6

W ir starrten uns an.

Ich war so überrascht, dass kein Platz mehr für Angst blieb. Wenn neben uns ein Feuer ausgebrochen wäre, hätte ich mich ebenso wenig rühren können.

Er war mir so ähnlich, Arme, Beine, er sah aus wie die Jungs, mit denen ich zur Schule ging. Und doch auch wieder nicht. Da war wieder dieses Zittern, diese leichte Verschiebung an den Rändern wie bei einem überbelichteten Foto. Unwillkürlich streckte ich neugierig die Hand nach ihm aus und merkte es erst, als er die Augenbrauen zusammenzog. Sofort ließ ich die Hand wieder sinken. Ich war offenbar nicht mehr Herrin meiner Sinne.

»Hallo«, sagte ich.

Er schwieg.

Vielleicht verstand er mich nicht. Ich wusste ja nicht, aus welchem Buch er gekommen war; es war möglich, dass er weder meine Sprache noch überhaupt sprach.

Ich legte mir die Hand auf die Brust. »Ich bin Kate.«

Noch immer sagte er nichts.

Ich atmete tief durch und sah in die Baumkronen. »Was mache ich hier eigentlich?«, murmelte ich.

Da trat er einen Schritt auf mich zu und deutete auf das Magazin in meiner Hand.

»Das?« Verwundert hielt ich es in die Höhe.

Er nickte.

Vorsichtig näherte ich mich ihm mit ausgestrecktem Arm.

Er kam mir entgegen und nahm mir das Magazin ab, drehte es in den Händen, blätterte hinein und blieb einen kurzen Moment an meiner Geschichte hängen, denn ich erkannte mein Foto, das ich mit dem Text eingesandt hatte.

Dann standen wir uns wieder schweigend gegenüber. Ich konnte ihn etwas besser betrachten, und aus der Nähe verstärkte sich der Eindruck des Fremden noch. Ihn umgab eine seltsame Aura, die ich wahrnahm, aber nicht beschreiben konnte. Ich erkannte, dass er dunkle Augenringe hatte, und die Knöchel seiner Hände waren blutig aufgeschürft. Ich begriff, dass er in diesem Wald lebte, er versteckte sich darin.

»Du holst dir die Lebensmittel aus dem Freibad.«

Er nickte. Offenbar verstand er mich doch.

Plötzlich landete die braune Taube auf einem Ast über ihm, und ich deutete auf das Tier. »Gehört sie zu dir?«

Wieder erfolgte ein kurzes Nicken. Er sah die Taube an, und ich hatte das Gefühl, als würden sie sich über etwas verständigen. Wer konnte schon sagen, wozu die beiden in der Lage waren; der Autor konnte ihnen alles Mögliche angedichtet haben.

Mir wurde meine Lage bewusst. Ich war allein mit einer Figur, über die ich nichts wusste, außer dass sie in der Lage war, allein in einem Wald zu überleben – und deren Geheimnis ich nun kannte. Wieso hatte ich nur geglaubt, dass diese Situation ungefährlich für mich war?

Ich deutete hinter mich. »Ich muss …«

Er trat auf mich zu, und ich wich ein paar Schritte zurück.

»Ich tue dir nichts«, sagte er so plötzlich, dass ich vor Überraschung beinahe auf den Hintern gefallen wäre. Seine Stimme klang kratzig, als hätte er länger nicht mehr gesprochen.

»Was willst du mit dem Magazin?«, sprach ich den ersten Gedanken laut aus, der mir durch den Kopf schoss.

Er schwieg wieder. Offenbar hatte er keine Lust, jede Frage zu beantworten, die ich stellte. Also versuchte ich es mit einer anderen.

»Hast du mich in den letzten Tagen beobachtet?«

Zum ersten Mal wirkte er unsicher und sah zur Seite.

»Warum?«

Keine Antwort.

»Bist du verletzt? Brauchst du Hilfe?«

Er runzelte die Stirn. Dann schaute er auf seine Hände und wieder zu mir, langsam schüttelte er den Kopf. Die Taube schlug mit den Flügeln, und beinahe widerwillig trat er den Rückzug an und vergrößerte die Entfernung zwischen uns.

»Warte!«, rief ich, dabei hatte ich selbst gerade erst behauptet, wieder hineingehen zu müssen.

Er blieb stehen.

»Wie ist dein Name? Darf ich das wissen?«

Ein weiteres Kopfschütteln.

Natürlich. Warum sollte er mir auch irgendetwas über sich verraten? Er musste ja damit rechnen, dass ich ihn verriet. Vielleicht wollte er auch nicht, dass ich herausfand, aus welcher Geschichte er stammte.

»Ich werde niemandem etwas sagen«, versprach ich und wusste, dass es die Wahrheit war.

Sein Blick lag brennend auf mir, als er nickte. Er schien mir zu glauben, vielleicht weil ich seine Taube hatte ziehen lassen, vielleicht weil ich schrieb. Trotzdem zog er sich langsam zurück; Schritt für Schritt verschwand er mehr in den Schatten, bis ich ihn nicht mehr sehen konnte. Auch die Taube flog tiefer in den Wald hinein.

Sollte ich ihm folgen, oder war das Unsinn?

Wie benommen sah ich zurück zum Josephine . Eine eigenartige Ruhe überkam mich, als hätte irgendetwas in mir entschieden, dass es völlig in Ordnung sei, gegen alles zu verstoßen, was in dieser Stadt recht und gut war. Es war ja nun nicht mehr zu ändern, geschehen war geschehen.

Erst als ich wieder in der Imbissküche stand, zitterte ich auf einmal am ganzen Körper. Ich hatte mit einer Figur gesprochen! Ihr in die Augen gesehen und sie beinahe berührt. Was zum Henker hatte ich mir nur dabei gedacht?

Jemand klopfte auf die Theke, und ich hob langsam den Kopf. Ein Kind wollte ein Eis. Wie aufgezogen führte ich die Bewegungen aus, nahm das Eis aus der Tiefkühltruhe, legte es auf die Theke, nahm den Schein und schob das Wechselgeld zurück. Dann setzte ich neuen Kaffee an.

Ich erwartete, dass die anderen mir ansehen würden, was geschehen war, aber niemand sprach mich auf mein merkwürdiges Verhalten an. Äußerlich wirkte ich vielleicht wie immer, aber in meinem Inneren hatte sich etwas grundlegend verschoben, das wusste ich. Als hätte es ein Erdbeben gegeben, das einen Riss in den Grundfesten verursacht hatte.

Am Ende des Tages entschuldigte ich mich wortreich bei Kader und versicherte ihr, dass mir das Schreiben gar nicht so viel bedeuten würde. Es sei nur eines von vielen Hobbys, und den Text hätte meine Mutter eingereicht. Ich behauptete, dass ich in letzter Zeit kaum noch schreiben würde, vor allem nach dem, was ihr passiert sei. Ich log und log, um den Frieden nicht zu stören, den wir im Josephine aufgebaut hatten – und stellte fest, dass mir das Lügen erstaunlich leichtfiel. Lügen war auch nur eine andere Art von Geschichtenerzählen, sagte ich mir, und darin war ich gut.

Heute begreife ich natürlich, dass ich mir die Sache damit einfacher machte, und auch, dass diese Art, mit Problemen umzugehen, schuld daran war, dass so viele meiner Beziehungen zerbrachen.

Offenbar hatte ich die richtigen Worte gewählt und meine Geschichte glaubwürdig vorgebracht, denn einen Moment ließ mich Kader noch schmoren, dann nickte sie und stieß mit ihrer Coladose an meine, während wir wieder einmal am Nichtschwimmerbecken saßen und die Abendsonne hinter den Baumwipfeln unterging.

Michael warf mir einen langen Blick zu, aber er ließ meine Lüge über das Schreiben nicht auffliegen. Ihm war wohl auch klar, dass die nächsten Wochen sehr unangenehm für uns alle werden würden, wenn Kader sauer auf mich war.

Nachdem wir die Cola ausgetrunken hatten, stand ich auf und sammelte die Dosen ein, um sie in die Küche zurückzubringen. »Ich schließe die Küche ab«, bot ich an, und die anderen nickten.

Hinter mir schob ich unauffällig die Tür zu, sodass sie nicht in die Küche sehen konnten. Dann nahm ich aus dem Regal im Vorratsraum einen Packen Brötchen, Würste und Schokoriegel, für die ich bereits bezahlt hatte, trat hinter das Gebäude und warf sie in einem hohen Bogen über den Zaun Richtung Wald. Hastig schloss ich die Hintertür und beeilte mich, zu den anderen zurückzukehren, während ich versuchte, so auszusehen, als wäre nichts Außergewöhnliches geschehen.

Während Sean und ich durch Gründorf und Neuwest fuhren und die Lichter der Stadt erwachten, gestand ich mir ein, dass ich dieses Mal nicht nur den Weg verlassen hatte – ich war so weit davon abgekommen, dass ich ihn nicht einmal mehr sehen konnte. Aber ich bedauerte es nicht, und das war möglicherweise der Grund, warum alles so kam, wie es kommen musste.

Ich redete mir ein, dass ich jederzeit die Polizei rufen könnte, wenn sich herausstellen sollte, dass der Junge im Wald, der mir seinen Namen nicht nennen wollte, gefährlich war. Wahrscheinlich hatte er jedoch mehr Angst vor uns als wir vor ihm. Das war es schließlich, was wir seit der Grundschule lernten: Die Figuren waren nicht wie wir, wir mussten keine Angst vor ihnen haben, weil sie uns nicht gleich waren.

Aber ich wollte mehr über ihn erfahren. Woher kam er, was machte er im Wald? Ich wollte ihn wiedersehen, und vielleicht war es jugendlicher Leichtsinn, der mich dazu trieb, dieses Geheimnis für mich zu behalten. Wenn wir jung sind, bilden wir uns immer ein, eine Situation beurteilen und die Gefahren abschätzen zu können.

Eine seltsame Aufregung überkam mich, während ich über die grauen Straßen Kapitolos fuhr, die Sonne im Nacken. Ich bedauerte nur, dass ich das Magazin mit meiner Geschichte verloren hatte. Mir war schleierhaft, was der Junge damit wollte und ob er überhaupt lesen konnte. Vielleicht wollte er aber einfach ein bisschen Abwechslung, schließlich gab es im Wald keinen Fernseher. Ich würde mir ein neues Heft besorgen, sagte ich mir, immerhin lagen sie in der ganzen Stadt kostenlos in Cafés, Theatern, Kinos und Geschäften aus.

Doch auch damit sollte ich mich irren.

Ich habe den Text nie zu Gesicht bekommen, denn schon der nächste Tag sollte alles ändern.