21

A ls wir vor dem Josephine hielten und ausstiegen, wurde mir bei seinem Anblick schwindlig.

Die Zeit war nicht freundlich zu ihm gewesen, es sah noch heruntergekommener aus als damals vor fünfzehn Jahren. Die kahlen Zweige der Büsche und Bäume ringsum verstärkten noch den Eindruck der Trostlosigkeit. Jop und ich waren weit und breit die einzigen Menschen, vereinzelt fuhren Autos an uns vorüber auf dem Weg zum Supermarkt, aber der ganze Ort wirkte beinahe wie eine Kulisse.

»Ist das überhaupt noch in Betrieb?«, fragte Jop skeptisch.

Ich rüttelte am Eingangstor, das wie zu erwarten verschlossen war. Im Winter hatte das Freibad seinen Betrieb schon immer eingestellt, allerdings konnte ich mir nur schwer vorstellen, dass es im Sommer seine Tore wieder öffnen würde. Ich spähte durch die Gitter, das zugeschneite Gelände sah ungepflegt aus, und im Infokasten neben dem Tor waren keine Zettel angeschlagen.

»Und nun?«, fragte Jop.

»Lass uns mal einen Blick auf die Rückseite werfen.«

Wir liefen um das Gelände herum, bis wir auf der Seite ankamen, die zum Wald hin zeigte. Hier sah es noch schlimmer aus. Die Fassade war mit Rissen überzogen, der Efeu verschwunden, die Scheiben gesprungen. Ich lief zu der Tür im Zaun, die uns am nächsten lag, und fand das Schloss aufgebrochen vor. Am Zaun hing zwar ein Schild, das auf Kameras hinwies, doch die waren längst abgeschraubt worden.

Langsam öffnete ich die Tür. Sie quietschte, und ich musste sie gegen den Schnee dahinter drücken.

»Bist du sicher?«, fragte Jop wieder einmal, und auch dieses Mal nickte ich, als wüsste ich, was ich tat.

»Ich will nur einen Blick hineinwerfen.«

Er zog einen Teleskopschlagstock aus der Hosentasche und zog ihn auf.

»Lass mich raten, der gehört eigentlich Estelle«, sagte ich trocken, und er grinste. Kopfschüttelnd stapfte ich über den schneebedeckten Rasen und näherte mich dem Gebäude. Der Hintereingang besaß ein neues Türblatt, aber es fehlte das Schloss.

»Nach dir«, sagte Jop und deutete darauf.

Ich verzog das Gesicht und holte das Pfefferspray aus dem Mantel. Sicher war sicher. Langsam wagte ich mich voran, das Spray hielt ich mit ausgestrecktem Arm vor mich, falls mich die Figur überraschen sollte. Oder sonst irgendwer auf Erkundungstour, der genau wie wir die Gunst der Stunde nutzte, weil sich offenbar niemand mehr um dieses alte Gebäude scherte.

Mit dem Fuß schob ich die Tür auf. Ein Blick in die Küche bestätigte, dass das Freibad nicht nur für den Winter geschlossen worden war. Bis auf die eingebauten Schränke war sie leer geräumt. Der Kühlschrank fehlte, ebenso wie der Herd, nur die Spüle und ein alter Wasserkocher standen noch da. Über allem lag eine Schmutz- und Staubschicht, abgesehen von einigen wenigen Stellen an der Spüle. Der Fußboden sah aus, als hätte jemand Schnee und Dreck hereingetragen und nie gewischt. Die Fliesen waren grau.

»Das erklärt wohl die niedrige Sicherheitsstufe.« Jop zog angewidert die Nase kraus. »Hier gibt es einfach nichts mehr zu stehlen.«

Ich lauschte und ging weiter, außer uns schien niemand hier zu sein. Einige Türen waren eingetreten, aber die Räume dahinter ähnlich leer wie die Küche. Alles, was nicht unmittelbar eingebaut war, war fortgeschafft worden. Während ich durch die Flure lief, kam es mir beinahe so vor, als würde ich schlafwandeln. Erinnerungen an die Vergangenheit überlagerten das, was ich direkt vor mir sah. Ich hörte Stimmen, lauschte Gesprächen, die wir längst geführt hatten, und kniff die Augen gegen das grelle Licht zusammen, das die Wintersonne an diesem Tag gar nicht abstrahlte. Der Geruch von Chlor und Sonnencreme kroch mir mit jedem Meter mehr in die Nase.

Als ich die Mitarbeiterkabine betrat, Jop dicht auf den Fersen, entdeckte ich in einer Ecke eine Art Schlaflager aus alten Decken. Daneben lagen Essensreste und Unrat. Mir stach Schweißgeruch in die Nase, der mich vollständig in die Gegenwart zurückholte. Jop hockte sich neben das Lager. Mit angewidertem Gesicht hob er die Decken ein Stück nach oben. Darunter lagen dreckige Kleidungsstücke, alles roch muffig und ungewaschen.

»Die Figur hat hier ihr Lager aufgeschlagen«, sagte ich. »Vielleicht ist sie genau hier nach Kapitolo gekommen.«

»Bist du wirklich sicher, dass du nie über Rosalie geschrieben hast?«

»Nicht als Figur, nicht mal in Untergehen bei Ebbe «, sagte ich verzweifelt. »Und das war das erste Buch danach. Es handelt doch irgendwie davon, ich meine, das waren meine Gefühle aus dieser Zeit, aber ich schwöre dir, Jop, ich habe nie daran gedacht, Rosalie als Vorlage zu verwenden. Das wäre mir einfach nicht richtig vorgekommen.«

Grübelnd erhob er sich. »Aber ist es nicht logisch, dass die Figur aus diesem Buch stammt, wenn es so eng mit der Geschichte von damals verwoben ist?«

Ich fuhr mir durch die Haare. »Ich weiß es doch auch nicht, Jop! Nichts ergibt hier irgendeinen Sinn. Ich …« Doch ich kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu sprechen, denn Estelles Handy klingelte.

Es war Wera. »Ich habe zwei für dich«, sagte sie ohne Begrüßung. Im Hintergrund konnte ich ihre Tochter quengeln hören. »Lass das!«, rief Wera, es schepperte, sie fluchte, dann atmete sie tief durch und fragte: »Bist du noch dran?«

»Ja. Hör mal, Wera, was da in den Nachrichten …«

»Ich habe keine Zeit, Kate. Das können wir alles später klären. Hör mir jetzt einfach zu. Zwei deiner Figuren passen meines Erachtens in deine Beschreibung. Nicht in der Lage, getanes Unrecht zu ignorieren. Pakuna aus Auf Messers Schneide

»Sie hat den Protagonisten beim Ermitteln geholfen …«

»… und am Ende dafür gesorgt, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen wurden, weil sie das Grundwasser in der Gemeinde mit Chemiemüll vergiftet haben. Dabei hat sie ein Bein verloren. Sie wusste genau, was sie riskiert, und sie hat es trotzdem getan. Obwohl sie eine kleine Tochter hatte.«

»Sie war Witwe und hat den Protagonisten geheiratet, der das Kind adoptiert hat. Ich glaube, das Mädchen hieß Yona.«

»Ja, aber das ist alles unerheblich. Wichtig ist nur, dass sie es nicht ertragen hat, diese Leute davonkommen zu lassen. Schon im zweiten Kapitel des Romans sagt sie, dass sie nachts nicht schlafen kann, weil es sie verfolgt, wie sie mit den Menschen umgehen. Sie verliert ihr verdammtes Bein!«, schrie sie in den Hörer, doch ich hatte den Eindruck, dass sie vor allem gegen den Lärm im Hintergrund anschrie.

»Aber kann sie so auch zwei Morde begehen und in einer fremden Stadt flüchtig sein?«

»Es gibt olympische Rennen mit Beinprothesen, Kate, ich glaube nicht, dass das ein Hindernis darstellt.«

»Das ist wahr. Und die Zweite?«

»Frederike Hofstätter.«

»Das ist die Reitlehrerin aus dem ersten Rosenfelder-Roman«, erwiderte ich überrascht.

»Ich weiß, aber sie ist noch nicht zu alt, um etwas dermaßen Herausforderndes körperlich zu bewältigen. Außerdem ist ihr Sohn bei einem Gondelunglück ums Leben gekommen. Sie verachtet alle Menschen, die sich aus der Verantwortung stehlen, schreibt lange Briefe an die, die sie für schuldig hält, und setzt ihr gesamtes Einkommen dafür ein, den Schuldigen für dieses vertauschte Adoptionsbaby zu überführen. Nimm die Finger aus der Steckdose!«

Ich zuckte zusammen, dann begriff ich, dass sie nicht mit mir redete.

»Denk darüber nach, Kate. So wie du sie geschrieben hast, sind sie beide extrem von Gerechtigkeit besessen. Mehr als alle anderen deiner Figuren. Bei Frederike fällt es nur nicht sofort auf, weil du sie eher humorig aufgebaut hast mit ihrer ewigen Briefeschreiberei, aber die Geschichte dahinter ist hochtragisch. Ich habe das überprüft. Siebenundzwanzig Mal fällt bei Pakuna das Wort Gerechtigkeit, bei Frederike sogar zweiunddreißig Mal!«

Die Figuren standen mir sofort vor meinem geistigen Auge, obwohl sie keine Protagonisten waren, nur ein Love Interest und eine Art Beste-Freundin-Figur. Ich hatte sie als Beispiele rechtschaffener Menschen entworfen, die lernen mussten, mit ihrer Wut über die erlebten Ungerechtigkeiten umzugehen. Sie waren Symbolbilder einer lähmenden Ohnmacht, die gute Menschen dabei empfinden, wenn sie zur Untätigkeit im Angesicht schlechter Taten verdammt sind. Je länger ich darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschienen sie mir als Täter.

»Überleg doch, wie du sie damals geschrieben hast. Sie sind beide zornig und verletzt und fühlen sich mit ihrem Schmerz nicht ernst genommen. Sie wollen verstanden werden.«

»Und deshalb rächen sie sich an uns? Ich weiß nicht, Wera …« Das kam mir doch ein bisschen simpel vor.

»Kate, streng dich an, versetz dich in ihre Lage. Ihnen fehlt das Gefühl des Abschlusses. Zumindest in ihren eigenen Geschichten.«

»Aber ich habe ihnen doch ein positives Ende geschrieben! Sie entwickeln sich beide weiter und finden neuen Inhalt im Leben.«

Ungehalten schnalzte Wera mit der Zunge. »Die eine heiratet, und die andere hört auf, Briefe zu schreiben. Das ist keine Trauma-Aufarbeitung, das ist ein Zum-Schluss-Kommen, weil die erforderliche Seitenzahl erreicht ist.«

Diese direkte Offenheit kannte ich an ihr noch nicht, ich musste mich wohl erst daran gewöhnen, offenbar hatten wir eine neue Stufe unserer Beziehung erreicht. »Willst du damit sagen, dass es mir an Empathie mit diesen Figuren gemangelt hat?«

»Empathie ist der Versuch einer Kommunikation, und ich denke, dass du die Kommunikation vorzeitig abgebrochen hast.«

Ihre Worte trafen mich wie ein Faustschlag, und die Scham trieb mir die Wärme in die Wangen. Ich spürte, dass sie wahr waren.

Erneut schepperte es. »Kate, ich muss …«

»Ja, natürlich. Danke, du hast mir sehr geholfen, wirklich!«

»Alles wird gut, du wirst sehen«, sprach sie endlich die Worte aus, die ich so dringend von ihr hören wollte, aber ich ahnte, dass sie zu spät kamen.

Plötzlich überkam mich wieder einmal das Gefühl, beobachtet zu werden, genauso wie vor fünfzehn Jahren. Das Gefühl war mir immer noch so vertraut, dass ich nicht überrascht war, wenige Sekunden später die Taube rufen zu hören. Ich drängte mich an Jop vorbei ins Freie. Wie im Fieber rannte ich zum Zaun zurück und starrte schwer atmend hinüber in den Wald. Hinter mir kam Jop aus dem Gebäude, während über uns ein weiterer Taubenruf erklang.

Ich schaute zum Wald, kniff die Augen zusammen. Die Bäume bildeten dunkle Silhouetten über der blendenden Schneedecke. Und genau dort stand er, zwischen ihnen, und blickte mich an. Ich wusste sofort, dass es der Junge aus dem Wald war.

Allerdings war er kein Junge mehr.

Inzwischen trug er die Haare kurz, dafür Bart. Er war noch ein Stück gewachsen und in den Schultern breiter geworden; seiner Haut sah man an, dass er viel Zeit im Freien verbrachte. Seine Kleidung wirkte uneitel und zweckmäßig; Jeans, Wanderstiefel und der dicke Winterparka waren nicht mehr ganz sauber. Er war ein Mann geworden, aber ich erkannte ihn.

Zwischen unseren Blicken schrumpfte die Zeit, ich wurde wieder sechzehn, ängstlich und neugierig. Was er wohl dachte, wenn er mich ansah? Auch ich war älter geworden. Das Blond meiner Haare dunkler, meine Wangen schmaler. Ich hatte erste Falten um die Augen, nur meine Ohren standen noch immer ein bisschen ab.

Wie hypnotisiert ging ich durch die Tür im Zaun, überquerte den vereisten Grasstreifen, näherte mich dem Jungen mit der Taube, der nun ein Mann war, Schritt für Schritt, während mir das Herz bis zum Hals schlug. Hinter mir hörte ich Jop warnend meinen Namen rufen, aber ich hörte nicht auf ihn. Erst als uns nur noch zwei Armlängen trennten, blieb ich stehen.

»Das ist nicht meine Figur«, sagte ich, meine ganze Aufmerksamkeit galt dem Mann vor mir. »Warst du die ganze Zeit über hier?«, fragte ich ihn.

Er nickte. Vielleicht hätte ich ihn gefunden, wenn ich in den Wald zurückgekehrt wäre, aber vielleicht meinte er gar nicht den Dunkelbusch, sondern ganz Kapitolo.

»Wirst du mir dieses Mal deinen Namen verraten?«

»Du kannst mich Te nennen«, sagte er. Auch seine Stimme klang tiefer.

Ich ahnte, dass das nicht sein richtiger Name war; möglicherweise ein Spitzname, eine Abkürzung, ich drängte nicht in ihn. Offenbar wollte er immer noch nicht, dass ich herausfand, für welche Geschichte er geschaffen worden war, und ich hatte kein Recht darauf, es zu erfahren.

»Du weißt, was hier geschieht, nicht wahr?«, fragte ich, und er nickte. »Wirst du uns sagen, wer die Figur ist? Wir wissen, dass es eine Frau ist. Ist es Pakuna? Frederike? Was will sie?«

Statt mir zu antworten, winkte er mich zwischen die Bäume, tiefer in den Wald, und ohne zu zögern, machte ich einen weiteren Schritt auf ihn zu.

»Warte!«, rief Jop erneut. »Du denkst hoffentlich nicht daran, diesem Kerl in den Wald zu folgen?«

»Ich muss das jetzt zu Ende bringen«, erwiderte ich. »So kann es nicht weitergehen.«

»Ich traue der Sache nicht.«

Ich wandte mich zu ihm um. »Wenn ich ihm jetzt nicht folge, werde ich nie erfahren, wie die Geschichte ausgeht.«

Frustriert hob Jop die Hände. »Dann hat sie eben ein offenes Ende und offene Fragen, Kate.« Er klang aufgebracht. »Hauptsache, du bist in Sicherheit.«

»Aber das bin ich nicht, solange die Figur frei herumläuft und Driessen Jagd auf sie macht.« Meinem schlechten Gewissen konnte ich ohnehin nicht entkommen.

Er warf einen düsteren Blick auf den Wald. »Nach allem, was dort geschehen ist …«

»Und genau deshalb muss ich noch einmal hinein, verstehst du das nicht?«

»Wir müssen uns beeilen«, unterbrach uns Te. »Deine Figur wird sich zeigen, wenn du mit mir kommst.«

»Was soll das heißen? Dass sie so eine Art Köder ist?«, empörte sich Jop, doch Te ließ sich nicht provozieren. Stumm wartete er darauf, dass ich mich entschied, und ich spürte, dass er recht hatte.

Entschlossen nickte ich. »Bleib hier und warte auf Folkvar«, sagte ich zu Jop. »Wenn er hier auftaucht, folgt ihr uns.«

»Woher soll ich wissen, wo ihr seid?«

»Folg den Spuren im Schnee.«

»Willst du mich veralbern?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Das hier ist Kapitolo. Wir machen es wie in den Geschichten.«

Er schüttelte den Kopf. »Langsam glaube ich, du bist einfach übergeschnappt.«

»Kann schon sein.« Aufmunternd grinste ich ihn an. »Es wird schon schiefgehen.«

»Eben. Darum mache ich mir ja Sorgen.«

Ich legte ihm kurz die Hand auf die Schulter, bevor ich mich umdrehte und zu Te zwischen die Bäume trat.

Im Winter sah der Wald anders aus. Kontrastreicher. Das Dunkel der Äste, Zweige und Nadeln hob sich gegen den Schnee und das Grau des Himmels ab, doch alles wirkte genauso undurchdringlich wie im Sommer. Der Dunkelbusch hatte lediglich sein Kleid geändert, aber nicht das Skelett, das darunter lag.

Wir waren damals an einer anderen Stelle in den Wald gegangen. Te mied die ausgetretenen Wege, trotzdem erahnte ich die Richtung, die er einschlug. Wir näherten uns der Lichtung, auf der wir Rosalie das letzte Mal lebend gesehen hatten. Nervös sah ich mich um, Te hatte behauptet, die Figur würde sich mir zeigen, also rechnete ich mit jedem Schritt, dass sie durch die Büsche brechen würde. Meine Hand schloss sich fest um das Pfefferspray.

Je tiefer wir in den Wald eindrangen, desto dichter wurde er, die kahlen Äste und Zweige bildeten ein unregelmäßiges Netz, und mit jedem Schritt fiel mir das Atmen schwerer. Es lag nicht nur an der Anstrengung, die das Stapfen durch den Schnee darstellte, sondern auch an den Erinnerungen, die mich überfielen. Es war gleichzeitig kalt und hell, ich schwitzte, es war ruhig, trotzdem hörte ich entferntes Gelächter. Während wir weiterliefen, verlor ich jegliches Gefühl für die Zeit; ich überlegte, was ich zu Pakuna oder Frederike sagen würde. In meiner Vorstellung waren sie längst zu diesem doppelköpfigen Monster herangewachsen, dem ich mich stellen musste wie der Held dem Drachen.

Erwarteten sie eine Entschuldigung von mir? Sollte ich versuchen, mit ihnen zu reden und ihnen zu erklären, warum wir damals so gehandelt hatten? Würde das etwas ändern? Würde ich begreifen, was sie mir erzählten? Vielleicht sogar die Gründe für ihr Handeln verstehen? Ich musste es jedenfalls versuchen, schon Sean zuliebe, damit ich die Figur davon abbrachte, Jagd auf ihn, Te oder mich zu machen.

Während wir vorangingen, beobachtete ich Te. Er wirkte hier zu Hause und war es wahrscheinlich auch, aber dieser Gedanke erfüllte mich mit beißender Traurigkeit. Wie viele Jahre lebte er nun schon hier im Wald? Oder hatte er einen anderen Unterschlupf gefunden? Wann hatte er sich das letzte Mal richtig in Sicherheit gefühlt? Oder mit jemandem geredet?

»Warum hilfst du mir?«, fragte ich in die drückende Stille zwischen uns, während unter unseren Sohlen Schnee und Eis knirschten. Es war eine von vielen Fragen, die ich ihm stellen wollte.

»Die Figur tötet Menschen.«

»Du hast Folkvar gesagt, dass wir ins Kaufhaus der Wünsche gehen, nicht wahr?«, sagte ich ihm auf den Kopf zu, und er nickte. »Woher wusstest du das?«

Er sah nach oben zu seiner Taube.

Natürlich, sie spionierte für ihn.

»Aber wie hat sie mich gefunden?«

»So wie immer.«

»Wie immer«, wiederholte ich atemlos. »Was soll das heißen?« Mein Blick bohrte Löcher in seinen Hinterkopf.

Er wandte sich nicht um, wich nur geschickt den Hindernissen aus. »Ich wusste immer, wo du bist.«

Diese kryptische Antwort ließ mich sprachlos zurück. Meinte er damit etwa die letzten Jahre? Die ganze Zeit seit Rosalies Tod? Ich wollte ihn packen und schütteln, damit er mir Antworten gab, aber der Abstand zwischen uns war zu groß, und ich kam nicht schnell genug im Schnee voran.

»Die Figur sucht nach dir, weil du mir schon damals geholfen hast, ist es nicht so?«, versuchte ich es erneut.

Über uns schlug die Taube wild mit den Flügeln, bevor sie in Tes Nähe auf einem Ast landete. Finster betrachtete er sie, bevor er weiterlief. Wir stiegen über einen umgestürzten Baumstamm.

»Warum hast du dich mir damals offenbart?«

Er schwieg.

»Ich weiß, dass du mich beobachtet hast. Ich konnte es spüren. Jedes Mal. Warum gerade ich?«

Abrupt blieb er stehen und hob die Schultern, als würde er sich wappnen. Langsam drehte er sich zu mir um. Sein Blick war nicht freundlich.

»Sag etwas!«, rief ich. »Fünfzehn Jahre, verdammt noch mal! Hast du mir hinterherspioniert? Was willst du von mir? Ich hätte doch nie erfahren, dass du da bist, mitten in diesem riesigen Wald. Du hast dich mir gezeigt. Warum?«

Die Taube flog auf seine Schulter und sah mich aus ihren roten Augen an, als wüsste sie all meine Geheimnisse. Vielleicht tat sie das auch, was wusste ich schon über diese Figur, die aussah wie ein Tier und vermutlich viel mehr als das war.

»Ich habe dich gesehen«, sagte Te gedankenversunken. »Die Tür stand immer offen … wie du an diesem Fenster gesessen und die Leute beobachtet hast. Hinter dir war der Pool zu sehen. Du sahst ganz still aus …« Er räusperte sich, als wäre ihm dieses Eingeständnis peinlich. »Ich wusste, dass du schreibst.«

Was sollte das bedeuten? Hatte er mich dabei beobachtet? Aber ich hatte im Josephine nie geschrieben, weil ich wusste, wie sehr es Kader hasste. Hatte er es mir etwa an der Nasenspitze angesehen? Das war doch absurd. War es nicht viel wahrscheinlicher, dass er einfach Kontakt gesucht hatte? Ein Junge in seinem Alter hatte ein Mädchen gesehen, das ihm gefiel – das klang nach einer glaubwürdigen Geschichte.

»Als ich noch in meiner eigenen Buchwelt war, haben wir Gerüchte gehört«, sprach er weiter, ohne mich anzusehen, »von Figuren, die ihre Geschichte korrigieren konnten, nachdem sie nach Kapitolo gekommen sind. Aber mein Schöpfer ist nicht mehr hier …«

»Also hast du nach jemandem gesucht, der deine Geschichte für dich umschreibt?«, riet ich.

Brüsk nickte er.

»Kennst du daher Ylvi?«

»Ja.«

»Hat sie jemanden für dich gefunden, der deine Geschichte schreibt?« Diese Frage ließ mich eigenartig atemlos zurück.

Sein Blick streifte mich. »Nein. Ich wollte meine Geschichte in ihrem Haus niemandem anvertrauen. Ylvis Gastfreundschaft kommt immer zu einem Preis.«

Aber mir hätte er sie erzählt, wenn wir mehr Zeit miteinander gehabt hätten? Warum? Weil wir damals im selben Alter waren? »Du hast mir nie verraten, aus welcher Geschichte du kommst.«

»Es ist keine sehr schöne Geschichte«, flüsterte er, und ich konnte die Wut und den Schmerz dahinter deutlich spüren. Möglicherweise hatte Driessen in diesem Fall recht: Manche Geschichten blieben besser unerzählt.

»Warum hast du nicht versucht, selbst deine Geschichte zu ändern?«, fragte ich vorsichtig und rieb mir über die Stirn. Die Kälte spannte mir die Haut im Gesicht.

»Weil ich nicht kann.« Es klang beinahe wie eine Frage, als wäre er sich seiner Antwort nicht sicher.

»Jeder kann schreiben. Frag mal die Dozenten von Schreibkursen«, versuchte ich, die Stimmung aufzuhellen, aber er schüttelte nur den Kopf.

Möglicherweise hatte das Können weniger mit einer Befähigung als mehr mit dem Selbstbewusstsein zu tun, das man dafür benötigte. Es war kein Geheimnis, dass man die eigenen Texte nicht selbst lektorieren konnte – vielleicht konnte auch nicht jeder die eigene Geschichte erzählen.

Die Taube flog weiter zum nächsten Ast, und Te setzte sich wieder in Bewegung. Es ärgerte mich, dass er wie früher bestimmte, wann unsere Gespräche beendet waren, aber ich konnte ihn auch nicht zwingen, mit mir zu reden.

Eine Weile liefen wir weiter durch den Schnee, immer tiefer in den Wald hinein. Die Figur musste in meiner Nähe sein, das konnte ich spüren. Es war seltsam, in diesem Moment verspürte ich keine Angst, nur frustrierende Erwartung. Ich wollte sie sehen! Ich wollte endlich wissen, wer sie war und warum sie hier war.

Doch plötzlich klingelte mein Handy. Ich zuckte zusammen, das Geräusch zerschnitt die Stille. Es war Estelle. Sie klang völlig aufgelöst.

»Sie haben Josie verhaftet! Und noch drei weitere Leute, die für den Untergrund arbeiten. Driessen lässt in der gesamten Stadt Razzien durchführen, es ist alles von langer Hand geplant.«

»Was?«

»Der Angler, die Figur, die sie gesucht haben, er hat offenbar geredet, ich weiß noch nichts Genaueres. Aber es sieht schlimm aus.«

»Glaubst du, Driessen wird es gelingen, in den Untergrund einzudringen?«

»Das weiß ich nicht. Wir haben versucht, unsere Kontakte bei der VaF zu erreichen, aber die ganze Abteilung ist lahmgelegt.« Sie atmete flach. »Kate … ich weiß nicht …«

»Hensen ist suspendiert. Ihr Kollege hat es mir erzählt.«

»Nein!«

»Was willst du jetzt machen? Estelle, du darfst nicht in den Untergrund, hörst du. Halt dich davon fern.«

»Du verstehst das nicht. Ich habe die Befürchtung, dass Driessen den Untergrund öffentlich machen wird.«

»Aber du hast mir doch gesagt, dass er auf eine günstige Gelegenheit wartet! Warum ausgerechnet jetzt? Ich dachte, ihm ist daran gelegen, den Untergrund geheim zu halten?«

»Ich weiß auch nicht, warum, aber es sieht alles danach aus. Vielleicht ist er es leid, auf eine Gelegenheit zu warten.«

Mir wurde schlecht. »Glaubst du, er will meine Figur dafür verwenden?«

»Wenn er die Öffentlichkeit um Mithilfe bei der Suche nach den verborgenen Eingängen bittet, muss er die öffentliche Meinung über das Thema bestimmen. Nichts eignet sich dafür besser als eine Figur, die Menschen tötet.«

»Wolltest du nicht, dass der Untergrund offenbart wird?«

»Nicht auf diese Weise! Das wird kein vorsichtiges Annähern, es wird ein Blutbad, Kate. Unzählige Rückführungen und Gefängnisstrafen. Von der Zerstörung ganz zu schweigen. Sie werden alles einreißen, was über Jahrzehnte mühevoll aufgebaut wurde. Familien trennen, Kinder von ihren Eltern. Und was das für die Autoren in Zukunft bedeutet, möchte ich mir gar nicht ausmalen.«

Zensur.

»Was wird der Untergrund jetzt tun?«, fragte ich tonlos.

»Der Untergrund wird seine Tore schließen.«

Bei diesen Worten lief mir ein eisiger Schauer den Rücken hinab. »Dann darfst du erst recht nicht zurück. Wer weiß, wie lange die Tore diesmal geschlossen bleiben.«

Es kam keine Antwort. Mit Schrecken dachte ich an das, was folgen würde. Der Untergrund würde praktisch zu einem riesigen Gefängnis werden. Hatten die Figuren vorher noch die Chance gehabt, an die Oberfläche zu gehen, wenn auch nur kurzfristig und getarnt, mussten sie nun unter Tage bleiben. Dauerhaft. Außerdem würden ihnen die Ressourcen ausgehen, die Versorgung war dann nicht mehr gesichert.

»Du musst deine Figur finden, Kate. Driessen darf sie nicht für seinen Kreuzzug einsetzen. Bring sie zu mir, egal, wie, und dann bringe ich sie zu Ylvi, dort wird sie vorerst sicher sein.«

»Aber, Estelle …«

»Uns bleibt keine andere Wahl, es geht jetzt nicht mehr nur um sie, dich oder mich.« Sie legte auf, und ich starrte grimmig auf das dunkel werdende Display.

Ich erzählte Te, was ich erfahren hatte, und mit jedem Wort sah er wütender aus. Die Taube schlug aufgeregt mit den Flügeln.

»Verdammt!« Er schlug gegen einen Baumstamm. »Driessen kann uns einfach nicht in Ruhe lassen!«

»Aber warum?«

Er warf mir einen finsteren Blick zu. »Darüber gibt es nur Gerüchte. Manche behaupten, er habe seine Frau an eine Figur verloren, andere sagen, sein Bruder sei von einer Figur getötet worden. Manche glauben sogar, er sei selbst eine Figur.«

»Das ist unmöglich, ich habe mit dem Mann gesprochen, er ist ein Mensch.«

Te nickte. »Ich weiß, aber eines der anderen Gerüchte ist vielleicht wahr, nur weiß bisher niemand, welches.«

Gerade als er noch etwas hinzufügen wollte, brach plötzlich etwas durch das Gebüsch und stürzte sich auf ihn. Sie fielen zu Boden und rangen miteinander. Zuerst sah ich nicht, was es war, dann erkannte ich menschenähnliche Formen, eine Gestalt in einem dunklen Mantel. Sie versuchte, mit einem Messer auf Te einzustechen, er konnte sie abwehren. Sie trat und schlug nach ihm und gab dabei Laute wie ein Tier von sich. Sein Gesicht spiegelte blankes Entsetzen wider.

Die Taube stürzte sich aus der Luft auf die Gestalt, das Tier verlor alles Sanfte, was ihr je von Menschen angedichtet worden war, und bewies, warum sie so gefährlich war. Die Rufe der Taube vermischten sich mit den Schreien der Gestalt.

Panisch zog ich das Pfefferspray heraus, während ich näher rannte. Ich hatte Angst, Te zu erwischen, aber als er die Gestalt mit einem Schlag abwehrte und sie zurücktaumelte, hielt ich mit dem Spray direkt auf sie und drückte ab. Schreiend hielt sie sich das Gesicht, rieb sich die Augen und stolperte weiter von Te fort. Doch er ließ sie nicht entkommen. Stattdessen packte er sie, zwang sie auf die Knie und riss ihr die Arme nach oben. Wieder entfuhr ihr ein Schrei, mehr Zorn als Schmerz.

In Windeseile fesselte er ihr mit einer Schnur die Hände hinter dem Rücken, die er in der Jackentasche gehabt hatte, vielleicht von der Jagd, vielleicht für etwas anderes. Alles ging so schnell, dass ich es kaum nachvollziehen konnte. Dann stand er schwer atmend über der Gestalt. Er sah schlimm aus, hatte blutige Kratzer im Gesicht, aufgeplatzte Brauen und eine dicke Lippe. Schon in wenigen Stunden würde sein Auge vollständig zugeschwollen sein.

Doch all das verunsicherte mich nicht so sehr wie die Angst, die ich in seinem Blick sah, während er die Gestalt beobachtete. Er hatte zwar den Kampf gewonnen, im Schnee kniend und aus der Nase blutend, hockte sie vor ihm, doch er fürchtete sich vor ihr.

Das Heulen der Gestalt wurde lauter. Sie versank beinahe in dem Mantel, der viel zu groß für sie war und sie trotzdem kaum zu halten schien. Sie war wie aus Schatten geformt, das Zittern an den Rändern war bei ihr stärker als bei jeder anderen Figur, die ich je gesehen hatte. Alles an ihr wirkte blass und verschwommen, als könne sie sich jede Sekunde vor meinen Augen auflösen wie eine Fata Morgana, und es haftete ihr ein in die Knochen schleichendes Grauen an, das sich nicht abschütteln ließ. Es war dasselbe Grauen, das einen überkommt, wenn man einem Krokodil ins Auge blickt.

Dabei sah sie keineswegs monströs aus. Sie war etwa so groß wie ich, mit einer ähnlichen Haarfarbe und ähnlicher Statur – und ich begriff, dass es meine Figur war. Ich spürte das Band zwischen uns, so wie es bei Folkvar gewesen war. Aber ich wusste auch, dass diese Figur nicht wie meine anderen war. Sie war weniger. Und mehr. Aber ich erkannte sie sofort.

Es war weder Frederike noch Pakuna oder sonst eine Figur, die ich in Verdacht gehabt hatte, sondern Tinka, die Protagonistin aus Untergehen bei Ebbe . Ich erkannte sie an den Piercings in beiden Augenbrauen und der Tätowierung am Hals, die beinahe wie ein Schal aussah. Ich erkannte es an der Art, wie sie das lange blonde Haar als geflochtenen Seitenzopf trug, wie ich es oft tat, wenn es schnell gehen musste. Und ich war mir sicher, dass sie in der linken Hosentasche passendes Kleingeld für die Verkäufer der Obdachlosenzeitung hatte, schließlich war es so von mir im Text erwähnt worden.

Als sie den Kopf hob, waren ihre Augen rot und geschwollen. Auf seltsame Weise waberte ihr Gesicht, als würde es jeden Moment zerfließen. Es schien sich vor meinen Augen zu verschieben und wieder zusammenzufügen. Der Blick, der mich traf, war das einzig Klare an ihr. Stechend bohrte er sich in meinen.

Ich wich zurück. »Sie ist eine von ihnen, nicht wahr?«, flüsterte ich. »Eine Haderin?« Ich hatte Angst, es laut auszusprechen, als könnte ich es auf diese Weise wahr werden lassen. »Wie ist das möglich?«

Ich erinnerte mich an Ylvis Worte. Sie hatte mich gewarnt: Es wird immer einen Ersten seiner Art geben. Jemand, der das Unmögliche schafft. Ylvi musste erkannt haben, was Tinka war. Eine Haderin, die den Übertritt nach Kapitolo geschafft hatte, die Erste ihrer Art.

Tes Blick war starr auf Tinka gerichtet, als erwarte er irgendein Zauberstück von ihr, einen Trick, der es ihr ermöglichte, ihn doch noch zu überwältigen, obwohl er ihr offensichtlich körperlich überlegen war.

Irgendwie war es ihm gelungen, ihr immer wieder zu entschlüpfen, während sie auf der Suche nach ihm war und im Josephine ihr Lager aufgeschlagen hatte. Vermutlich hatte ihn seine Taube gewarnt. Te war gut darin, im Verborgenen zu agieren. Jahrelang hatte er an der Oberfläche Kapitolos gelebt, ohne entdeckt worden zu sein.

Tinka versuchte, auf die Beine zu kommen, er drückte sie wieder nach unten, doch ich konnte sehen, wie er vor Konzentration die Zähne aufeinanderbiss.

Tinka heulte vor Wut auf.

»Was willst du von mir?«, rief ich, aber sie antwortete nicht.

Wir starrten uns an, und das Grauen bei ihrem Anblick trieb mir das Zittern in die Finger. Sie war wirklich etwas ganz anderes.

»Warum hast du Damla und Michael umgebracht? Wieso hast du Sean angegriffen? Sie haben dir nichts getan.«

»Aber du«, sprach sie die ersten Worte, heiser, aber auch seltsam vertraut – wie die Stimme in meinem Kopf.

»Ich?«

»Du hast mich geschrieben …«

»Aber deine Geschichte endet hoffnungsvoll!«, erwiderte ich. »Das ist die Entwicklung der Figur. Deine Entwicklung! So ist die Geschichte angelegt. Ich habe dich nicht als Mörderin geschrieben!«

»Deinetwegen … bin ich, was ich bin …«

Ich suchte Tes Blick, der den Wortwechsel mit blassem Gesicht verfolgte und genauso wenig zu verstehen schien wie ich.

»Du warst nicht ehrlich …«

Erst begriff ich gar nichts, doch dann überkam mich eine Ahnung. »Weil ich nicht erzählt habe, was damals mit Rosalie geschehen ist?«, fragte ich ungläubig.

»Alles! Du bist nie … ehrlich!« Ihre Sprechweise klang abgehackt. Vielleicht war das Wabern und Zittern nicht nur etwas, das nach außen sichtbar war, vielleicht hatte es auch Auswirkungen darauf, wie sie ihre Zunge und Lippen bewegen konnte.

»Das stimmt nicht.«

»Du lügst! Du erzählst nicht … was wehtut.«

»Warum muss es immer wehtun?«, erwiderte ich. »Haben wir damals nicht genug gelitten? Rosalie, er«, ich deutete auf Te, der vielleicht niemals ein Junge gewesen war, weil das Leben und sein Schöpfer es nicht erlaubt hatten, und der mir geholfen hatte, eine Tote umzubetten. »Manche Leute wollen darüber sprechen, andere nicht. Du kannst niemandem vorschreiben, wie er seinen Schmerz zu verarbeiten hat. Was ich in deiner Geschichte erzählt habe, war nicht gelogen!«

Heftig schüttelte sie den Kopf. Das Haar hatte sich längst aus dem Zopf gelöst und hing ihr ins Gesicht.

»Es war die Wahrheit. Ich habe viel zu viel getrunken damals«, gab ich zu. »Ich war jung, jede Party war mir recht, ich habe kaum geschlafen, das war doch alles nicht gelogen.«

Wieder versuchte sie, auf die Beine zu kommen, und diesmal ließ Te sie gewähren. Sie kam mir näher, und ich wich zurück, bis mein Rücken gegen einen Baumstamm stieß.

»Du hast trotzdem gelogen! Du hast nicht aufgeschrieben … von der Geburtstagsfeier deiner Mutter … du hast sie verpasst, weil du … neben einer Tankstelle aufgewacht bist … ausgeraubt und Hundekacke am Kleid.«

Die Bilder von damals überschwemmten meinen Kopf, und das Zittern meiner Hände wurde stärker.

»Ein Fremder hat dich nach Hause gefahren … Du hast ihm ins Auto gekotzt …«

Ich schüttelte den Kopf, aber sie war noch nicht fertig.

»… betrunken hast du mit einem Mann geschlafen … dem Freund deiner Freundin … Sie hat versucht, sich umzubringen … Deinetwegen!«

»Das war nicht meine Schuld!«, schrie ich.

»In meiner Geschichte war es nur ein Kuss … Die Szene sollte lustig sein …«

Ich wusste genau, von welcher Szene sie sprach. Kapitel 24. Tinka küsst den Freund ihrer Freundin und wird von dieser mit gefrorenem Hackfleisch, das für ein Chili con Carne verwendet werden soll, durchs Haus auf die Straße gejagt. Die Freundin wirft das Hackfleisch nach Tinka, und letztendlich wird es von einem vorbeilaufenden Hund geklaut.

Es ist eine komische Szene. Niemand schluckt darin Tabletten, niemand schämt sich dermaßen, dass er drei Tage lang durchsäuft und die beste Freundin damit droht, alles den Eltern zu erzählen, damit sie einen in die Entziehungsklinik einweisen. Es ist eine Szene, wie man sie später den eigenen Kindern erzählen wird, wenn man ihnen erklärt, dass man früher auch mal über die Stränge geschlagen hat.

Aber so war es nicht.

Tinka hatte recht. Die Wahrheit hinter dieser Szene ist düsterer und hätte Tinka zu dem gemacht, was Autoren noch mehr fürchten als alles andere: eine unsympathische Figur. Eine Figur, der die Leser nicht verzeihen wollen und deren Schicksal sie nicht berührt.

Bis heute trieb es mir die Schamesröte ins Gesicht, wie ich mich damals verhalten habe. Alles war mir recht, um mich abzulenken. Was ich Jop über die Zeit nach Rosalies Tod erzählt hatte, war wahr, nach zwei Jahren habe ich beschlossen, mein Leben wieder in die Hand zu nehmen. Ich hatte ihm nur verschwiegen, weshalb oder wie lange ich gebraucht habe, um die Erinnerungen an jenen Sommer tief in mir zu vergraben. Tinka hatte auch recht, davon stand in ihrer Geschichte kein einziges Wort.

Ich sah zu Te, aber sein Gesicht verriet nichts.

»Du hast nicht aufgeschrieben, dass die Leute nicht mehr mit dir sprechen wollten … weil sie es satthatten. Weil du jede Nacht angerufen hast … wenn das Wetter so heiß war, dass die Menschen baden gegangen sind … Du hast nicht aufgeschrieben, dass dich alles an Rosalie erinnert hat.« Sie schluckte und würgte. »Meine Erinnerungen an meinen toten Bruder sind … schön.«

Weil ich über Rosalie nicht hatte schreiben können, hatte ich einen anderen Toten erfunden. Eine Figur, die es nie in die Existenz geschafft hat, weil sie von Anfang an tot war. Aber Tinka trug Erinnerungen an ihn in sich. Durchweg schöne, denn wie soll der Leser begreifen, dass sie ihn nach seinem Tod vermisst, wenn er vorher nicht als perfekt beschrieben wird? Es ist ein billiger Trick, um sich Sympathien zu sichern. Alle Autoren sind von Natur aus manipulativ.

Ich selbst habe nie zugeben können, dass ich Rosalie niemals richtig gemocht habe, weil es mir nach ihrem tragischen Tod nicht fair erschien, so über sie zu sprechen – also konnte es Tinka auch nicht.

Irgendwie hat sie es trotzdem gewusst. Aber woher und wie? Folkvar hatte nichts davon erwähnt. Wusste auch er um diese intimen Details aus meiner Biografie? Wussten alle meine Figuren davon?

»Niemandem tat die Geschichte weh … nicht einmal dir, als du sie geschrieben hast …«

»Die Leute wollen so etwas doch gar nicht lesen«, wandte ich trotzig ein. »Die Geschichte muss gut ausgehen, alle wollen immer ein Happy End!« Meine Stimme wurde lauter, weil ich wütender wurde. »Weißt du, welcher Satz am häufigsten fällt, wenn Leser ein Buch nicht mögen? Mir war die Hauptfigur nicht sympathisch. Die Figuren müssen sympathisch sein, das wird dir jeder Verleger sagen!«

»Warum glaubst du, dass es deine Aufgabe ist, den Lesern zu geben, was sie wollen?«, fragte auf einmal Te, und die Frage nahm mir allen Wind aus den Segeln.

Ich sah ihn an und spürte dabei Tinkas Atem auf meinem Gesicht, so nah stand sie vor mir. Ihr Anblick war kaum erträglich, als wäre sie meine verkörperte Schuld. »Wozu bin ich sonst gut?«, flüsterte ich.

Die Taube schlug erneut mit den Flügeln, dann landete sie auf seiner Schulter. Sein Blick wurde sanfter, zum ersten Mal seit unserer Wiederbegegnung. »Um ihnen zu geben, was sie brauchen«, wiederholte er, was auch Tognazzi so ähnlich zu mir gesagt hatte.

»Brauchen?« Ich schüttelte den Kopf. Auf einmal fühlte ich mich sehr erschöpft. »Woher soll ich das wissen?« Ich lehnte den Hinterkopf gegen den Baumstamm, das Pfefferspray steckte ich wieder in die Tasche.

Doch Te schien weitere Fragen zu haben, seine Angst vor der Haderin für einen Moment vergessen. »Warum hast du damals am Fenster gesessen?«

»Was?«

»Warum hast du im Josephine am Fenster gesessen und die Leute beobachtet?«

»Was willst du von mir hören?«

»Die Wahrheit …« Tinka wischte sich das Blut von der Nase.

»Weil es langweilig war. Und heiß.« Ich starrte in den Himmel, der zwischen den Baumspitzen hindurchschimmerte.

»Das ist nicht die Wahrheit!«, schrie sie mich wieder an.

Ich richtete den Blick auf sie, dieses verzerrte Ebenbild meiner selbst, das seine Anfänge möglicherweise schon lange vor seinem Roman zwischen den Zeilen meiner Tagebucheinträge gefunden hatte. »Weil ich neugierig war.«

»Worauf?«, fragte Te.

»Auf die Leute.«

»Warum?«

»Warum? Keine Ahnung. Du beobachtest Menschen, du stellst dir Fragen über sie, du willst wissen, wie sie ticken und wie ihre Geschichte lautet. Das macht doch jeder.«

»Nein.«

Ich erinnerte mich an die immer wiederkehrende Frage von Freunden und Fremden, woher ich diese oder jene Sache über andere Menschen wüsste. Und an meine Irritation darüber, weil das Beobachten von Menschen mir so alltäglich und banal erschien, dass ich nicht glauben konnte, dass es andere nicht auf dieselbe Weise taten. War es das, was meine Eltern gemeint hatten? Diese brennende Neugier?

»Warum hast du mit dem Schreiben begonnen?« Te stand nun Schulter an Schulter mit der Figur, vor der er noch vor wenigen Augenblicken Angst gehabt und mit der er gekämpft hatte. Sie trugen das Blut des anderen unter den Fingernägeln, trotzdem standen sie vor mir wie Zwillinge.

»Weil ich eine Geschichte erzählen wollte«, antwortete ich schließlich, doch wieder schüttelte Tinka zornig den Kopf.

»Weil ich eine Geschichte erzählen musste!« Ich ballte die zitternden Hände zu Fäusten. »Zufrieden?«

»Und?«, drängte Te.

»Weil ich …«

»Ja?«

»Reden wollte«, stieß ich hervor. »Ist es das, was du hören wolltest?«

»Mit wem wolltest du reden?«

»Wer immer zuhörte.«

Tinka nickte, als hätte ich endlich die richtige Antwort gegeben.

»Wir sind eure Rufe in die Welt«, flüsterte Te, als wäre er ihr Übersetzer.

»Und dann?«

»Hofft ihr auf Antwort.«

Ich überwand mich, Tinka in die Augen zu sehen. Eine Welt tat sich darin auf. »Und das bist du? Du bist die Antwort auf meine Frage?«

Sie blieb stumm.

»Nein, das ist sie nicht«, sagte Te.

»Was ist sie dann?«

Ihre Antwort war kaum zu verstehen, so leise sprach sie. »Ich bin ein Schrei ohne Ton …«