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A ls ich vor dem Josephine stand, konnte ich sehen, dass in einer Umkleidekabine Licht brannte. Das Tor war nur zugeklinkt, aber nicht verschlossen. Wie benommen ging ich über die gesprungenen Platten hinein ins Gebäude bis in die Mitarbeiterumkleidekabine. Die Angst davor, was ich vorfinden würde, schnürte mir beinahe die Luft ab.

Doch sie waren alle drei da.

Kader saß auf einer Bank vor den Spinden. Sie trug eine Trainingshose und ein Rettungsschwimmer-T-Shirt. Sean stand ebenfalls mit neuen Sachen neben ihr, während sich Michael gerade noch umzog. Ihre Haut war mit Kratzern übersät, Kader zitterten die Schultern, und sie wiegte sich vor und zurück. Alle drei waren blass und sahen mich an, als würden sie einen Geist sehen.

Wortlos nahm ich mir eine Hose und ein T-Shirt aus dem Schrank und ging duschen. Das Wasser brannte mir auf der Haut, aber das war mir egal. Ich ließ es einfach mit gesenktem Kopf über mich rauschen. Ich konnte an nichts denken, ich war innerlich wie erstarrt.

Ich weiß nicht, wann ich mich endlich abtrocknete, anzog und zu ihnen zurückging. Es musste einige Zeit vergangen sein. Trotzdem saßen sie noch immer auf den Bänken, Michael hatte den Kopf zwischen den Händen, Sean eine Dose Bier, die er aus dem Kühlschrank geholt hatte. Wortlos rollte er eine weitere über den Boden zu mir. Ich hob sie auf, ließ mich neben Kader auf die Bank fallen und öffnete die Dose. Dann trank ich die Hälfte in einem Zug.

Wir hatten an diesem Abend schon so einiges getrunken, aber ich fühlte mich so nüchtern wie am frühen Morgen. Ich hoffte, das Bier würde die Panik vertreiben, und beinahe hysterisch musste ich an die Abmachung mit meinen Eltern denken. Ich hatte viel mehr als nur zwei Bier getrunken.

»Sieht so aus, als hättest du recht gehabt«, sagte ich zu Kader, »da war ein Monster im Wald.«

Sie zuckte zusammen und schaute auf die dreckigen Sachen zu meinen Füßen.

»Wie hast du es geschafft?« Michaels Frage war nicht mehr als ein Flüstern.

»Ich bin gerannt. Genau wie ihr.« Das war nicht gelogen.

Eine Weile schwiegen wir, und nur unser Atmen war zu hören, doch irgendwann sagte Sean: »Wir können die Polizei nicht informieren.«

Lange betrachtete ich ihn, und er starrte zurück. Er rieb sich mit den Händen über den geschorenen Kopf und ließ ihn hängen. Ich wusste, warum ich versprochen hatte, nichts zu erzählen, aber welchen Grund hatte er?

Er musste die Frage von meinem Gesicht ablesen, denn er sagte: »Wir waren in dem Gebiet unterwegs, das für Besucher nicht erlaubt ist. Paddy und ich … Kate, die Polizei ist nicht so gut auf uns zu sprechen.« Beinahe flehentlich sah er mich an.

Was sollte ich darauf antworten? Was erwartete er von mir? Ich kannte seine Familiengeschichte nicht, er hatte ja nie etwas gesagt.

Michael räusperte sich. »Wenn ich mich auf die guten Unis bewerben will, um hier rauszukommen, brauche ich eine weiße Weste. So eine Geschichte kann ich mir nicht leisten.«

So eine Geschichte?

Was sollte das heißen? Als ich ihn ansah, blickte er beschämt zur Seite. Waren sie sich etwa schon einig gewesen, als ich hier angekommen war? Hatten sie das alles schon besprochen?

Mein Blick wanderte zu Kader. Ich ging davon aus, dass sie protestieren würde, dass sie auf jeden Fall zur VdF gehen würde. Ich mochte mir nicht vorstellen, wie es gerade in ihrem Kopf aussah. Ein zweites Mal war sie einer Figur nur knapp entkommen, die Angst musste sie doch verrückt machen.

Aber sie widersprach den beiden nicht. Starrte nur weiter stumm auf ihre Füße.

»Kader?« Meine Stimme zitterte genauso wie meine Hände.

»Keine Polizei«, antwortete sie brüsk, und ich hörte, wie Michael erleichtert aufatmete.

Fassungslos bohrte sich mein Blick in die Seite ihres Kopfs, als könnte ich so irgendwie hineinsehen. Doch was immer auch ihre Gründe dafür waren, dass sie nicht zur Polizei wollte, sie behielt sie für sich.

»Dann ist es entschieden.« Sean nickte jedem von uns zu. »Wir gehen nach Hause und halten den Mund.«

»Was ist mit Rosalie?«, fragte Michael, und ich erkannte ihn kaum wieder. Von dem charmanten Mädchenschwarm war nichts mehr übrig, wie wir war er verängstigt und hilflos.

»Sie ist tot«, antwortete ich überflüssigerweise. Das alles fühlte sich so falsch an. Als würden wir sie im Stich lassen. Ich hatte Angst, dass ich gerade einen kolossalen Fehler machte. Es war eine Sache, eine Feder zu verstecken oder eine Taube freizulassen oder sogar, sich nachts im Wald herumzutreiben – aber eine ganz andere, ein totes Mädchen zu verschweigen. Was, wenn das alles doch herauskam?

Der Junge im Wald verließ sich auf mein Wort, aber durfte ich es unter diesen Umständen auch halten? War ich nicht auch Rosalie etwas schuldig? Etwas Würde?

»Was ist mit ihren Eltern?«, fragte ich in die Runde, aber niemand sah mir in die Augen. »Was werden sie denken, wenn sie nicht nach Hause kommt? Sollen sie tagelang hoffen, dass sie noch am Leben ist?« Der Gedanke war mir zuvor nicht gekommen, doch jetzt stellte ich mir plötzlich vor, wie meine Eltern darauf reagieren würden, wenn mir etwas passieren würde, und übergab mich erneut.

Ohne ein Wort stand Sean auf, holte Eimer und Lappen und wischte stumm die Sauerei auf, während ich den Kopf an den Spind hinter mir lehnte und die Augen schloss.

»Wir können ja gar nichts mehr daran ändern«, sagte Kader beinahe beschwörend, als würde dadurch irgendetwas leichter.

Sie hatte recht, wir konnten nichts mehr für Rosalie tun, trotzdem wusste ich, dass das hier falsch war. Ich konnte mir einreden, dass ich es für den Jungen im Wald tat, aber das machte es nicht besser. Im Gegenteil, ich versuchte, eine Figur zu schützen, über die ich nichts wusste und die sonst was sein konnte.

Die Trauer schnürte mir die Kehle zu. Ich trauerte um dieses Mädchen, das es nie leicht gehabt hatte, das mir die meiste Zeit auf die Nerven gefallen war und das ich nie richtig verstanden hatte und das ich auch nicht verstehen hatte wollen. Das ich im Grunde gar nicht richtig gekannt hatte.

Dieses Gefühl durchdrang mich wie Wasser einen Schwamm, die Scham und das Bedauern setzten sich in meinen Zellen fest. Etwas in mir war mit Rosalie in diesem Wald geblieben, vielleicht eingesickert in den Erdboden wie ihr Blut, und ich ahnte, dass ich mich nie wieder davon erholen würde.

»Es war nicht unsere Schuld, oder?«, flüsterte Michael auf einmal und hob den Kopf. »Ich meine, wir konnten doch nicht wissen …«

Wir hatten sie mitgenommen, und Rosalie war uns gefolgt, weil sie sich eine gute Zeit erhofft hatte. Und dann hatten wir sie ins Dunkel getrieben, in dem das Monster lauerte.

»Es war nicht unsere Schuld«, antwortete Kader. Sie klang beinahe hysterisch. »Das Monster war schuld!«

Sean nickte. »Ich mache morgen einen anonymen Anruf bei der VdF, damit sie wenigstens wissen, dass da draußen im Wald etwas lauert. So finden sie Rosalie vielleicht auch schneller.«

»Was ist, wenn die Polizei uns zu ihrem Verbleib fragt, ich meine, irgendwer weiß doch bestimmt, dass sie heute mit uns unterwegs war«, gab Michael zu bedenken. »Die Leute auf der Party haben uns doch gesehen.«

»Wir werden sagen, dass wir zusammen hingegangen sind und uns vor der Tür getrennt haben.«

»Das ist unsere Geschichte«, sagte Kader.

Auch Michael nickte, und erwartungsvoll blickten sie mich an. Auf einmal kamen sie mir vor wie Fremde, als hätte ich sie noch nie in meinem Leben gesehen. Ich kam mir selbst wie eine andere vor. Es war bittere Ironie, dass Kader nun etwas benutzte, das sie eigentlich verachtete und fürchtete: das Geschichtenerzählen. Und wieder einmal verband es sich mit dem Lügen, als wäre das ein und dasselbe.

Ich widersprach nicht.