E s war eine Figur. Sie besaß den Körper eines Löwen, doch die Mähne umrundete ein beinahe menschliches Gesicht eines älteren Mannes. Der Mund war weit aufgerissen, als wäre das Monster in dieser Haltung erstarrt, und wir konnten drei Reihen spitzer Zähne erkennen. Am Ende seines Schwanzes, der mehr einer Schlange ähnelte als dem eines Löwen, befand sich eine stachelbesetzte Kugel, die unruhig hin und her schwenkte.
Unter seiner riesigen Pranke lag Rosalie.
Sie bewegte sich nicht. Genauso wenig wie ich. Ich konnte das Monster nur anstarren, ich vergaß zu atmen und zu blinzeln. Nichts hatte mich auf den Anblick dieses Monsters vorbereitet, nicht der sterbende Wal oder der Junge mit seiner Taube, kein einziges Bild über den Schwarzen Tempel aus dem Fernsehen.
Es war eine Figur zum Fürchten. Etwas, das einer Horrorgeschichte entsprungen war. Das Monster fletschte die Zähne, und Michael ließ das Handy fallen.
»Scheiße …«, flüsterte er, und ich konnte die Angst in seiner Stimme hören.
Das Monster knurrte, und Kader wich zurück. Schritt für Schritt, immer weiter. Als das Monster das Maul aufriss und brüllte, ergriffen Michael und Kader die Flucht, während sich das Monster wie zum Sprung duckte. Doch ich konnte mich nicht regen.
Sean rief meinen Namen, ich hörte ihn wie unter Wasser, dann drehte auch er sich um und stürmte durch das Unterholz in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren. Meine Füße wollten sich noch immer nicht bewegen, wie festgefroren und am ganzen Leib zitternd stand ich dem Monster gegenüber, erstarrt zur Salzsäule. Mein Kopf war wie leer gefegt, ich dachte nicht an Flucht, ich dachte nicht daran, mich zu verteidigen, stattdessen sah ich dem Monster ins Auge wie einst dem Wal – doch dieses Mal konnte ich mich nicht darin spiegeln.
Mein Blick fiel auf Rosalie, auf all das Blut, das sie umgab. Was sollte ich nur tun? Sie war verletzt, unter der Pranke quoll weiter Blut hervor, schwarz wie die Erde. Aber Menschen können viel bluten, und sie können auch viel überleben, sagte ich mir, noch war nichts verloren, wir mussten sie nur retten.
Da stupste das Monster sie mit der Schnauze an und rollte sie auf den Bauch, ihr Kopf rollte nicht mit, und ich begriff, dass ihr Genick gebrochen war. Eine beißende Kälte erfasste meine Glieder. Ich übergab mich. Kotzte mir einfach vor die Füße und schnappte nach Luft, weil sich mir der Brustkasten schmerzhaft zusammenzog, während mein Herz zu platzen drohte.
Langsam trottete das Monster auf mich zu, ich konnte die Zweige unter seinen Pranken knirschen hören. Ich wischte mir mit dem Ärmel über den Mund und wusste, dass ich jetzt ebenfalls fliehen musste, wenn ich auch nur den Hauch einer Chance haben wollte. Aber der Blick aus diesen seltsam menschlichen Augen hielt mich gefangen. Jedes Gefühl in mir schrumpfte zusammen auf diese eine schmerzhafte Empfindung in der Höhe meines Herzens: Angst. Noch nie in meinem Leben hatte ich eine solche Angst verspürt und auch nie wieder danach. Sie war allumfassend und ließ keinen Raum für vernünftige Gedanken. Ich wurde auf etwas beinahe Tierisches reduziert, allein beherrscht vom Instinkt.
Das Monster war nur zwei Armlängen von mir entfernt, ich konnte es bereits riechen, seinen nach rohem Fleisch und Blut stinkenden Atem auf mir spüren. Es setzte zum Sprung an – und in dieser Sekunde traf es ein Pfeil ins Auge. Das Monster heulte fürchterlich und bäumte sich auf. Es war riesig. Jemand packte mich am Arm, zerrte mich fort, zwischen den Bäumen hindurch. Zweige peitschten mir ins Gesicht, aber ich spürte keinen Schmerz, es ging nur vorwärts, stolpernd und ängstlich. Der Griff um meinen Arm löste sich, nur um sich an meiner Hand wiederzufinden. Ich wurde mehr gezogen als geleitet, wir rannten durch das Dunkel, und ich sah kaum, wohin ich trat.
Doch auch ohne ihn zu erkennen, wusste ich, wer den Pfeil abgeschossen hatte und mit mir rannte. Es war der Junge mit der Taube. Er hatte einen einfachen Bogen in der Hand, der wie selbst geschnitzt aussah, und im Dunkel der Nacht wirkte er zwischen den Bäumen selbst wie ein Schatten.
Als wir gerade die Lichtung erreichten, auf der die anderen und ich Pause gemacht hatten, ertönte hinter uns ein markerschütterndes Heulen. Der Junge deutete zwischen die Bäume, als wolle er mir eine Richtung angeben, dann wandte er sich um und rannte dem Monster entgegen. Meine Hand fühlte sich ohne seine merkwürdig leer an.
Die Angst trieb das Adrenalin durch meinen Körper, und dieses Mal rannte ich weiter, ohne zurückzusehen. Ich konnte einfach nicht. Ich stolperte voran, fiel hin, stand wieder auf und rannte. Ich stieß mit den Schultern gegen Baumstämme, aber ich blieb nicht stehen. Hinter mir ertönte erneut Geheul, doch ich lief ohne Pause. Niemals umsehen, das war schon immer die Regel gewesen, schon seit Orpheus in der Unterwelt. Die Angst verlieh mir Kräfte, von denen ich nicht gewusst hatte, dass sie in mir steckten.
Irgendwann kam ich auf den ausgewiesenen Reitweg zurück und rannte weiter, so schnell ich konnte. Der Weg wurde ebener, das Laufen ging einfacher, doch ich hatte Seitenstechen und bekam kaum noch Luft. Erst als ich an der Straße ankam, blieb ich heftig atmend stehen. Mir taten die Beine weh, und in meiner Brust brannte es wie Feuer. Ich konnte einfach nicht mehr weiter.
Zum ersten Mal wagte ich es, mich umzublicken.
Hinter mir war niemand.
Der Eingang in den Wald wirkte wie zuvor. Ein dunkler Schlund. Ich stand auf der Straße; nur fünf Minuten entfernt befand sich das Josephine . Die Laternen warfen ihr warmes Licht auf mich, und der Duft von Engelstrompeten hing in der Luft. Panisch sah ich mich nach den anderen um, aber von ihnen war keine Spur zu entdecken. Waren sie aus dem Wald herausgekommen? Hatten sie es geschafft? Was war mit dem Jungen?
Ich blieb stehen und wartete, schaute an mir hinunter. Mein Sweatshirt war an mehreren Stellen zerrissen, an den Beinen lief mir Blut hinunter, sie sahen aus, als hätte ich sie mit Sandpapier bearbeitet, und mir brannte fürchterlich das Gesicht. Als hätte jemand plötzlich einen Schalter umgelegt, verspürte ich die Schrammen, die meine Flucht durch den Wald auf der Haut hinterlassen hatten.
Rosalie. Rosalie. Rosalie, schallte es in meinem Kopf.
Zitternd, blutend und fröstelnd stand ich unter einer Laterne und starrte auf das Dunkel des Walds. Was war nur geschehen? Wie konnte sich etwas von einer Sekunde auf die andere so katastrophal verändern? Wir hatten doch gerade noch auf der Lichtung gesessen. Niemand hatte an Kaders Monster im Wald geglaubt! Wahrscheinlich nicht einmal sie selbst. Und dann hatte es plötzlich vor uns gestanden. Es sollte doch nur ein lustiger Samstagabend werden!
Ich weiß nicht, wie lange ich dort wartete, aber irgendwann tauchte der Junge hinter einem Baum auf. Sein Gesicht war blutbeschmiert, und er humpelte. Doch er lebte.
Zwischen uns streckte sich die Zeit. Ich sah ihn an, als könnte er rückgängig machen, was gerade geschehen war.
»Ist es tot?«, flüsterte ich schließlich mit zitternder Stimme.
Er nickte.
»Und Rosalie?«
Er blickte zur Seite, und ein stechender Schmerz fuhr mir durch die Brust. Ich konnte es nicht glauben. »Wusstest du, dass es hier war?«, fragte ich.
»Nein.« Seine Stimme klang heiser. »Es war ein Mantikor.«
Eine Sagengestalt. Eine Figur, erschaffen in einem Text zur Unterhaltung der Leute. Jemand hatte sie aufgeschrieben, und sie war nach Kapitolo gekommen. Deshalb war Rosalie jetzt tot.
Ich wollte mich zusammenkauern, fest die Augen schließen und nichts mehr davon hören. Was hätte ich darum gegeben, die Zeit zurückdrehen zu können. Mit unsicheren Schritten trat ich auf den Jungen zu und wollte ihn an der Schulter berühren, doch er wich vor mir zurück, da ließ ich die Hand wieder sinken.
»Warum wart ihr im Wald?«, fragte er beinahe vorwurfsvoll, und ich konnte sein Misstrauen auf der Haut spüren.
»Es war nicht deinetwegen. Wir wollten nur …« Hilflos zuckte ich mit den Schultern. »Kader hat gesagt … Es sollte doch nur ein Spaß sein …« Mit jedem Wort war ich lauter geworden, als könnte ich gegen das Geschehene anschreien. Aber es änderte sich gar nichts. Stumm starrten wir uns an, beide blutbesudelt und verstört.
Als ich begriff, dass er nicht als Erster reden würde, sagte ich: »Danke«, als würde das irgendwie reichen für das, was er für mich getan hatte.
»Du solltest jetzt gehen«, erwiderte er emotionslos und sah die Straße hinunter. Langsam wich er zurück, Schritt für Schritt, aus dem Licht der Laternen heraus und zurück in das Dunkel des Waldes. Fort von mir.
»Aber wir müssen doch …«, rief ich.
»Ihr dürft niemandem sagen, dass ihr hier wart und was ihr gesehen habt«, fiel er mir ins Wort.
»Was?« Wie vor den Kopf gestoßen, stolperte ich zurück.
»Das Mädchen … Ich werde sie an einen anderen Ort bringen. Damit man sie findet. Genauso wie den Mantikor. Wenn sie anfangen, hier nach ihr zu suchen, bin ich nicht mehr sicher.«
Meine Gedanken überschlugen sich. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, und war völlig überfordert.
Da hob er die Hand. »Ich kümmere mich darum.«
»Was soll das heißen? Ich verstehe nicht. Wir müssen doch … Rosalie …«
»Ich kümmere mich darum.« Es klang endgültig.
In mir kämpften zwei gegensätzliche Empfindungen. Einerseits wollte ich nichts lieber tun, als seiner Anweisung zu folgen, einfach nach Hause zu gehen und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Andererseits wusste ich, dass das nicht möglich war. Nichts würde je wieder so sein wie zuvor.
»Am besten vergisst du alles, was du gesehen hast.«
»Vergessen? Wie soll ich irgendetwas davon vergessen?«
»Vergiss mich, den Mantikor … das Mädchen.«
Wie stellte er sich das vor? Ich würde nichts vergessen können. Keine Sekunde. »Ihr Name ist Rosalie.«
»Geh nach Hause.« Seine Stimme war nur noch ein Flüstern.
Sollte ich das wirklich? Ich sah nach rechts und links, ich musste doch die anderen finden und mit ihnen sprechen. Wo waren sie nur? Hatten sie vielleicht längst die Polizei gerufen? Ich lauschte, aber ich konnte keine Sirenen hören.
»Werde ich dich wiedersehen?«, fragte ich.
»Nein.«
»Wirst du jemals in die Stadt kommen?«
Er antwortete nicht.
»Willst du für immer in diesem Wald bleiben?«, rief ich, weil ich auf irgendeine Reaktion wartete, aber auch das brachte nichts, er beantwortete meine Frage nicht.
Stattdessen sagte er: »Versprich mir, dass du niemandem von mir erzählst. Du weißt, was sonst mit mir passiert.«
Ich stellte mir vor, wie sie ihn zum Schwarzen Tempel brachten und in den Brunnen stießen, und in mir zog sich alles zusammen. »Du willst nicht zurück?«
»Ich gehe nie mehr zurück.« Er klang entschlossen, und mir graute vor dem Gedanken, aus welcher Geschichte er gekommen war, um es vorzuziehen, hier im Wald zu leben, allein und verfolgt. Er war gezwungen, Essen zu stehlen, konnte nicht in einem richtigen Bett schlafen und musste immer auf der Hut sein. Er hatte niemanden, der ihm half, ihn tröstete oder mit ihm lachte. War er in der Fantasiewelt eine Hauptfigur gewesen? Oder nur eine Nebenfigur, die der Autor dafür gebraucht hatte, um den Plot voranzubringen? Was war mit ihm geschehen?
»Versprich es«, forderte er mich drängend auf.
Ich wollte ihm nichts versprechen, es schien mir nicht richtig. Ich musste an Rosalie denken und ihren verdrehten Körper, der noch immer im Wald lag, im Dunkeln auf dem kalten Boden, und ich schämte mich fürchterlich, sie im Stich zu lassen. Aber er hatte mir gerade das Leben gerettet, wie sollte ich ihm also seine Bitte abschlagen? War ich ihm das nicht schuldig?
Also sagte ich: »Ich verspreche es«, obwohl ich nicht wusste, ob ich mir das je verzeihen würde.
Erleichtert atmete er auf, und auf einmal sah er sehr erschöpft und müde aus. »Geh jetzt«, wiederholte er, und etwas an der Art, wie er es sagte, weckte eine beißende Verzweiflung in mir.
Ich stellte mir vor, wie er in diesen Wald zurückkehren würde, um das zu tun, was er gesagt hatte. Allein und ohne Hilfe. Er war stets allein und immer auf der Flucht. War das wirklich ein Leben? War das so viel besser als die Geschichte, aus der er gekommen war?
Mein Blick bohrte sich in seinen, und plötzlich hielt ich es nicht mehr aus. Ich sprang auf ihn zu und umarmte ihn. Der leichte elektrische Schock erfasste mich, aber das störte mich nicht, der Junge fühlte sich an wie ein Mensch. Wenn ich die Augen schloss, konnte ich mir einbilden, dass er einer war.
Doch im Gegensatz zu Kader erwiderte er meine Umarmung nicht, ließ sie nur einen Augenblick über sich ergehen, dann schob er mich sanft von sich. Mit dem Kinn deutete er in Richtung des Josephine , bevor er sich abwandte und im Wald verschwand. Wenige Sekunden lang konnte ich noch das Knacken der Zweige hören, dann war es wieder still, als wäre er nie hier gewesen.
Ich drehte mich um und rannte die Straße hinunter, ohne mich noch einmal umzusehen.