A m nächsten Morgen versorgten wir Michael mit einem reichhaltigen Frühstück, nach dem er sich verabschiedete und ging. Ich konnte ihm nicht helfen, und ich glaube nicht, dass er es erwartete, aber er tat mir trotzdem leid. Nachdenklich schloss ich hinter ihm die Tür und drehte mich um. Meine Eltern standen in der Tür zur Küche, meine Mutter mit verschränkten Armen, mein Vater mit den Händen in den Taschen seines Bademantels. Erwartungsvoll sahen sie mich an.
Ich verdrehte die Augen.
»Wird er jetzt öfter vorbeikommen?«, fragte meine Mutter.
»Ich denke nicht.«
»Also war das eine Ausnahme?«, setzte mein Vater nach.
»Das habe ich doch schon gesagt. Michael hat uns für morgen auf eine Party eingeladen.«
»Und du willst hingehen.«
»Die anderen aus dem Josephine gehen auch.« Ich drängte mich zwischen ihnen hindurch und trank den letzten Rest meines Tees, der inzwischen lauwarm geworden war.
»Was für eine Party?«, wollte meine Mutter wissen.
»Eine ganz normale Party. Irgendwo in Gründorf.«
»Mit Alkohol?«
»Vermutlich.«
»Und Tanzen?«, fragte mein Vater.
»Auch das.«
Sie warfen sich einen Blick zu.
»Keine Bange«, erwiderte ich, bevor sie mir einen Vortrag halten konnten. »Nicht mehr als zwei Bier, ich bin spätestens um zwei Uhr nachts zu Hause, und ich gehe mit niemandem mit.«
»Um Mitternacht!«
Ich fuhr auf. »Das ist lächerlich! Halb zwei.«
»Eins. Das ist mein letztes Wort.«
Meine Mutter und ich starrten uns an, während mein Vater die Marmelade vor den Fliegen rettete.
»Na schön. Spätestens um eins«, gab ich schließlich nach.
Sie hob schon wieder den Finger. »Und du nimmst nicht irgendwelche Drogen.«
»Nur die, die ich kenne, versprochen.«
»Sehr witzig, mein Fräulein.«
Ich grinste. »Ich mache keinen Ärger, das weißt du doch.« Schon während ich es sagte, bekam ich ein schlechtes Gewissen, weil ich an die versteckte Figurenfeder hinter meinen Büchern denken musste.
Mein Vater nickte. »Na schön, du kannst gehen. Wir sind am Samstag bei Afeni und Ermias, wir kommen also selbst erst spät zurück. Wenn etwas ist, ruf uns über Handy an. Und nimm dir Taxigeld mit.«
»Wenn ich einen eigenen Roller hätte, bräuchte ich kein Taxigeld«, murmelte ich, und er erwiderte trocken: »Wenn du einen eigenen Roller hättest, könntest du keine zwei Bier trinken.«
Gemeinsam räumten wir das Frühstück ab, bevor meine Mutter zur Arbeit fuhr und mein Vater sich ins Arbeitszimmer verzog. Ich hingegen verbrachte den Vormittag damit, Artikel und Beiträge über die Figuren in Kapitolo anzuschauen.
Ich las mich durch das ganze Desaster mit Blaubart, dem die Polizei vier Monate lang auf der Spur gewesen war, bevor sie ihn in einem Haus gefunden hatten – in Gesellschaft von vier Frauen, die jeden seiner Wünsche erfüllten. Wie sich herausstellte, waren zwei der Damen polizeibekannt, da sie in der Vergangenheit bereits mehrfach versucht hatten, Kontakt zu inhaftierten Figuren herzustellen, indem sie ihnen lange ausführliche Liebesbriefe schrieben. Die beiden anderen Frauen waren bisher unauffällig gewesen, sie gaben später an, sich einfach auf der Stelle in den charmanten Mann im mittleren Alter verliebt zu haben. Eine von ihnen war eine Grundschullehrerin, die andere arbeitete für einen örtlichen Radiosender.
Blaubart war eine der am längsten unerkannt in Kapitolo lebenden Figuren gewesen. Er war kaum ausgegangen, die Frauen hatten ihn versorgt, und wenn er das Haus verließ, dann stets nachts und in Begleitung mindestens zweier Frauen. Auf diese Weise hatten die Leute keinen Verdacht geschöpft. Schließlich war ihm ein Postbote zum Verhängnis geworden, der ein Paket im erhöhten Fenster abstellen wollte und dabei ins Haus geschaut und Blaubart gesehen hatte.
Dann gab es da noch den Mann, der beinahe eine Figur geheiratet hätte, doch die Hände hatten beim Ringüberstreifen verraten, was eigentlich unter dem Schleier steckte. Das Video der Verhaftung sah ich mir ein gutes Dutzend Mal an, der Anblick des weinenden Bräutigams erschütterte mich.
In einem Blogeintrag stieß ich schließlich auf ein Gerücht über einen angeblichen Untergrund, der Figuren dabei helfen sollte, sich vor der VdF zu verstecken, aber es schien nur ein Gerücht zu sein, keine ernst zu nehmende Zeitung berichtete darüber, und es blieb auch der einzige Eintrag, den ich dazu fand.
Natürlich wussten wir alle, dass es Aktivisten gab, die sich für die Rechte der Figuren einsetzten, aber im Grunde wurden sie belächelt. Die Leute wussten, dass es die VaF als Schwesterabteilung zur VdF gab, ihre Pressemitteilungen waren allerdings so selten wie ein kühler Sommer in Kapitolo.
Die Recherche machte mir eines klar: Es war besser, wenn ich über das, was ich getan hatte, schwieg. Alles, was ich tat, würde auch auf meine Eltern zurückfallen. Und auch wenn wir uns nicht immer einig waren, wann ich zu Hause sein sollte, kamen wir im Grunde doch gut miteinander aus. Ich wollte nicht, dass sie meinetwegen Ärger bekamen und wir uns deswegen verstritten, sodass ich irgendwann auch lieber bei anderen übernachtete.
Einmal war ich vom Weg abgekommen, aber ich nahm mir fest vor, es nicht wieder zu tun. Ab jetzt wollte ich mich an die Regeln halten, die in Kapitolo galten!
Wie sich herausstellen sollte, hatte ich die Rechnung jedoch ohne den Wolf gemacht.
Freitagmittag beschloss ich spontan, mir die Haare abschneiden zu lassen, weil ich es nicht mehr ertrug, wie sich der Schweiß darunter im Nacken sammelte und dann langsam nach unten rann. Der Sommer befand sich auf seinem Höhepunkt. Sobald das Josephine seine Tore öffnete, strömten die Badegäste herein und besetzten die Wiesen rund um das alte Becken.
Ich ging zu einem Ohne-Termin-Friseur, wartete eine halbe Stunde, in der ich zum Sommer passend meine zerfledderte Ausgabe vom Herr der Fliegen zum vierzehnten Mal zu lesen begann, und versuchte, die furchtbare Musik auszublenden, die unangenehm laut aus den Boxen drang.
Als ich an der Reihe war, sagte ich zu der gepiercten Friseurin, sie solle mir das Haar in Nackenhöhe abschneiden. Daraufhin sah sie mich irritiert an.
»Frisch getrennt?«, fragte sie.
»Noch zu viel Sommer vor mir. Es ist die Hitze.«
Das schien ihr als Erklärung zu reichen. Sie zuckte mit der Schulter und ging ans Werk. Als ich eine Dreiviertelstunde später den Salon verließ, genoss ich die Brise, die mir über den Nacken strich, und bereute nichts.
Zu Hause machte mein Vater mit dem Handy ein Foto von mir, das er meiner Mutter schickte. Daraufhin hinterließ sie mir eine fünfminütige Sprachnachricht, die mein Vater und ich uns anhörten, während wir Sandwichs aßen.
Die Nachricht schloss mit: »Also, wenn bei dir alles in Ordnung ist, dann finde ich, dass dir die neue Frisur sehr gut steht. Und falls es irgendein Problem gibt, weißt du ja, dass du mit uns reden kannst.«
»Gibt es ein Problem?«, fragte mein Vater mit vollem Mund.
Ich schüttelte den Kopf und deutete auf das Fenster. »Es ist zu heiß, das ist alles.«
»Das ist wahr«, stimmte er mir zu und wischte sich die Hand an der Hose ab.
Grinsend deutete ich mit dem Daumen auf die Spüle. »Himmel, Kind, geh dir die Hände waschen.«
»Ja, Mutter«, sagte er.
»Du kannst froh sein, dass die nicht hier ist.«
»Wenn sie hier wäre, würde sie mit dir über deine Frisur reden, und niemand würde sich dafür interessieren, ob ich dreckige Finger habe.«
Ich rollte mit den Augen, und wir grinsten uns an. Das Leben erschien mir leicht; wenn dieser Sommer erst vorbei war, würde ich mir endlich den City Roller kaufen können und meiner Freiheit ein großes Stück näherkommen.
Zum Schichtbeginn Stunden später stellte ich fest, dass Sean nicht mehr der Einzige mit einem Sonnenbrand war. Auch ich schälte mich an den Schultern. Während ich an meinem Platz am Fenster saß und die Leute beobachtete, fiel mir auf, dass sich die Stimmung im Freibad auf schwer zu benennende Weise veränderte. Die Trägheit der ersten heißen Sommertage wich langsam einer nervösen Ungeduld, die die Menschen erfasste; es war ein beständiges Gefühl von zu viel . Zu viel Sonne, zu viel Blau am Himmel, zu viel sommerliche Aktivitäten. Wenn ich mit zusammengekniffenen Augen auf meinem Hocker saß und hinausblinzelte, verschwamm meine Umgebung zu einem blau-grün-blauen Streifen – Himmel-Wald-Wasser. Sean musste öfter einen Streit schlichten, Michael hatte schlechte Laune, weil er noch ein paar Tage lang T-Shirts tragen musste, in denen er schwitzte, und Kader kämpfte gegen die Müdigkeit an, die ihre Schmerztabletten mit sich brachten.
Nur Rosalie schien einigermaßen gute Laune zu haben, die Aufregung wegen der Party sorgte dafür, dass sie ungewöhnlich viel redete. Die meiste Zeit nickte ich einfach träge, wenn sie mir etwas erzählte, obwohl ich gar nicht richtig zuhörte.
Eine kleine Abwechslung gab es, als mich endlich Olga im Josephine besuchte und sich darüber beklagte, warum ich keinen Ferienjob bei uns im Viertel angenommen hatte. Sie selbst arbeitete in einem alten Programmkino, das ihrer Tante gehörte und durch dessen Eingang angeblich vor vierzig Jahren einmal Hammetts Malteser Falke geflogen sei und dem Liebchen eines bekannten Mafioso den Hut vom Kopf gerissen hätte.
Ich fragte sie, ob sie mich zur Party begleiten wolle, aber sie lehnte ab. Dabei stützte sie sich von außen auf die Theke des Ausgabefensters, und ich konnte sehen, wie ein älterer Mann, der mit seiner Familie hier war, ihr auf den Hintern starrte. Ihr rotes Haar leuchtete in der Sonne wie Kupfer.
»Morgen muss ich arbeiten«, sagte sie. »Die Nachtvorstellungen an den Wochenenden. Meine Tante hat sich den Fuß verstaucht, und Carl ist auch beschäftigt.« Sie schob sich die Sonnenbrille ins Haar und biss von ihrem Stieleis ab, das ich ihr spendierte. »Ich habe dir übrigens etwas mitgebracht.« Sie steckte sich das Eis in den Mund, damit sie die Hände frei hatte, und zog ein Magazin aus dem Rucksack.
»Was ist das?«
»Der Stadtanzeiger, Dummerchen.« Sie knallte mir das zusammengerollte Magazin auf den Kopf. »Weißt du nicht mehr, wie du vor zwei Monaten deine Kurzgeschichte eingereicht hast? Dieser komische Text über zwei verliebte Kannibalen.« Sie schüttelte sich.
Ich hatte vorsichtig sein müssen, der Text durfte nicht zu explizit sein, weil jede Form von Body Horror einer Genehmigung bedurfte. In der sechsten Klasse hatten wir die wichtigsten Gesetze zu den verbotenen und lizensierten Sujets gelernt, damit wir als Minderjährige nicht aus Versehen einen rechtswidrigen Text verfassten. Das war peinlicher gewesen, als im Biologieunterricht die Sexualorgane durchzugehen.
»Ich dachte, du magst den Text?«, fragte ich empört.
Sie grinste. »Ich habe gelogen.«
Ich verdrehte die Augen.
»Ist doch egal, die Leute vom Magazin mochten ihn, das muss reichen. Immerhin haben sie ihn abgedruckt. Das Magazin lag bei uns im Kartenraum aus, da dachte ich mir, ich bringe es dir mit. Glückwunsch!«
Ich freute mich riesig, dass es mit der Veröffentlichung geklappt hatte. Mit der Einreichung hatte man auch sein Einverständnis zum Abdruck gegeben. Die Autoren bekamen kein Geld dafür, und mein Vater hatte mich gewarnt, dass Magazine auf diese Weise unerfahrene Autoren abzockten, um kostenlos an Texte heranzukommen, aber das war mir in dem Moment egal. Ich wollte nicht professionell sein, ich wollte meinen Namen abgedruckt sehen! Ich grinste bis über beide Ohren.
In diesem Augenblick betrat Kader die Küche. Ich wusste sofort, dass sie unsere Unterhaltung gehört hatte. Die Art, wie sie sich gegen die Theke lehnte und auf das Heft in meiner Hand starrte, ließ nichts Gutes erahnen. Michael hatte mich gewarnt, aber es sah ganz so aus, als wäre die Katze aus dem Sack.
»Interessant«, sagte sie, und bei ihrem Ton überlief mich eine Gänsehaut.
»Kader«, stotterte ich. »Ich kann das erklären …«
»Was denn erklären?« Ihre Stimme klang eisig.
»Ich wollte es dir nicht verheimlichen, aber du warst so sauer …«
Ihr Kopf zuckte vor wie der einer Schlange. »Du weißt genau, was ich davon halte!«
»Es ist doch nicht verboten, Kader«, entgegnete ich leise, aber sie winkte zornig ab.
»Du bist ein ganz schönes Miststück«, zischte sie. Dann trat sie auf mich zu und riss mir das Magazin aus der Hand. Bevor ich reagieren konnte, war sie mit schnellen Schritten zur Hintertür hinausgegangen und hatte es über den Zaun Richtung Wald geworfen.
»Bist du verrückt?«, rief ich, als sie wieder hereingestürmt kam, aber Kader reagierte nicht, sondern lief einfach wieder hinaus.
»Was stimmt denn nicht mit der?«, fragte Olga perplex.
Ich seufzte. »Ich habe dir doch erzählt, wieso sie die Maske trägt. Das Feuer wurde von einer Figur gelegt, daher ist sie nicht allzu gut aufs Schreiben zu sprechen.«
»Autsch.« Olga blickte ihr nach, bevor sie sich wieder an mich wandte. »Tut mir leid, dass ich dich da in eine blöde Situation gebracht habe.«
»Es ist nicht deine Schuld. Du wusstest es ja nicht.«
Sie bot an, mit Kader zu reden, aber ich lehnte ab. Das musste ich selbst mit ihr klären.
Nachdem Olga ihr Eis gegessen hatte, musste sie wieder gehen, und auch ich hatte zu tun. Die nächste halbe Stunde war ich damit beschäftigt, Badegäste zu bedienen; Kader ließ sich nicht mehr bei mir blicken.
Als es endlich ein wenig ruhiger wurde, ging ich zum Schlüsselfach, um den Schlüssel für die Tür im Zaun zu holen, an der eine riesige Kette hing. Ich wollte das Magazin zurück, immerhin hatte ich noch nicht einmal einen Blick auf meinen Abdruck werfen können.
Es war nicht direkt verboten, dass wir die Tür im Zaun öffneten, trotzdem beeilte ich mich, um so schnell wie möglich wieder in die Küche zurückzukommen. Schließlich konnten jederzeit Badegäste ans Fenster treten. Ich hatte etwas Mühe, das rostige Schloss zu öffnen, aber nach zwei vergeblichen Versuchen klappte es.
Ich trat auf den gelben Grasstreifen und hob das Magazin auf. Das Cover war dreckig, mehrere Seiten waren eingeknickt, und ich versuchte, es oberflächlich mit der Hand zu säubern. Plötzlich hörte ich über mir ein Flattern. Ich sah auf und erblickte die braune Taube. Sie saß auf dem Zaun und schaute mich an.
Bei ihrem Anblick blieb mir beinahe das Herz stehen. Und da war es auch schon wieder, dieses Gefühl, beobachtet zu werden. Doch es kam nicht von der Taube, da war ich mir sicher.
Ich hätte umkehren und die Tür wieder schließen sollen, ich hatte mir doch geschworen, keine Dummheiten mehr anzustellen. Stattdessen trat ich mit zitternden Knien auf den Wald zu. Vergessen war mein Vorsatz, mich von jetzt an an die Regeln zu halten. Mein Herz raste, aber Schritt für Schritt trat ich näher. Es gab nun keinen Zaun mehr zwischen mir, den Bäumen und dem, was sich dahinter versteckte.
Ich starrte ins Dunkel, und obwohl ich Aufregung und Angst verspürte, konnte ich nicht umdrehen. Da war etwas! Diesmal war ich mir sicher, und ich wollte endlich herausfinden, was hinter dem Gefühl steckte, das mich seit einer Weile verfolgte. Ich warf einen Blick über die Schulter, aber in der Küche war noch alles ruhig. Also trat ich noch einen Schritt weiter nach vorn und noch einen und noch einen, bis ich zwischen den ersten Bäumen stand.
»Hallo«, rief ich leise. Das Magazin hielt ich zwischen zitternden Fingern, während sich die Schatten des Walds über mich legten und meinen erhitzten Körper kühlten. Ich schob mir die Sonnenbrille ins Haar, um besser zu sehen.
Hinter mir hörte ich die Taube.
Rechts von mir bewegte sich etwas.
»Ich weiß, dass du da bist!«
Ein paar Herzschläge später trat jemand langsam hinter einem Baumstamm hervor.
Es war ein Junge. Er war nicht viel älter als ich, trug eine schmutzige Jeans und ein grünes T-Shirt. Seine dunklen Haare sahen struppig und ungepflegt aus, und das Gesicht mit der großen Nase war dreckig und auf der Stirn blutverkrustet – und er war kein Mensch.