnete ich ihm die Tür, und als seine Schritte im Treppenhaus erklangen, ging ich rüber ins Wohnzimmer, um mit meinen Eltern zu reden. Sie waren von der Idee, dass ein fremder Junge spontan bei uns übernachtete, nicht begeistert, ließen sich aber breitschlagen, als ich ihnen erzählte, Michael hätte es zu Hause nicht leicht, und ich würde ihnen alles am nächsten Morgen erklären. Ich hoffte, bis dahin hätte er mir ebendiese Erklärung gegeben, denn bisher hatte ich nicht den Eindruck gehabt, dass es bei ihm zu Hause großen Ärger gab.

Er war das jüngste von vier Kindern, alles Jungs, seine Eltern hatten ihre eigene Praxis in Mitte-West, nur wenige Straßen von uns entfernt, und soweit ich wusste, war die ganze Familie ziemlich erfolgsverwöhnt.

Er stellte sich meinen Eltern kurz vor, wobei ich das erste Mal seinen Nachnamen hörte. Jones. Wie in Tom Jones , dem Roman von Henry Fielding. Im Josephine hatte sich keiner von uns mit vollständigem Namen vorgestellt, und ihn nun von Michael zu kennen, war irgendwie merkwürdig, als hätte der Nachname beinahe einen anderen Menschen aus ihm gemacht. Der Einzige, von dem ich bisher den Familiennamen gekannt hatte, war Sean, weil ich an seinem Klingelschild läuten musste.

Nach der obligatorischen Vorstellungsrunde zog ich Michael in mein Zimmer, wo er sich neugierig umsah. Er nahm dieses und jenes in die Hand und las die Sinnsprüche an der Wand.

»Nett hast du es hier«, sagte er schließlich, und ich zuckte nervös mit den Schultern.

Ich hatte nicht allzu oft Jungs bei mir, Benny hatte zwei Monate zuvor mit mir Schluss gemacht, und seitdem hatte niemand mehr hier übernachtet. Ich ging nicht davon aus, dass Michael sich bei mir einschleichen wollte, um einen Annäherungsversuch zu starten. In den letzten Wochen hatte er ein paarmal mit mir geflirtet, so wie es eben seine Art war, aber er hatte nie mehr versucht und mich auch nicht zu Dates eingeladen. Die Bruderschaft der Badelatschen datete nicht untereinander.

Einen Moment lang herrschte eine eigenartige Stimmung zwischen uns, dann mussten wir beide lachen, und ich sagte: »Du kannst auf dem Fußboden schlafen.«

Er grinste, und das war es. Danach stellte sich die alte Leichtigkeit zwischen uns wieder ein. Michael war nett, aber er war nicht mein Typ, und ich wohl auch nicht seiner.

»Willst du etwas trinken? Saft? Tee?«

»Saft.«

»Kommt sofort.«

Als ich kurz darauf mit zwei Gläsern zurück ins Zimmer kam, legte er schuldbewusst das Notizheft auf den Schreibtisch zurück, das dort noch aufgeschlagen gelegen hatte.

»Entschuldige, ich wollte nicht schnüffeln«, sagte er, das schlechte Gewissen stand ihm deutlich ins Gesicht geschrieben.

Verunsichert zuckte ich mit der Schulter und räumte das Heft zur Seite. »Schon okay, es ist nur ein Hobby.«

»Ich hab’s mit dem Lesen nie so gehabt. Ich bin mehr der körperliche Typ.« Er grinste mich an.

»Lesen ist körperlich, du Scherzkeks. Wusstest du, dass beim Lesen genau die Hirnareale aktiviert werden, die wir für das bräuchten, was die Figur tut? Wenn wir also über eine Figur lesen, die weint, reagieren auch bei uns die Synapsen, die aktiviert werden, wenn wir weinen. Auf diese Weise entstehen neue Wege in unseren Gehirnen. Der alte Spruch, dass wir durchs Lesen lernen, stimmt tatsächlich.«

»Wenn ich also über eine Figur lese, die Sex hat …«

»Das nennt man Pornografie, aber ja, vermutlich gilt das auch dafür. Eigentlich wollte ich darauf hinaus, dass es kein Wunder ist, dass uns Bücher manchmal so real erscheinen und Figuren wie Freunde.«

»Bitte sag mir, dass du richtige Freunde hast und nicht nur eingebildete.«

Ich verdrehte die Augen. Diese Reaktion war ich schon gewohnt von Leuten, die meine Liebe zu Büchern nicht teilten. Ich ließ mich aufs Bett fallen, und er streckte sich auf dem Fußboden neben mir aus.

Abwechselnd langten wir in eine Schale Cashewkerne, die zwischen uns auf dem Boden stand, unsere Gläser balancierten auf dem Kopfteil meines Betts, Bierdeckel schützten die Getränke vor den Fliegen, die sich in alles stürzten, das keinen festen Aggregatzustand besaß. In jenem Sommer perfektionierten wir alle die Kunst, mit dem Mittelfinger tote Fliegen aus unseren Gläsern, Tassen und Schüsseln zu fischen und sie mit einem Schnipsen von uns fortzutransportieren.

»Willst du mir erzählen, warum du hier bist?«, fragte ich nach einer Weile, weil er nicht damit anfing, und knüllte mir das Kissen unter dem Kopf zurecht.

»Zu Hause gab es Stress mit meinen Brüdern.« Er zögerte einen Moment, dann zog er sich das T-Shirt über den Kopf und zeigte mir seinen nackten Rücken. Er war übersät mit blauen Flecken.

Entsetzt richtete ich mich auf. »Sie verprügeln dich?«

»Das würde ich nicht sagen.« Er zog sich wieder an, ich konnte sehen, dass es ihm schwerfiel, die Arme zu heben. »Das ist einfach ihre Art. Sie ringen ständig miteinander oder boxen oder sonst irgendeinen Scheiß. Sie wollen mich abhärten.«

»Abhärten? Wofür denn?«

»Fürs Leben.«

»Was sagen denn deine Eltern dazu?«

»Dass das ihre älteren Brüder auch mit ihnen gemacht haben.« Er zog sich die Ärmel des Hoodies über die Hände, obwohl es dafür viel zu warm war.

»Und wie oft passiert das?«, fragte ich vorsichtig. »Ich meine, seit ich dich kenne, sehe ich dich immer ohne Shirt, mir ist das noch nie aufgefallen.«

Er blickte mich nicht an, als er antwortete. »Es ist schon okay, meine Brüder wohnen nicht mehr bei uns, sie sind ja alle älter. So was passiert nur manchmal, wenn wir alle aufeinandertreffen. Sie meinen es nicht böse.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte. Mein Umgang mit Sean hatte mich gelehrt, vorsichtig mit Ratschlägen zu sein, wenn ich die Situation nicht richtig verstand. Wieder einmal fiel mir auf, wie viel Glück ich bisher gehabt hatte und wie gut es mir im Grunde ging.

»Warum bist du zu mir gekommen?«, fragte ich leise.

»Weil meine Freunde …« Er zuckte mit der Schulter. »Du weißt doch, wie das ist, Kate, man kennt sich schon ewig … Meine Brüder, meine Freunde, deren Brüder, alles ein Umfeld …« Er seufzte. »Ich brauchte einfach mal eine Pause. Morgen gehe ich wieder zurück, aber heute …«

Ich nickte zögerlich. »Was hast du deinen Eltern gesagt?«

»Dass ich bei einem Mädchen bin.« Er grinste schwach. »Stimmt doch, oder?«

Ich verdrehte die Augen.

»Die anderen kamen nicht infrage. Ich meine, Kaders Familie hat im Moment wirklich keinen Platz für einen Übernachtungsgast, und Sean hält sich dermaßen bedeckt, was seine Familie betrifft, dass er mich garantiert nicht reingelassen hätte. Und Rosalie …« Er verzog das Gesicht, und ich nickte.

»Was willst du jetzt machen?«

»Im Herbst bewerbe ich mich bei verschiedenen Universitäten. Ich will Augenarzt werden, vielleicht bei meinem Vater einsteigen. Meine Eltern wollten, dass ich nach der Schule erst mal eine kleine Pause habe, sozusagen meinen Sommer genieße. Der Job sorgt für ein bisschen finanzielle Unabhängigkeit. Aber im nächsten Sommer geht es dann richtig los, Ernst des Lebens und so.«

»Und dann bist du zu Hause raus?«

Er nickte. »Sobald ich weiß, welche Uni mich annimmt, suche ich mir eine Wohnung. Meine Eltern haben für jedes Kind ein Sparkonto angelegt, außerdem habe ich vor, weiter nebenbei als Rettungsschwimmer zu arbeiten.«

»Klingt nach einem Plan«, sagte ich, weil es das Einzige war, das mir einfiel. Ich war nicht gut darin, Ratschläge zu erteilen, schon gar nicht im Moment, während ich offenbar den Verstand verlor und Figuren zur Flucht verhalf.

Ich konnte Michael nur das aufblasbare Gästebett anbieten, das zwar über die Zeit so bequem wurde wie ein Sack Stroh, aber für eine Nacht würde es schon gehen. Das schien ihm zu genügen.

Eine Weile unterhielten wir uns über Belanglosigkeiten, den Dieb im Josephine , die anstehende Party und die Fliegenplage. Dann gab ich ihm eine Salbe, die meine Mutter nahm, wenn sie sich beim Fahrradfahren einen Muskel gezerrt hatte, und eine Ersatzzahnbürste, die wir immer im Haus hatten.

Als ich das Licht neben dem Bett löschte, flüsterte Michael unvermittelt: »Vielleicht solltest du das Kader nicht sagen …«

Müde hob ich den Kopf vom Kissen. »Was denn?«

»Dass du schreibst. Ich glaube, die Familie hat es gerade nicht leicht, das Geld ist knapp, und Kader steht ganz schön unter Druck und so. Jedenfalls hat sie gestern eine Petition unterschrieben, um einen Buchclub in der StraPo schließen zu lassen, gegen den die VdF ermittelt wegen angeblicher Fluchthilfe für einen Autor und seine Figur. Sie nimmt diese Sache mit den Figuren ganz schön ernst.«

»Ja, verständlich.«

»Ich denke nicht, dass sie es gut aufnehmen würde, wenn sie erfährt, was du so machst.«

Mir war klar, dass er das Schreiben und nicht den Vorfall mit der Taube meinte, trotzdem setzte mein Herz einen Schlag aus. Michael drehte sich um und sagte nichts mehr dazu, aber ich verstand seine Worte auch so.

Sie waren eine Warnung.