S echs Monate später wurde ich verurteilt.
Es war einer der spektakulärsten Prozesse in der Geschichte der Stadt, und er wurde live im Fernsehen übertragen. Jeder, der auch nur ansatzweise mit mir zu tun hatte, konnte sich vor Anfragen der Presse kaum retten. Ich bin mir sicher, Sie erinnern sich an die Bilder. Innerhalb weniger Wochen wurde mein Name zu einem Synonym für den Widerstand, zu dem ich gar nichts beigetragen hatte. Meine Geschichte verband sich mit dem Bekanntwerden des Untergrunds, und so entluden sich an mir sowohl Zustimmung als auch Ablehnung, Erleichterung und Ängste. Ich benötigte rund um die Uhr Personenschutz und musste mit ansehen, wie jedes noch so kleine Detail meiner Vergangenheit unter die Lupe genommen wurde.
In dieser Zeit waren wir alle überfordert. Meine Verteidigerin genauso wie der Richter und die Staatsanwältin. Im Sinne des Verantwortungsgesetzes war ich mitschuldig am Tod von zwei Menschen. Aber Tinka war keine Figur. Zumindest keine vollständige.
Das sagte auch Driessen während des Prozesses aus. Es stellte sich heraus, dass der Angler, der mit der VdF zusammengearbeitet hatte, Driessen von der Figur erzählt hatte, über die im Untergrund Gerüchte in Umlauf waren. Von ihrer Einzigartigkeit und auch der Gefahr, die von ihr ausging. Offenbar war sie Grund genug, dass Driessen darauf gedrängt hatte, den Untergrund öffentlich zu machen. Natürlich arbeitete er nicht allein, aber das ist eine andere Geschichte.
Meine Verteidigung argumentierte, dass Tinka vermindert schuldfähig war aufgrund meines eigenen erlittenen Traumas in Bezug auf Rosalies Tod. Die Staatsanwaltschaft bestritt das, doch der Richter gab uns recht, und am Ende dieser quälenden Wochen, in denen ich mich weniger als Mensch als jemals zuvor gefühlt hatte, lautete das Urteil: Freiheitsstrafe von einem Jahr, wovon vier Monate zur Bewährung ausgesetzt wurden.
Meine Mutter saß in der ersten Reihe und hat vor Erleichterung geweint. Mein Vater hat den Arm um sie gelegt und konnte das erste Mal, seit diese Geschichte begonnen hat, wieder richtig atmen. Sie waren die ersten Menschen, die ich umarmt habe. Im Anschluss meine Anwältin, die genauso überrascht wirkte wie ich, dass das Urteil vergleichsweise mild ausgefallen war. Sie war mir von dem Verein zur Verfügung gestellt worden, den mir Hensen bei unserer ersten Begegnung empfohlen hatte.
Jop ist bis heute der Meinung, dass die Zeit einfach reif für ein mildes Urteil war. Die Leute wollten ein Happy End. Kein Wunder, nach dem, was die Monate davor geschehen war. Denn Estelle sollte recht behalten, es wurde blutig. Innerhalb eines halben Jahrs gab es vier tote Figuren, zahlreiche Übergriffe, aber auch lautstarke Proteste der Gegenseite. Die Widerstandsbewegung, die für mehr Rechte der Figuren eintrat, gewann an neuem Schwung und wurde öffentlicher.
Und das Wichtigste: Es ist der VdF nach wie vor nicht gelungen, in den Untergrund einzudringen. Zumindest nicht bis zur Drucklegung dieses Buchs. Die Zustände sind nicht die besten, aber wie sich herausgestellt hat, gelingt es hin und wieder Figuren und ihren Verbündeten, Ressourcen in den Untergrund zu schmuggeln. Jacks Zugang am Friedhof ist längst verschlossen worden (außerdem ist es natürlich nicht der Friedhof gewesen, Sie verstehen sicher, dass ich mir mit den genauen Ortsangaben manchmal ein paar Freiheiten nehmen musste).
Aber Driessen gibt natürlich nicht auf. Seit der Bekanntgabe des Untergrunds wurden die Mittel der VdF verdoppelt, es werden Befragungen im Figurengefängnis durchgeführt, und es werden mehr Figuren durch den Schwarzen Tempel zurückgeführt als jemals zuvor.
Auch die VaF konnte ihr Personal erweitern, allerdings erholt sich die Abteilung immer noch von dem Schlag, eine Handvoll der alten Mitarbeiter durch eine Reihe Entlassungen verloren zu haben. Unter anderem auch Hensen.
Bis heute hat sie sich nicht vergeben, dass Tinka ihretwegen zu Tode gekommen ist. Was manche später als gottgegebene Gerechtigkeit bezeichnet haben, ist in meinen Augen ein tragischer Unfall gewesen. Tinka befand sich in einem Zustand höchster Erregung, und Hensens Taserpfeile, die sie eigentlich in den Unterbauch hatten treffen sollen, trafen sie in die Brust, weil sie sich in dem Moment duckte. Das alles zusammen löste einen tödlich verlaufenden Herzinfarkt aus. Hensen, die ihre Schusswaffe aufgrund ihrer Suspendierung hatte abgeben müssen, hat danach den Dienst quittiert. Sie arbeitet jetzt als Beraterin für den Verein, den sie mir empfohlen hat. Hin und wieder telefonieren wir.
Die Stadt der Figuren liegt im Wandel, aber was am Ende herauskommen wird, weiß niemand.
Auch ich mache einen Wandel durch. Verglichen mit dem, was mir hätte passieren können, hatte ich mit meinem Urteil Glück. Verstehen Sie mich nicht falsch, acht Monate hinter Gittern sind keine angenehme Erfahrung, aber auch das ist eine andere Geschichte. Nach meiner Entlassung bin ich erst einmal umgezogen. Es war mir unmöglich, in meiner alten Wohnung zu bleiben, deren Adresse bekannt war. Ich blieb dem Gartenviertel allerdings treu, zog ans andere Ende in eine deutlich preiswertere Wohnung, die weder über eine Dachterrasse noch ein begrüntes Foyer verfügt. Dafür aber über Nachbarn, die es nicht interessiert, dass da seit Neuestem im dritten Stock diese Frau wohnt, die kaum Besuch bekommt und stets mit gesenktem Blick grüßt.
Ich schaffte mir eine Katze an, oder wie das mit Katzen so ist: Sie entschied sich für mich. Eines Tages saß sie in meinem Türrahmen und weigerte sich zu gehen. Also ließ ich sie erst in die Wohnung, anschließend aufs Sofa und zum Schluss in mein Bett, nannte sie Möbius und verabschiedete mich von der Vorstellung, bestimmte Klischees über Autoren vermeiden zu können.
Einmal im Monat traf ich mich mit Wera. Meistens gingen wir zwischen den Windmühlen um die Felder spazieren. Wir redeten nicht über die Arbeit oder Literatur überhaupt. Stattdessen sprachen wir über unsere Mütter und deren Eigenheiten, die wir zwar teilweise abstoßend fanden, aber teilweise auch an uns selbst feststellten, je älter wir wurden. Wir sprachen über die Mietsituation in Kapitolo, die seit Jahren immer schlimmer wurde, weil so viele Leute in die Stadt drängten und die Immobilienhaie jegliches Maß verloren. Manchmal sprachen wir über Beziehungen und wie dankbar Wera war, dass sie nach sieben vergeblichen Jahren doch noch schwanger geworden war. Gemeinsam holten wir ihre Tochter vom Kindergarten ab, einen quirligen Freigeist mit roten Gummistiefeln und einem Lachen, das einen allen Kummer vergessen ließ. Danach verstand ich Wera etwas besser, obwohl ich nie richtig begriffen habe, was das Lachen ihrer Tochter mit mir zu tun hat. Diese Treffen waren für uns beide auf eine seltsame Art therapeutisch.
Ich musste mich einschränken und habe mir einen Aushilfsjob gesucht, denn es war ein schwieriger Kampf mit dem Amt, um meine Schreiblizenz zurückzuerhalten. Solange meine Bewährungszeit lief, war es mir ohnehin untersagt, mehr zu Papier zu bringen als einen Einkaufszettel und Grußkarten. Einmal die Woche erschien eine Mitarbeiterin des Gerichts, die sich von mir durch die Wohnung führen ließ, um sich Papiere, Computer und Laptop zeigen zu lassen. Sie kontrollierte, was ich aufgeschrieben und gespeichert hatte. Mir stand nicht der Sinn danach, zu erkunden, wie ernst sie ihre Aufgabe tatsächlich nahm, also schrieb ich einfach nichts. Außer hin und wieder Geburtstagskarten.
Doch ich hatte einen prominenten Fürsprecher. Oliver Tognazzi. Als sich die Gerüchte verdichteten, dass er selbst Verbindungen zum Untergrund hatte, wagte er den Schritt nach vorn und begann damit, öffentlich mit diesen Gerüchten zu kokettieren. Es dauerte eine Weile, aber heute hat er die Öffentlichkeit wieder auf seiner Seite. Es gibt einfach etwas an ihm, das es den Leuten schwer macht, ihm längere Zeit böse zu sein. Nachdem er sich jedenfalls dafür ausgesprochen hat, mir meine Schreiblizenz zu erneuern, ist genau das auch passiert.
Außerdem hat er mir einen Besuch abgestattet. Selbstverständlich spöttische Bemerkungen über den Zustand der Wohnung abgegeben und mich dann bei Tee und Gebäck gefragt, ob ich hinter das Geheimnis gekommen wäre, warum die Figuren nach Kapitolo kommen.
»Weil ihre Autoren sie brauchen«, habe ich geantwortet, und er hat wieder einmal gelächelt.
»Fast. Sie kommen, wenn es die Geschichte erfordert.«
»Mein Leben ist wohl kaum eine Geschichte«, erwiderte ich scharf. Möbius strich mir beruhigend um die Beine.
»Was ist das Leben anderes als eine Geschichte, meine Liebe? Zugegeben, die meisten Geschichten sind nicht sehr interessant und schnell vergessen, aber hin und wieder …«
»Und meine Geschichte brauchte eine Haderin? Eine Mörderin? Jemanden, der so traumatisiert ist, dass er diesen Impulsen nachgibt?«
Tognazzi stellte die Tasse auf dem Tisch zwischen uns ab und lehnte sich zurück. »Die Protagonistin musste sich weiterentwickeln, darum ging es. Und das ist doch geschehen, oder etwa nicht?« Sein Blick wurde sezierend.
Widerwillig nickte ich. Der Preis für diese Entwicklung schien mir zu hoch, aber darüber sprach ich nicht mit Tognazzi, er würde es nicht verstehen. Für ihn kam die Geschichte immer zuerst, und jedes Mittel war ihm recht, um sie zu Ende zu bringen.
»Was Ihre Geschichten benötigen, kann ich mir vorstellen«, sagte ich trocken, woraufhin Tognazzi in lautes Gelächter ausbrach und Möbius auf dem Schrank verschwand. Kaum hatte Tognazzi die Tasse geleert, erhob er sich und ging. Was er hatte sagen wollen, hatte er gesagt.
Beinahe täglich erreichen mich Nachrichten von Menschen, die meine Geschichte gehört oder darüber gelesen haben. Natürlich sind auch solche darunter, die der Meinung sind, dass ich viel wiedergutmachen müsse und zu leicht davongekommen sei. Das war zu erwarten. Keine Geschichte ist gut genug, um nicht eine Reihe Verrisse zu kassieren, deren Verfasser sich ganz offensichtlich mehr an meiner Person als am Text selbst stören. Zwischenzeitlich ist es ein richtiges Politikum geworden, wenn es in Gesprächen darum ging, mir zu vergeben oder mich zu verbannen. Dabei kannte kaum jemand von diesen Leuten die wahre Geschichte, die hinter den Schlagzeilen stand.
Doch da waren auch die anderen. Menschen, die spürten, dass da noch mehr sein musste als das, was in den Zeitungen abgebildet wurde. Einer von ihnen war Bodhi Parmar, der selbst für eine mittelgroße Tageszeitung schrieb und mir über drei Monate lang ausführliche E-Mails schickte, auf die ich die meiste Zeit nicht antwortete. Er war auch der Erste, dem ich nach meiner Verurteilung ein Interview gab und der die Idee eines Buchs aufbrachte.
»Warum schreibst du nicht darüber?«, hat er gefragt, und auf einmal wurde ich den Gedanken nicht mehr los, meine Seite darzustellen, die bisher niemand erzählt hatte. Meine eigene Geschichte mit meiner eigenen Stimme.
Und das führt uns wieder zu Te, nicht wahr? Der seiner Geschichte ein anderes Ende geben lassen will. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht darüber nachdenke, was er wohl gerade tut. Ob er noch im Wald oder längst weitergezogen ist und ob es ihm gelungen ist, Folkvar in den Schwarzen Tempel zu bringen. Sicher fragen Sie sich, warum ich nicht einfach in den Dunkelbusch gehe und nach ihm suche. Die Antwort ist, dass das Risiko zu hoch ist. Ich weiß, dass die VdF mich nach wie vor im Auge hat, uns alle, die wir hier eine Rolle gespielt haben. Daher kann ich es nicht riskieren, sie zu ihm zu führen. Ich warte darauf, dass er mich findet – oder eben auf eine günstige Gelegenheit. Ich halte nach ihm Ausschau. In den Spiegelungen von Schaufenstern; mit hastig über die Schulter geworfenen Blicken; und in schweigenden Momenten, wenn ich in Gesellschaft bin. Ich warte auf den Ruf einer Taube.
Aber zurück zum Schreiben. Bis zum letzten Tag der Bewährung war es mir unmöglich. Doch um Mitternacht, in der ersten Minute des neuen Tages, griff ich wieder zum Stift, um den ersten Satz eines Textes aufzuschreiben, der mir schon seit Monaten im Kopf herumspukte. Ich schrieb ihn auf das Etikett der leeren Weinflasche, mit der Jop, Estelle und ich angestoßen haben, während wir darauf warteten, dass sich die Zeiger der Uhr am obersten Punkt trafen.
Es war nicht der erste Satz des hier vorliegenden Buches. Nein, das, was auf diesen Seiten stand, schrieb ich innerhalb von sechs Wochen, in denen ich so gut wie niemanden traf und mich hauptsächlich von Fertigsalat und Imbissessen ernährte.
Was Sie hier lesen, ist eine Erinnerung. Doch was ich damals nachts aufschrieb, mit zitternden Fingern, als würde ich etwas Verbotenes tun, war etwas anderes. Ein anderer Text. Ein anderer erster Satz.
Er lautete: Es war der Sommer der toten Fliegen.
Es war dieselbe Geschichte, die ich bereits einmal erzählt hatte, doch diesmal wollte ich sie richtig aufschreiben. Ehrlich und wahr. Und ich hoffe, dass … Vielleicht kann ich auf diese Weise gutmachen, was ich einst versäumt habe. Dann erhält Tinka ein neues Leben, eine zweite Chance. Weniger kaputt und mit Aussicht auf ein Happy End.
Schließlich – und da hat Jop schon recht – wollen wir im Grunde doch alle nur eines: ein Happy End. Selbst wenn wir wissen, dass wir es eigentlich nicht verdient haben, nicht wahr?