G egen elf Uhr am Vormittag des nächsten Tages fand man Rosalies Leiche und die des Mantikor im Wasserbecken eines großen stillstehenden Mühlrads. Die Zinnober-Mühlen grenzten an den Dunkelbusch, der Junge musste sie also bis dorthin gebracht haben. Wie, war mir schleierhaft, selbst wenn er Rosalie tragen konnte, der Mantikor musste viel zu schwer gewesen sein. Aber was wusste ich schon über diese Figur, die aussah wie ein Junge und möglicherweise etwas ganz anderes war? Ich kannte nicht einmal seinen Namen.
Das Josephine blieb drei Tage lang geschlossen, doch auch nach seiner Öffnung kehrte ich nie wieder dorthin zurück. Meine Eltern boten mir an, einen Psychologen aufzusuchen, der auf Trauerbewältigung spezialisiert war, aber das lehnte ich ab. Stattdessen schloss ich mich tagelang in meinem Zimmer ein; sie versuchten nicht, mich herauszulocken, sondern gaben mir die Zeit.
Eine ganze Woche lang berichteten die Medien über den Fall. Spekulierten über die Hintergründe und verfolgten die Jagd nach dem Autor. Als seine Identität schließlich bekannt gegeben wurde, stellte sich heraus, dass es eine Frau war, die historische Fantasy schrieb, und der Mantikor das Monster war, das ihr Held in einem dieser Romane besiegen musste, um die Stadt und seine große Liebe vor dem Untergang zu retten. Die Frau bekam fünf Jahre Gefängnis wegen fahrlässiger Tötung, ihr Geschöpf war ja schon tot. Danach schrieb sie nie wieder und verschwand aus der Öffentlichkeit.
Eine Weile zuckte ich bei jedem Klingeln an der Tür zusammen, weil ich Angst hatte, die Polizei würde nun doch noch kommen, um mich zu befragen. Aber das tat sie nicht. Es stellte sich heraus, dass Rosalie zu Hause nur erzählt hatte, sie würde mit Freunden auf eine Party gehen. Wer diese Freunde waren, hatte sie nicht erwähnt. Und offenbar hatte auch niemand danach gefragt.
Unsere Geschichte war überflüssig geworden.
Die gesamte Belegschaft des Josephine ging zur Beerdigung, nur ich nicht. Stattdessen verbrachte ich den Tag mit Fieber im Bett und lehnte es ab, von meinen Eltern umsorgt zu werden. Ich ignorierte Seans Nachrichten und Michaels Anrufe, bis sie es aufgaben, sich bei mir zu melden, und ich ihre Nummern aus dem Handy löschte.
Ich sah sie nie wieder. Ich erkundigte mich nicht nach ihnen und mied Gründorf, wo ich nur konnte. Auch ins Freibad konnte ich etliche Jahre nicht mehr gehen. Mit der Zeit lernte ich jedoch, die Bilder jenes Sommers aus meinem Bewusstsein zu schieben. Ich sehnte mich danach, in mein altes Leben zurückzukehren, als wäre all das nicht passiert. Ich unterdrückte die Scham, das schlechte Gewissen und die Angst, und langsam, Stück für Stück, erhielt mein Leben seine alte Form zurück, während ich lernte, nicht nur andere, sondern auch mich selbst zu belügen.
Ich ging wieder aus, traf mich mit Freunden, las Bücher, ohne mich zu fragen, wie es den Figuren in der Fantasiewelt mit ihren Geschichten erging; ich beendete die Schule, begann mit dem Studium der Kulturwissenschaften und zwei Jahre nach Rosalies Tod wieder mit dem Schreiben. So lange benötigte ich, bis ich eines der alten Notizbücher aufschlagen konnte. Eine Weile hatte ich jeden Gedanken an die Fantasiewelt und ihre Figuren abgelehnt, doch eines Tages überfiel mich plötzlich das Bedürfnis, etwas aufzuschreiben und meine Gedanken festzuhalten. Also hatte ich zögernd das Notizheft aus der Schreibtischschublade gezogen und mit zitternder Hand einen Satz hineingeschrieben. Dabei hatte ich geschwitzt, mein Herz hatte wild geklopft, und ich hatte mich vor Magenschmerzen gekrümmt. Aber ich hatte etwas aufgeschrieben.
Danach hörte ich nicht mehr auf. Ich sagte mir, dass das Monster im Wald nicht meine Figur gewesen war. Dass meine Figuren nie nach Kapitolo kommen würden und dass das, was in jenem Sommer geschehen war, eine Ausnahme darstellte. Ein tragisches Ereignis, das eigentlich nichts mehr mit mir zu tun hatte. Ich war nicht die Hüterin fremder Figuren, auch nicht des Jungen im Wald. Außerdem war ich noch ein Kind gewesen.
Doch in manchen Nächten träumte ich unruhig von dem, was geschehen war, und in meinem Inneren nagte eine fürchterliche Schuld an mir, die mich nie ganz verließ. In der Stille dieser Nächte, in denen ich nicht schlafen konnte, gestand ich mir ein, was ich niemals laut aussprach, obwohl ich wusste, dass es wahr war: Im Sommer der toten Fliegen hatten wir Kaders Monster nicht gefunden – doch jeder von uns war selbst zu einem geworden …