D u bist ein Monster«, erwiderte ich flüsternd. »Du hast zwei Menschen umgebracht. Denkst du, das kann ich vergessen?«
Bevor ich ihn daran hindern konnte, schnitt Te Tinka auf einmal die Fessel mit einem Messer durch. Panisch wich ich zur Seite und brachte Abstand zwischen mich und meine Figur. Doch sie machte keine Anstalten, mich anzugreifen.
»Wir sind allesamt Monster«, erwiderte Te, während er das Messer wieder in die Jacke steckte. »Jede Figur beginnt so wie sie.«
»… ein aus Teilen unseres Schöpfers zusammengeflicktes Ding …« Eindringlich sah sie mich an.
»Wir werden erst nach und nach lebendig.«
»Wie Frankensteins Monster …«
Te ging ebenfalls ein paar Schritte zur Seite, als könne er es nicht mehr ertragen, uns beiden so nah zu sein. »Je besser ihr uns vor euch seht, desto ähnlicher werden wir euch.«
»Du hast dir nie … die Mühe gemacht, genau hinzusehen«, sagte Tinka. »… bei mir. Du wolltest … diese Teile von … dir … nicht an mich weitergeben.«
»Also ist sie das Monster geblieben, das sie am Anfang war«, sagte Te. »Eine unfertige Figur.«
»Eine Haderin«, flüsterte ich.
War das also das Geheimnis, wie Haderer entstanden? Sie waren die von ihren Schöpfern ignorierten Kreaturen? Die gedankenlos aufs Papier gebannten Figuren?
»Du warst so viel mehr als eine Nebenfigur«, erwiderte ich. Wie konnte sie weniger sein als eine Figur im Hintergrund, als Krieger Nummer siebzehn ?
Ärgerlich knurrte sie mich an.
»Es ist nicht dasselbe«, antwortete Te wieder für sie. »Es geht darum, wie ihr uns seht.«
»Also sind wir doch verantwortlich für unsere Figuren?« Selbst in meinen Ohren klang es verbittert. Hatten Driessen und all die Leute, die wie er dachten, doch recht?
»Natürlich seid ihr das. Aber ihr seid nicht unsere Hüter, ihr seid unsere Mütter und Väter, und es ist eure Pflicht, euch um uns zu kümmern, uns ernst zu nehmen …«
»… euch zu lieben?«, beendete ich die Aufzählung.
Widerwillig nickte er. »Trotz allem.«
Ich wusste, dass er nicht mehr über Tinka sprach, dass er im Grunde nicht einmal mehr zu mir sprach. Wen immer er vor sich sah und an wen diese Worte gerichtet waren, ich war nicht der Adressat.
Ich wandte mich an Tinka. »Wie ist es dir gelungen, nach Kapitolo zu kommen?«
»Ich bin … deinem Ruf gefolgt …«
»Meinem Ruf?«
»Deiner Schuld … Du wolltest sie bestrafen … genauso wie dich. Deine Mörder … glichen ihnen.«
Lee, Deborah und Rocco.
»Sie waren ganz anders.«
»Sie trugen Züge von ihnen …«
Lee war leidenschaftlich Skateboard gefahren, genau wie Michael. Deborah hatte kein offenes Feuer gemocht, und Rocco war ein guter Tänzer gewesen … Hatten mein Zorn und meine Schuld diese Figur wirklich nach Kapitolo geführt und zu diesen schrecklichen Taten gebracht? Hatte der Instinkt, seiner Schöpferin zu gefallen, meine Figur dazu verleitet, die zu bestrafen, denen ich tief in mir drin all die Jahre über nicht hatte verzeihen können – genauso wenig wie mir selbst?
»Aber ich wollte nie, dass jemand stirbt.« Ich stützte die Hände auf die Knie und versuchte, ruhig zu atmen und gegen den Schwindel anzukämpfen, der mich erfasste.
Tinka hockte sich vor mich hin und tippte mir gegen die Brust. Der leichte elektrische Schlag erfasste mich. Ich sah ihr in die Augen, aber ich konnte mich nicht darin spiegeln.
In diesem Moment rannten Folkvar und Jop gemeinsam mit Hensen auf die Lichtung. Folkvar hatte sein Schwert zwar nicht zurückerhalten, in der Hand hielt er jedoch ein Messer, das sicher Estelles unerschöpflichem Vorrat an Waffen entstammte. Als ich ihn sah, war ich für einen Moment unglaublich erleichtert, weil es ihm gut ging.
Sofort erkannte er Tinka als das, was sie war, wurde leichenblass und hob das Messer. In der Fantasiewelt gibt es nur eines, vor dem alle Figuren Angst haben, ganz gleich, aus welcher Buchwelt sie stammen. Die Haderer – diese unfertigen Figuren, die dem, was sie sein sollten, nie gerecht geworden sind. Vielleicht weil es sie daran erinnert, dass auch sie dazu hätten werden können. Folkvar nahm sie als Bedrohung wahr.
Und sie ihn. Vielleicht weil er ein Messer hielt, vielleicht aufgrund seiner Statur oder einfach, weil er eine meiner fertigen Figuren war. Bevor einer von uns sie davon abhalten konnte, sprang Tinka auf ihn zu. Sie hätte ihm nicht gewachsen sein dürfen. Er war ein Krieger, ein Held – der Kampf hätte schnell beendet sein müssen, mit ihm als Sieger. Aber er konnte sich nicht rühren. Ihr Anblick lähmte ihn.
Ohne nachzudenken, stürzte ich ihr hinterher, um sie davon abzubringen, ihm zu schaden, da brach sie plötzlich zusammen. Regungslos lag sie am Boden zu Folkvars Füßen. Ich fiel neben ihr auf die Knie, suchte nach der Wunde, doch es war keine zu erkennen. Es dauerte einen Augenblick, bis ich die beiden Fäden sah, die zu Tinkas Brust führten und mit dem Taser in Hensens Hand verbunden waren. Tinka krampfte, hustete und sah mich dabei an wie ein Kind seine Mutter, wenn es Schmerzen hat. Ihre Hände waren zu Fäusten geballt, sie konnte sie nicht öffnen. Ich wollte ihr sagen, dass alles gut werden würde, aber es wäre eine weitere Lüge gewesen. Nichts würde gut werden.
Hensen drängte mich zur Seite, riss Tinka den Mantel auf und begann mit Erste-Hilfe-Maßnahmen, aber es war zu spät. Das Husten wurde leiser und leiser, bis es schließlich ganz aufhörte, Tinka wurde von einem letzten Krampf geschüttelt, dann blieb sie still liegen und starrte mit leblosen Augen in den Himmel.
Es gab keine lange Sterbeszene mit wichtigen letzten Worten, niemand machte ein Geständnis, niemand vergab irgendwem, nichts wurde geklärt, um die Dramatik zu erhöhen oder einen Figurenbogen zu beenden. Mit einem Mal war es einfach still und vorbei, und ein Schmerz erfasste mich, wie ich ihn nie zuvor verspürt hatte. Als hätte mich jemand lebendig ins Feuer gestoßen.
Ich sah auf, in Hensens Gesicht, die fassungslos auf die tote Figur neben sich blickte. Ausgerechnet sie, die der Figur hatte helfen wollen, hatte sie am Ende getötet. Frankensteins Monster war durch Strom zum Leben erweckt worden, meine Figur durch ihn umgekommen.
Eine Weile sprach niemand. Wie paralysiert standen wir auf der Lichtung. Die Geschichte hatte ein gerechtes Ende gefunden: Die Mörderin war bestraft worden, sie würde niemandem mehr schaden. Oder vor Gericht gegen mich aussagen, und es konnte auch kein aussagekräftiges Gutachten über sie erstellt werden. Driessen würde mit ihr keinen Schauprozess mehr veranstalten, den er gegen den Untergrund verwenden konnte. Was auch immer er vorhatte, sie würde kein Teil davon werden. Wir hatten gesiegt.
Aber nichts davon fühlte sich gut oder nach einem Sieg an.
Damla und Michael waren immer noch viel zu früh gestorben, ich immer noch verantwortlich dafür, und Driessen würde seinen Kreuzzug gegen die Figuren nicht beenden, nur weil ihm ein Marketingmittel genommen worden war.
Ich verspürte den Impuls, mich umzudrehen und fortzurennen. Ein Buch konnte man zuklappen und zurück ins Regal stellen, wenn es einem nicht gefiel, aber diese Geschichte hier ließ sich nicht so einfach beenden.
»Es tut mir leid«, sagte Hensen, und ich konnte ihr ansehen, wie sehr sie das Geschehene mitnahm.
Ich nickte. Mir fehlten die Worte. Jop legte mir die Hand auf die Schulter.
»Nehmen Sie Kate mit nach Hause«, sagte Hensen zu ihm. »Ich werde mich hier um alles Weitere kümmern. Die VdF wird sie bei Ihnen abholen. Bereiten Sie sich darauf vor.«
Er nickte.
»Was ist mit Folkvar?«, fragte ich und beobachtete, wie Jop und Hensen düstere Blicke wechselten.
»Driessen hat vor einer halben Stunde eine Pressekonferenz begonnen«, antwortete Jop.
»Was hat er verkündet?«
»Den Untergrund.«
Mein Blick suchte Folkvar, der regungslos zurückstarrte, noch immer geschockt von dem, was geschehen war. »Dann sind die Eingänge ab jetzt geschlossen«, murmelte ich. Jacks von der Magie ungeschützten Zugang wollte ich in Hensens Beisein nicht erwähnen.
»Und hier oben bricht Chaos aus. Die Leute werden nach den Figuren Ausschau halten«, sagte Jop düster. »Von jetzt an gibt es kein Zurück mehr.«
»Wir haben Driessen unterschätzt, er wird sich die Angst der Menschen zunutze machen, um die Mittel der VdF weiter aufzustocken. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis er einen Weg in den Untergrund findet. Die Ressourcen der Figuren werden irgendwann aufgebraucht sein, wenn sie keinen Nachschub von oben erhalten«, ergänzte Te.
»Kannst du ihm helfen?« Ich deutete auf Folkvar, der die Stirn runzelte.
Te nickte. »Er kann bei mir bleiben, hier im Wald. Ich werde versuchen, ihn in den Schwarzen Tempel zu schleusen.«
Es brach mir das Herz, meiner Figur nicht mehr helfen zu können, aber ich wusste, dass Te seine beste Chance war. Ich musste zurück, Hensen würde ihre Kollegen über Tinka informieren, bald würde es hier nur von Polizisten wimmeln. Ich konnte nicht weiter davonlaufen oder es Driessen überlassen, die Geschichte aus seiner Perspektive zu erzählen. Ich musste Verantwortung übernehmen.
Ich umarmte Folkvar, und am liebsten hätte ich ihn nie wieder losgelassen. »Pass auf dich auf. Und sag Hulda schöne Grüße von mir. Sag ihr, es tut mir leid, dass ich ihr abstehende Ohren geschrieben habe.«
Er sah mich traurig lächelnd an. »Eigentlich mag ich ihre Ohren ganz gern«, erwiderte er und zog mich am Ohrläppchen.
Noch einmal drückte ich ihn fest, dann wandte ich mich an Te. »Ich weiß nicht, was jetzt geschehen wird«, sagte ich, »aber wenn ich wieder frei bin, werde ich deine Geschichte zu Ende schreiben. Wenn du es dann immer noch willst.«
Stumm nickte er. Einen Moment lang sahen wir uns nur an, wir spürten beide, dass die Geschichte zwischen uns noch nicht beendet war, da jede Menge Kapitel fehlten. Sie befand sich immer noch im Entstehen, war ein work in progress , wie es so schön hieß. Aber eines Tages würden wir daran weiterarbeiten.
Jop nahm mich am Oberarm. Als er mich durch die Bäume lotste, warf ich einen Blick zurück auf Te, Folkvar und Hensen, wie sie neben Tinkas Leiche standen, und ich dachte an all das Leid, das dieser Wald schon gesehen hatte und wie passend sein Name war.
Ich wusste, dass es lange dauern würde, bis ich sie alle wiedersehen würde.