Drei Monate lang führte Mick June jeden Samstagabend zum Essen aus.
Sie gingen zum Italiener oder aßen Burger und Pommes frites oder ein Steak. Und danach teilten sie sich stets den Nachtisch und kabbelten sich um den letzten Bissen Kuchen oder Eiscreme. Es war zu einem Scherz zwischen ihnen geworden, ihre geteilte Vorliebe für Zucker.
Einmal holte Mick June zu einer Verabredung ab und schloss seine Hand zur Faust. »Ich habe ein Geschenk für dich«, sagte er mit einem Lächeln.
June bog seine Finger auseinander und fand einen Zuckerwürfel in seiner Hand. »Etwas Süßes für meine Süße«, sagte er.
June lächelte. »Ein echter Charmeur«, sagte sie, während sie ihm den Würfel aus der Hand nahm. Sie steckte ihn sich direkt in den Mund. »Ich weiß, dass du ihn nur aus Jux mitgebracht hast, aber ich lasse ihn nicht verkommen.«
In dem Moment küsste er sie und schmeckte noch den Zucker auf ihren Lippen. »Ich habe sogar eine ganze Schachtel mitgebracht«, sagte er und deutete auf den Vordersitz, wo eine Schachtel Domino-Würfelzucker neben einer Flasche Roggenwhisky stand.
An jenem Abend gingen sie nicht einmal zum Essen aus. Sie fuhren die Küste hinauf, aßen Würfelzucker, tranken Whisky direkt aus der Flasche und stritten scherzhaft darüber, wer den Radiosender bestimmen durfte. Als die Sonne unterging, parkten sie am El Matador – einem unberührten, fantastischen Strand, der unter den Klippen versteckt lag. Seine atemberaubenden Felsformationen sahen aus, als hätte der Ozean sein eigenes Stonehenge geschaffen.
Micks Windschutzscheibe umrahmte die Wellen, die ans Ufer schlugen, ein schöner Film, den sie sich nicht ansahen, denn die beiden saßen betrunken und im Zuckerrausch auf dem Rücksitz.
»Ich liebe dich«, sagte Mick in Junes Ohr.
June konnte den Whiskydunst in seinem Atem riechen, sie roch, dass er auch aus ihren Poren strömte. Sie hatten ziemlich viel getrunken, oder? Zu viel, dachte sie. Aber es war ihr so leichtgefallen. Manchmal machte es ihr Angst, wie gut es schmeckte.
Er drängte seinen Körper gegen ihren, und es war, so dachte sie, die wundersamste Empfindung. Wenn er sich doch nur weiter in sie hineindrücken, sie fester halten könnte, wenn sie doch nur miteinander verschmelzen könnten.
Testhalber schob Mick langsam die Hand unter ihren Rock. Er kam bis zum oberen Rand ihrer Strümpfe, dann stieß sie ihn weg.
»Ich habe langsam das Gefühl, dass ich ohne dich nicht leben kann«, gestand er.
June sah ihn an. Sie wusste, dass Männer so etwas zu Frauen sagten, nur damit sie bekamen, was sie wollten. Aber wenn sie es auch wollte? Darauf gaben sie einem keine Antwort. Sie sagten nur, man solle seine Hand wegschlagen, bis man verheiratet sei. Niemand sagte einem, was man tun sollte, wenn man verging, falls er die Hand nicht weiter am Bein hinaufschob.
»Wenn du ohne mich nicht leben kannst«, sagte sie, als sie sich wieder einigermaßen im Griff hatte, »dann weißt du, was zu tun ist.«
Mick ließ geschlagen den Kopf an ihren Hals sinken. Dann rückte er leicht von ihr ab und lächelte. »Warum sagst du das? Denkst du, ich würde dich nicht sofort fragen, ob du mich heiraten willst?«
Junes Herz schlug leicht und schnell, als wollte es fliegen. »Ich weiß nicht, was du vorhast, Mick. Du wirst es mir schon zeigen müssen.«
Mick vergrub seinen Kopf noch einmal an ihrer Schulter und küsste ihr Schlüsselbein. Seine Lippen fühlten sich so wundervoll auf ihrer Haut an, dass sie vor Entzücken summte.
»Ich möchte deine Erste sein«, sagte sie. Sie wusste genau, was sie mit diesem Satz sagte. Damit schenkte sie ihm die Möglichkeit, ihr die gewünschte Antwort zu geben und sie glauben zu lassen, es sei die Wahrheit.
»Das wirst du«, sagte er. Er hätte alles gesagt, was sie hören wollte – es war seine Art, Liebe zu zeigen.
June küsste ihn. »Ich liebe dich«, sagte sie. »Von ganzem Herzen.«
»Ich liebe dich auch«, erwiderte er und versuchte es noch einmal. Doch sie schüttelte den Kopf, und er nickte und ließ von ihr ab.
Als er sie an jenem Abend zu Hause absetzte, küsste er sie und sagte: »Bald.«
Mick und June gingen am Santa-Monica-Pier entlang, Achterbahn und Karussell waren direkt vor ihnen. Die abgenutzten Bretter knarrten unter ihren Füßen.
June trug ein weißes Kleid mit schwarzen Punkten, Mick eine lange Hose und ein kurzärmeliges Button-down-Hemd. Sie sahen gut aus, und sie wussten es. Sie merkten es daran, wie die Leute auf ihren Anblick reagierten, wie die Kassiererinnen sich aufrichteten, um sie zu bedienen, wie Passanten sie einen Moment länger ansahen.
Als sie zum Wasser gingen – das Riesenrad zu ihrer Linken beherrschte den Himmel –, zupften sie rosafarbene, klebrige Bäuschchen von einer Zuckerwatte, die Mick in der Hand hielt. Sie hatte Junes Lippen rosarot gefärbt, Micks Zunge war rot wie eine Himbeere.
Er warf die leere Zuckerwattetüte in den Müll und wandte sich zu June. »Junie, ich wollte etwas mit dir besprechen.«
»Okay« sagte June.
»Jetzt geht’s los«, sagte Mick, während er auf ein Knie ging. »June Costas, willst du mich heiraten?«
June schnappte derart nach Luft, dass sie Schluckauf bekam.
»Schatz, ist alles okay?«, fragte er und stand wieder auf. June schüttelte den Kopf.
»Alles okay«, sagte sie und versuchte, gleichmäßig zu atmen. »Ich … nur … Damit habe ich heute nicht gerechnet. Ist das dein Ernst? Wirklich?«
Mick zog einen winzigen Ring hervor, einen dünnen Goldreif mit einem Diamanten, kleiner als ein Apfelkern. »Er ist nicht groß«, sagte er.
»Er ist alles«, erwiderte sie.
»Aber eines Tages werde ich dir einen Riesenring schenken. So groß, dass er die Leute blendet.«
»Oh, wow«, sagte sie.
»Ich bin auf dem Weg, ich habe Ziele.«
»Das weiß ich.«
»Aber ohne dich schaffe ich das nicht.«
»Oh, Mick …«
»Ist das also ein Ja?«, fragte er. Er war überrascht, weil er schließlich doch nervös wurde. »Du sagst doch Ja, oder?«
»Natürlich sage ich Ja«, gab sie zurück. »Ich glaube, ich bin auf der Welt, um Ja zu dir zu sagen.«
Mick hob sie in seine Arme und wirbelte sie herum. Und plötzlich hatte June das Gefühl, dass Menschen ganz leicht fliegen konnten.
»Ich weiß, dass ich dich glücklich machen kann«, sagte er, als er sie absetzte und ihr den Ring an den Finger steckte. »Ich verspreche dir, dass du nie wieder einen Fuß in dieses Restaurant setzen musst, sobald du mir gehörst. Und eines Tages werde ich dir das Haus deiner Träume besorgen. Zwei Waschbecken im Bad, Schlafzimmer für so viele Kinder, wie du willst, den Strand vor der Haustür.«
Alles, was sie je gewollt hatte.
»Natürlich werde ich deine Frau«, flüsterte June mit Tränen in den Augen.
»Du und ich, Baby«, sagte Mick, während er sie an sich zog. Sie vergrub den Kopf an seinem Hals, atmete seinen Duft ein, Pomade und Aftershave. Hand in Hand gingen sie den Pier hinauf, und Mick küsste June mit einer Leidenschaft und Ernsthaftigkeit, wie er sie noch nie geküsst hatte.
Seine Eltern waren gestorben, als er gerade achtzehn gewesen war. Aber jetzt würde er seine eigene Familie gründen. Seine eigene kleine Welt. Und sie würden anders sein, er und June.
Als sie zu seinem Auto kamen, rutschten sie schnell auf die Rückbank. Und diesmal, als Mick seine Hand unter ihr Kleid schob, freute sich June. Sie ließ sich von ihm so berühren, wie sie es sich von Herzen ersehnt hatte.
Die Leute tun so, als wäre die Ehe eine Einschränkung , dachte June, aber ist das nicht Freiheit? Sie war begeistert, endlich Ja sagen zu können, alles zu fühlen, was sie fühlen wollte.
Als sie sich aneinanderpressten, ahnte June – an der selbstbewussten Art, wie Mick sie hielt, an der Geschicklichkeit, mit der er sich bewegte –, dass es nicht sein erstes Mal war. Ihr wurde etwas schwer ums Herz, weil sie wusste, dass er sie belogen hatte. Aber hatte sie ihn nicht darum gebeten? Sie fühlte sich umso mehr zu ihm hingezogen, weil er ihr Bedürfnis gestillt hatte, die Einzige zu sein. Sie nahm ihn in sich auf, zog ihn
so dicht an sich heran, wie sie konnte, und gab sich ihm ganz hin.
June war schockiert – überrascht, verblüfft –, als er seine Hand an sie legte, während er in ihr war. Es war ihr peinlich, und sie schämte sich, auf diese Weise berührt zu werden. Aber sie wollte ihm nicht sagen, dass er aufhören sollte, konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er aufhören würde. Und kurz darauf durchfuhr sie ein blitzartiges Glücksgefühl.
Als sie anschließend neben ihm auf dem Rücksitz des Autos lag und beide um Atem rangen, begriff June, dass dieses Erlebnis sie für immer verändert hatte. Sie wusste jetzt, was er ihr geben konnte.
»Ich liebe dich«, sagte sie.
Und er küsste sie, sah ihr in die Augen und erwiderte: »Ich liebe dich auch. Gott, Junie. Ich liebe dich auch.«
Am nächsten Tag kam Mick zu ihr und hielt ihre Hand, als sie in der Küche ihrer Eltern standen und ihnen sagten, dass sie heiraten wollten.
»Ich habe ja anscheinend keine große Wahl«, sagte ihr Vater mit gerunzelter Stirn.
»Dad …«
Theo nickte. »Ich lasse ihn ausreden, June. Du kennst mich gut genug, um das zu wissen. Ich lasse einen Mann immer ausreden.« Er nickte Mick zu. »Komm, mein Sohn, sprechen wir darüber, wie du für meine Tochter sorgen willst.«
Mick zwinkerte June zu, während er Theo ins Wohnzimmer folgte, und sie fühlte sich ein kleines bisschen erleichtert.
»Hol das Huhn aus dem Kühlschrank, Schatz«, sagte ihre Mutter. »Wir machen zum Abendessen Hühnchen mit Reis.«
June gehorchte und bewegte sich ganz leise, weil sie hören wollte, was ihr Vater Mick sagte. Doch sie konnte kein einziges Wort verstehen.
Als Christina den Ofen anfeuerte, drehte sie sich zu June um. »Er ist sicherlich der attraktivste Mann, den ich je gesehen habe«, sagte sie.
June lächelte.
»Mein Gott«, schwärmte Christina. »Er sieht aus wie ein junger Monty Clift.«
June holte die Karotten heraus und legte sie auf das Schneidebrett. »Aber das ist nur ein Grund mehr, vorsichtig zu sein«, warnte Christina kopfschüttelnd. »Man heiratet keine Jungs, die wie Monty Clift aussehen.«
June blickte wieder auf die Karotten vor ihr und begann zu schneiden. Sie wusste, dass ihre Mutter es nie verstehen würde. Sie kaufte nie neue Kleider, probierte nie ein neues Rezept aus und sah niemals fern, nur die Nachrichten. Ihre Mutter las jedes Jahr aufs Neue ihre alte, abgegriffene Ausgabe von Große Erwartungen , denn »Warum sollte ich riskieren, ein neues Buch zu lesen, wenn ich doch weiß, dass mir dieses gefällt?«.
Wenn June nicht das Leben ihrer Mutter nachahmen wollte, durfte sie ihren Rat nicht beherzigen. So einfach war das.
Zwanzig Minuten später, während Christina den Reis umrührte und June nervös den Tisch deckte, kam Mick herein, Theos Hand auf seiner Schulter.
Theo lächelte June an. »Da hast du dir wohl doch einen guten Mann ausgesucht, Schatz.«
Überwältigt rannte June zu Mick und ihrem Vater und umarmte beide.
»Ihr habt meinen Segen«, erklärte Theo und wandte sich an Mick. »Mit den Einschränkungen, die wir besprochen haben, mein Sohn.«
Mick nickte.
»Danke, Daddy«, sagte June.
Theo schüttelte den Kopf. »Danke nicht mir. Mick hier hat noch ein paar Jahre Zeit, um groß rauszukommen, und dann will er das Richtige tun und das Restaurant übernehmen.«
Theo schüttelte Micks Hand, und Mick lächelte. »Ja, Sir«, sagte er.
Theo ging zu Christina hinüber, und June zog Mick zur Seite. »Wir werden das Restaurant übernehmen?«, flüsterte sie.
Mick schüttelte den Kopf. »Das musste er jetzt hören. Also habe ich es ihm gesagt. Aber hast du den ersten Teil mitgekriegt? Ein paar Jahre, um groß rauszukommen? Ich brauche keine paar Jahre. Mach dir keine Sorgen, Junie.«
Beim Abendessen lobte Mick Christinas Kochkünste, und endlich lächelte Christina. Mick bat Theo um Tipps in Sachen Autoversicherung, und Theo war gern bereit, ihn zu beraten.
Beim Dessert, einem Erdbeerkuchen, bat Theo Mick, zu singen.
»June sagt, du singst Cole Porter besser als Cole Porter«, sagte Theo.
Mick zögerte und gab dann nach. Er legte seine Serviette auf den Tisch, stand auf und sang »I’ve Got You Under My Skin«. Und noch bevor er zu Bridge kam, wippte Theo lächelnd mit.
Mick spürte einen Kloß im Hals, und so machte er weiter, aber er drückte die Luft fester aus seinem Brustbein, hielt die Noten etwas länger als üblich. Und als er fertig war, schnappte Mick nach Luft und konnte Theo nicht ansehen, während er versuchte, seinen Puls zu beruhigen.
June klatschte, und Theo schloss sich ihr an. »Gut gemacht«, lobte er. »Bravo.«
Schließlich sah Mick auf und nahm den Applaus entgegen.
Christina lächelte breit, aber June bemerkte, dass sie dabei nicht die Lippen öffnete und das Lächeln nicht ihre Augen erreichte. »Reizend«, sagte sie.
Kurz nach dem Essen verabschiedete sich Mick von allen. In der Einfahrt küsste er June auf die Wange. »Wir zwei werden zusammen etwas erreichen. Das weißt du doch, oder?«, fragte er.
Und June strahlte. »Natürlich weiß ich das.«
Als sie zurück ins Haus gehen wollte, hielt er ihre Hand fest, als könnte sie ihn mitschleifen. Erst im letzten Moment ließ er sie los, er wollte sich nicht verabschieden. Anschließend blieb er im Auto sitzen, bis sie ihm von ihrem Schlafzimmerfenster aus zuwinkte. Dann setzte er zurück und machte sich auf den Weg.
Kurz darauf kam Christina ins Badezimmer zu June, die sich gerade das Gesicht wusch. Christina war bereits im Bademantel und hatte ihr Haar für die Nacht auf Lockenwickler gedreht.
»June, bist du dir sicher?«, fragte Christina.
June ließ die Schultern hängen und straffte sie dann bewusst wieder. »Ja, ich bin mir sicher.«
»Ich weiß, dass er gut aussieht und dass er eine tolle Stimme hat, aber …«
»Aber was, Mom?«, fragte June.
Christina schüttelte den Kopf. »Pass nur auf, dass er weiß, wie man ein Restaurant führt.«
»Ist dir jemals in den Sinn gekommen«, sagte June und merkte, wie ihre Stimme nach oben ging, »dass ich für etwas Höheres bestimmt sein könnte als für ein Restaurant an einer Durchgangsstraße?«
Christinas Gesichtszüge wirkten angespannt, sie presste die Lippen zusammen, als wollte sie sich vor der scharfen Zunge ihrer Tochter schützen. June wappnete sich einen Moment lang in Erwartung ihrer Reaktion, doch dann wurde Christinas Miene wieder sanft.
»Ich weiß, du magst diesen ganzen Trubel, Schatz«, sagte sie. »Aber ein gutes Leben ist, wenn man weiß, dass die Menschen einen mögen. Wenn man sich um Menschen kümmert und etwas für die Gemeinschaft tut. Dein Vater und ich tun das, indem wir Menschen zu essen geben. Ich kann mir wirklich nichts Größeres vorstellen. Aber das ist nur meine Meinung.«
June entschuldigte sich und gab ihrer Mutter einen Gutenachtkuss. Dann nahm sie ein Exemplar der Klatschzeitschrift Sub Rosa und stellte sich vor, eines Tages auf diesen Seiten über Mick zu lesen.
Mick bekam erste bezahlte Auftritte in Restaurants in Hollywood und Beverly Hills, wo er das Standardprogramm sang, während reiche Leute zu Abend aßen. Dann hatte er mit einer Band namens The Vine, die er zusammengestellt hatte, ein paar Auftritte in Clubs in Hollywood.
Mit jedem Auftritt wurde June stolzer auf ihn und erzählte jedem, der es hören wollte, dass sie einen professionellen Musiker heiraten würde.
Mick and the Vine spielten in einer Show in einem kleinen Casino in Las Vegas, auf einer einwöchigen Kreuzfahrt nach Ensenada, auf der Hochzeit des Chefs der Sunset-Studios.
Dann rief das Mocambo an und offerierte Mick zwei Soloauftritte. Als er es June erzählte, hüpfte sie vor Freude auf und ab. Mick hob sie hoch und schwang sie durch die Luft.
Am ersten Abend im Club begleitete June ihn, stand hinter dem Vorhang, während er sang, und starrte die Stars an, die kamen und Platz nahmen. Sie meinte, Desi Arnaz gesehen zu haben, und hätte schwören können, dass Jayne Mansfield da war.
Als Mick im Mocambo aufhörte, wurde er eingeladen, im ganz neuen Troubadour in West Hollywood aufzutreten. Und plötzlich stand sein Name auf einem Plakat. MICK RIVA: ONE NIGHT ONLY.
June freute sich an allem. »Ich heirate Mr Mick Riva«, sagte sie zu Mrs Hewitt, die den Lebensmittelladen führte, zu Mr Russo, der die Muscheln ins Restaurant lieferte, und zu Mrs Dunningham in der Bank. »Er ist gerade zwei Abende im Mocambo aufgetreten. Don Adler war dort. Ich habe ihn dort mit eigenen Augen gesehen. Am Abend davor war Ava Gardner da. Ava Gardner!«
Sie zeigte ihren Sandkastenfreundinnen und den Mädchen, die manchmal im Restaurant aushalfen, ihren winzigen Ring. »Eines Tages wird er ein großer Sänger, das ist er praktisch schon«, sagte sie dann.
Zwei Monate später hatte Mick endlich ein Treffen mit Frankie Delmonte von Runner Records. Eine Woche später erschien er mit einem Plattenvertrag und einem neuen Ring bei June zu Hause. Dieser Diamant war doppelt so groß wie ein Apfelkern.
»Das wäre doch nicht nötig gewesen«, sagte June. Er hatte so viel Feuer, war so strahlend weiß.
»Ich wollte es aber«, sagte Mick. »Ich will nicht, dass du mit einem winzig kleinen Etwas herumläufst. Du brauchst etwas Größeres, etwas Besseres.«
June hatte der kleine Ring gefallen. Und dieser hier gefiel ihr auch.
»Warte nur«, sagte Mick. »Wir werden so viel Geld haben, dass es schon peinlich ist.«
June lachte, aber in jener Nacht ging sie zu Bett und träumte von ihrer Zukunft. Was, wenn sie ein Kingsize-Bett hätten? Und einen Cadillac? Was, wenn sie drei oder sogar vier Kinder haben würden? Was, wenn sie am Strand heiraten könnten, unter einem riesigen Zelt?
Als sie ihm diese Ideen gestand und ihn fragte, ob er irgendetwas davon für möglich halte, sagte er ihr immer das Gleiche. »Ich werde dir die Welt schenken.«
Er flüsterte es ihr ins Ohr, während er ihr das Kleid auszog. Er versprach es ihr, während er sein Bein zwischen ihres schob. »Alles, was du willst. Ich werde dafür sorgen, dass du es bekommst.« Er ließ seine Hand über ihren Rücken gleiten, küsste sie hinters Ohr, umfasste ihre Hüften.
Wer konnte June verübeln, dass sie so oft nackt neben ihm lag, bevor sie verheiratet waren? Wenn er doch so genau wusste, wie er sie berühren konnte?
Als sie feststellten, dass June schwanger war, war keiner von ihnen überrascht.
»June«, sagte Christina kopfschüttelnd in der Küche vom Pacific Fish und flüsterte verzweifelt: »Ich dachte, du wärst schlauer, Schatz.«
»Es tut mir leid«, sagte June und brach fast in Tränen aus. »Es tut mir leid.«
Christina seufzte. »Nun, ihr werdet die Hochzeit vorverlegen müssen. Das ist das Erste. Und dann werden wir dir wohl ein schmeichelhaftes Kleid besorgen. Den Rest klären wir nach und nach.«
June trocknete sich die Augen.
»Du bist nicht die erste Frau auf der Welt, die wegen eines Mannes den Kopf verliert«, sagte Christina.
June nickte.
»Komm schon«, munterte Christina sie auf. »Kopf hoch, Herzchen. Das ist etwas Schönes.« Sie zog June in ihre Arme und küsste sie auf den Scheitel.
Mick und June gaben sich in einem Zelt unter dem Sternenhimmel das Jawort, am Strand von Malibu. Von ihrer Seite war die Familie dabei, von seiner einige Musikmanager.
An jenem Abend tanzten Mick und June Wange an Wange, während die Band Standards spielte. »Wir werden es richtig machen«, sagte Mick zu ihr. »Wir werden dieses Baby lieben. Und wir werden noch mehr bekommen. Wir werden gut zu Abend essen und fröhlich frühstücken, und ich werde dich nie verlassen, Junie. Und du wirst mich nie verlassen. Und wir werden ein glückliches Zuhause haben. Das verspreche ich dir.«
June sah ihn lächelnd an und legte ihre Wange wieder an seine. Gegen Ende des Abends stand Mick auf und trat vor die Gäste. Er nahm das Mikrofon. »Wenn ihr gestattet«, sagte er mit einem schiefen Lächeln. »Ich möchte heute Abend ein Lied singen, das ich für meine Frau geschrieben habe. Es heißt ›Für June‹.«
Ein warmer Juni voller Sonnenschein
Lange Tage und mondhelle Nächte
Doch ich kann an nichts anderes denken als an dich
Nur an dich
June saß ganz vorn, als er für sie sang. Sie versuchte, nicht zu weinen, und lachte, als es ihr nicht gelang. Wenn das ihr Anfang war, mein Gott, wie hoch konnten sie dann fliegen?
Nina kam im Juli 1958 zur Welt. Alle taten so, als wäre sie eine Frühgeburt. Mick fuhr sie beide vom Krankenhaus direkt in ihr neues Haus.
Er hatte ihnen ein doppelstöckiges Häuschen mit drei Schlafzimmern direkt am Wasser gekauft. Babyblau mit weißen Fensterläden an der Malibu Road, die hintere Hälfte ragte über das Meer hinaus. Unter einer Luke im Boden der seitlichen Veranda führte eine Treppe direkt zum Strand.
Als ob ein neues Haus nicht schon genug wäre, stand auch noch ein nagelneuer blaugrüner Cadillac in der Auffahrt.
Als June das erste Mal durch das Haus ging, hielt sie den Atem an. Ein Wohnzimmer mit Blick aufs Wasser, eine Wohnküche, Parkettböden. Es konnte doch nicht wirklich alles haben, oder doch? Es konnten doch nicht alle ihre Träume auf einmal in Erfüllung gehen?
»Sieh es dir an, Junie«, sagte Mick und führte sie aufgeregt ins große Schlafzimmer. »Hier kommt das Kingsize-Bett hin.«
Mit der kleinen, zierlichen Nina im Arm folgte June ihrem Mann durchs Schlafzimmer ins Bad und betrachtete den Waschtisch.
Mit der rechten Hand fuhr sie an der Seite des Waschbeckens entlang und ließ sie über den gewölbten Körper darunter gleiten. Sie strich über die kühlen Fliesen und die raue Fuge, bis sie den gewölbten Körper des zweiten Waschbeckens erreichte.
Nina fuhr auf den Parkplatz des Restaurants und stellte den Motor ab. Als sie aus dem Auto stieg, blickte sie zu dem Schild hoch. War es an der Zeit, es zu erneuern?
Riva’s Seafood, früher bekannt als Pacific Fish, war noch ganz das alte Malibu, mit einem verblichenen Schild und abblätternder Farbe. Es war nur keine Spelunke am Straßenrand mehr, sondern eine Institution. Die Kinder, die früher mit ihren Eltern hergekommen waren, brachten jetzt ihre eigenen Kinder mit.
Als Nina das Restaurant durch den Kücheneingang betrat, hatte sie noch die Sonnenbrille auf der Nase. In letzter Zeit behielt sie sie immer öfter auf. Erst als sie Ramon sah, nahm sie sie ab.
Ramon war fünfunddreißig, seit über einem Jahrzehnt glücklich verheiratet und Vater von fünf Kindern. Er hatte an der Fritteuse angefangen, sich im Laufe der Jahre hochgearbeitet und leitete Riva’s Seafood jetzt seit 1979.
»Nina, hey, was gibt’s?«, fragte Ramon, während er gleichzeitig die Fritteuse im Auge behielt und Garnelen aus der Tiefkühltruhe holte.
Nina lächelte. »Ach, weißt du, ich wollte nur sichergehen, dass du das Haus nicht in Brand steckst.«
Ramon lachte. »Erst wenn du mich in die Versicherungspolice aufgenommen hast.«
Nina trat lachend auf seine Seite der Arbeitsplatte und nahm sich eine Tomatenscheibe vom Schneidebrett, salzte sie und steckte sie sich in den Mund. Dann wappnete sie sich, um hinaus zu den Picknicktischen zu gehen und lächelnd ein paar Gäste per Handschlag zu begrüßen.
Als sie nach draußen trat, blendete die Sonne sie bereits, und sie spürte, wie die falsche Version ihrer selbst zum Leben erwachte. Auf ihrem Gesicht erschien ein übertriebenes Lächeln, und sie winkte ein paar voll besetzten Tischen zu, von denen die Menschen sie anstarrten.
»Ich hoffe, es schmeckt allen«, sagte sie.
»Nina!«, rief ein Junge, kaum älter als fünfzehn. Er stürmte in karierten Shorts und einem Izod-Poloshirt auf sie zu. Nina sah bereits das aufgerollte Plakat in seiner rechten und den Stift in der linken Hand. »Bekomme ich ein Autogramm?«
Bevor sie überhaupt antworten konnte, rollte er es vor ihr aus. Unzählige Leute waren schon mit einem Poster im Restaurant aufgetaucht, das sie im Bikini beim Surfen zeigte, und hatten sie um ein Autogramm gebeten. Und obwohl es ihr seltsam vorkam, willigte sie immer ein.
»Klar«, sagte Nina auch diesmal und nahm ihm den Stift aus der Hand. In leserlichen Buchstaben schrieb sie »Nina R.« in die obere rechte Ecke. Dann setzte sie die Kappe wieder auf den Stift und reichte ihn dem Jungen zurück. »Bitte«, sagte sie.
»Darf ich auch ein Foto machen?«, fragte er, als sein Vater und seine Mutter mit einer Polaroidkamera bewaffnet von ihrem Tisch aufstanden.
»Klar.« Nina nickte. »Natürlich.«
Der Junge schlich sich direkt neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern, er wollte das ganze Paket. Nina lächelte in die Kamera, während sie zugleich ein Stück von dem Jungen abrückte. Sie hatte die Kunst perfektioniert, nahe neben jemandem zu stehen, ohne Körperkontakt zu haben.
Der Vater drückte auf den Auslöser, und Nina hörte das vertraute Klacken, als das Foto herauskam. »Ich wünsche Ihnen allen einen schönen Tag«, sagte sie und ging zu den Tischen im vorderen Bereich, um die übrigen Gäste zu begrüßen und dann wieder hineinzugehen. Doch während der Junge und seine Mutter zusahen, wie das Foto allmählich Konturen entwickelte, lächelte der Vater des Jungen Nina an und strich mit der Hand seitlich über ihr T-Shirt, wobei er ihre Rippen und Hüften streifte.
»Verzeihung«, flüsterte er mit einem selbstbewussten Lächeln. »Ich wollte mich nur davon überzeugen, dass es sich weich anfühlt.«
Es war das dritte Mal, dass ein Mann diesen Spruch ausprobierte, seit letzten Monat die Anzeige für SoftSun Tees erschienen war.
Nina hatte zu Beginn des Jahres dafür Modell gestanden. Es war ihr bis dato lukrativster Job gewesen. Die Anzeige zeigte sie mit nassen Haaren, in roter Bikinihose und weißem T-Shirt in einem Türrahmen lehnend, die Hüfte nach links geschoben, während sie sich mit dem rechten Arm abstützte. Das T-Shirt war fadenscheinig. Auch wenn ihre Brustwarzen nicht zu sehen waren, konnte man es sich vielleicht einbilden, wenn man lange genug hinsah.
Das Foto war anzüglich, und das wusste sie. Sie wusste, dass man sie deshalb überhaupt gebucht hatte. Alle wollten, dass sich das Surfergirl auszog – damit hatte sie sich abgefunden.
Doch dann hatten sie, ohne es mit ihr abzusprechen, den Slogan hinzugefügt – Es fühlt sich weich an, überzeugen Sie sich selbst – und ihn direkt unter ihren Brüsten platziert.
Er forderte zu einer Art von Intimität auf, die Nina nicht gefiel.
Sie schenkte dem Vater des Jungen ein falsches Lächeln und entfernte sich von ihm. »Wenn Sie mich entschuldigen würden …«, sagte sie, winkte den anderen Gästen zu und ging zurück in die Küche.
Nina war klar, je öfter sie – wahrscheinlich für noch aufsehenerregendere Kampagnen – Modell stand, desto mehr Leute würden im Restaurant auftauchen. Umso öfter wollten sie ihr Foto, ihre Unterschrift, ihr Lächeln, ihre Aufmerksamkeit, ihren Körper. Sie wusste noch nicht recht, wie sie am besten mit dem Anspruch umgehen sollte, den die Leute auf sie erhoben. Sie fragte sich, wie ihr Vater das ertragen hatte. Aber ihn hatten sie auch nicht so angefasst wie sie.
»Du musst nicht rausgehen und allen die Hand schütteln«, sagte Ramon, als er sie sah.
»Ich weiß nicht … ich wünschte, du hättest recht«, erwiderte Nina. »Hast du Zeit, die Bücher durchzugehen?«
Ramon nickte, wischte sich die Hände an einem Handtuch ab und folgte ihr ins Büro.
»Das Restaurant läuft gut«, sagte er auf dem Weg zum Büro. »Das weißt du doch, oder?«
Nina wiegte den Kopf. »Ich mache mir eher Sorgen darüber, ob es weiter gut läuft«, sagte sie, als sie sich hinsetzten und die Zahlen durchgingen. Es war ein kompliziertes Unterfangen.
Das Gebäude war alt, die Küche hatten sie kürzlich modernisieren müssen, und das Geschäft schwankte mit den Jahreszeiten.
Zum Glück hatten sie einen guten Sommer gehabt. Aber die Nebensaison stand vor der Tür, und der letzte Winter war brutal gewesen. Im Januar hatte sie den Laden, wie schon bei früheren Gelegenheiten, mit eigenem Geld über Wasser gehalten.
»Wir haben es aus den roten Zahlen vom Jahresbeginn herausgeholt«, sagte Nina und drehte das Buch zu Ramon, damit er es sehen konnte. »Das ist gut. Ich mache mir nur etwas Sorgen, dass wir wieder in die roten Zahlen rutschen, wenn die Touristen wegbleiben.«
Manchmal kam ihr der Gedanke, dass sie mit dem Modeln ein Restaurant subventionierte, in das die Leute nur kamen, um sie zu fotografieren; oft kauften sie nicht mal eine Limonade.
Aber sie liebte das Personal und einige der Stammgäste. Und Ramon.
»Wie dem auch sei, wir finden schon eine Lösung. Wie immer«, sagte sie.
Sie wollte einfach nicht diejenige sein, die nach drei Generationen Riva’s Seafood den Bach hinuntergehen ließ.
»Können wir zu Hause vorbeifahren, bevor wir ins Restaurant gehen? Ich möchte noch duschen«, rief Kit über den Fahrtwind hinweg.
»Auf jeden Fall«, sagte Jay und setzte den Blinker, um in die Straße abzubiegen, in der sie aufgewachsen waren.
Jay und Kit waren die einzigen beiden Rivas, die noch in ihrem Elternhaus lebten. Nina bewohnte die Villa in Point Dume und war oft für Fotoshootings auf Reisen. Hud fühlte sich wohl in seinem Campingtruck. Aber Jay und Kit wohnten gemeinsam in dem Strandhaus, in dem sie aufgewachsen waren und das ihr Vater vor fünfundzwanzig Jahren für ihre Mutter gekauft hatte.
Jay hatte das Elternschlafzimmer belegt. Aber auch er war viel auf Reisen. Oft war er mit Hud zusammen bei Surfwettbewerben irgendwo auf der Welt.
Bald würden die beiden an die Nordküste von Oahu fahren. Jay nahm am Duke Classic, am World Cup und den Pipe Masters teil. Dann ging es nach Gold Coast in Australien und nach Jeffreys Bay in Südafrika. O’Neill wollte den Großteil der Kosten übernehmen und dafür Jays Klamotten mit dem Firmennamen zukleistern. Und die ganze Zeit über sollte Hud Fotos von ihm schießen.
Die beiden spekulierten auf ein weiteres Titelbild und wollten Rechte für Poster und Kalender verkaufen. Aber dafür mussten sie durch die Welt reisen. Das Leben eines Profi-Surfers und seines Gefolges erforderte Beweglichkeit und Spontaneität. Jays und Huds Leidenschaft, ihr Lebensunterhalt, ihr Leben hingen von der Jagd nach der sich ständig verändernden, unvorhersehbaren Kombination aus Wind und Wasser ab.
Obwohl Jay Kalifornien als seine Heimat betrachtete, hatte er in letzter Zeit nicht mehr unbedingt das Gefühl, irgendwo zu wohnen.
Kit schlief derweil immer noch in ihrem Kinderbett, sah dem ersten Jahr am Santa Monica College entgegen und verbrachte ihre Abende und Wochenenden hinter der Kasse des Restaurants. Der einzige Lichtblick waren Ausflüge mit ihren Freunden an die Küste von Santa Cruz. Dort gab es große Wellen, manche doppelt so hoch wie sie selbst. Aber das war auch schon alles, was Kits Leben momentan zu bieten hatte.
Ihre Geschwister sahen sich die Welt an, während Kit immer noch Krabbenpuffer servierte.
Sie wollte auch etwas vom Ruhm abhaben. Etwas von dem Glamour in Ninas Leben, von Jays und Huds Nervenkitzel. In ihrer Kindheit war sie ihnen oft ins Wasser gefolgt. Aber sie vermutete, dass sie auch dann gesurft wäre, wenn sich keiner von ihnen jemals auf ein Surfbrett gestellt hätte.
Sie war eine tolle Surferin, sie könnte zur Legende werden.
Sie sollte da draußen sein und Anerkennung bekommen. Aber man nahm sie einfach nicht so ernst wie ihre Brüder, und sie wusste, dass sie nicht so umwerfend aussah wie ihre Schwester – was hieß das also für sie? Sie wusste es nicht. Sie wusste nicht, ob es für jemanden wie sie einen Platz im Rampenlicht gab. Für eine Surferin, die kein heißer Feger war.
Jay hielt vor der Garage an und ließ Kit aussteigen. »Ich bin gleich wieder da«, sagte er.
»Moment, wo willst du denn hin?«, fragte sie. Sie hatte einen ganz leichten Sonnenbrand auf Wangen und Nasenrücken bekommen, wodurch sie jünger aussah.
»Du brauchst doch ewig zum Duschen, und ich muss tanken«, erwiderte Jay. Er blickte auf die Tankanzeige, um zu sehen, ob er überhaupt die Wahrheit sagte. Die Anzeige stand bei knapp der Hälfte. »Der Tank ist nur noch zu einem Viertel voll.«
Kit warf ihm einen skeptischen Blick zu und ging dann durch die Garage ins Haus.
Jay lenkte den Wagen zurück auf die Straße und trat das Gaspedal etwas kräftiger durch als nötig. Der Wagen brauste über die kaum befestigte Straße. Er blickte auf die Uhr am Radio. Wenn er sich beeilte, blieb noch genug Zeit.
An Land fühlte er sich auf dem Pacific Coast Highway am wohlsten. Er war praktisch die einzige Straße in der Stadt. Diesseits und jenseits des Highways lagen Wohnviertel, Schluchten und Einkaufszentren. Man konnte nirgends hingehen, nichts tun, niemanden in Malibu besuchen, ohne dass die Räder den Asphalt des PCH berührten. Ob man ein Restaurant besuchen, einkaufen, pünktlich ins Kino kommen, an den Strand gehen oder in den Wellen surfen wollte – immer musste man sich mit den anderen Leuten auf der Straße arrangieren. Das war der Preis, den man für die Aussicht zahlte.
Jay steuerte durch den Verkehr, so gut er konnte, beschleunigte, nahm Ampeln mit, die gerade auf Rot umsprangen, blieb so lange wie möglich auf der linken Spur und wechselte erst im letzten Moment auf die rechte, um dann auf die Paradise Cove Road abzubiegen.
Paradise Cove war eine verblüffend schöne Bucht, die hinter Palmen und Weißeichen verborgen lag. Nachdem Jay in die schmale Straße abgebogen war, verlangsamte er das Tempo. Vor ihm tauchte eine Bucht mit hellem Sand auf, die von herrlichen Klippen und klarem blauen Himmel umrahmt war.
Auf der Klippe, die alles überragte, befand sich ein Stellplatz für Wohnmobile mit so unverschämt hohen Platzgebühren, dass sie nur für die Hollywood-Elite erschwinglich waren.
Aber Jay war wegen des Restaurants in Paradise Cove hier. Das Sandcastle war ein Strandcafé, in dem man einen überteuerten Daiquiri mit Blick auf den Pier genießen konnte. Jay parkte sein Auto und überprüfte seine Taschen. Ein Fünfer und vier Einer. Er musste wenigstens etwas bestellen.
Jay betrat das Restaurant, schob sich die Sonnenbrille auf den Kopf und trat an die Theke. Er wurde von einem blonden Mann begrüßt, dessen Bräune dunkler war als sein Haar und an dessen Namen sich Jay nicht erinnern konnte.
»Hey, Jay«, begrüßte ihn der Typ.
»Hey, Mann«, sagte Jay und nickte ihm zu. »Kann ich was zum Mitnehmen bestellen?«
Der Mann drehte sich um, und Jay las sein Namensschild. Chad. Genau.
»Na klar. Was möchtest du haben?« Chad holte einen Notizblock heraus.
»Nur ein äh …« Jay warf einen Blick auf die Tafel mit den Angeboten und wählte das Erste, was er dort las. »Ein Stück Schokoladenkuchen. Zum Mitnehmen.«
Jay versuchte, sich nicht zu auffällig umzusehen. Er hatte sich vorgenommen, nicht nach ihr zu fragen, wenn sie nicht von allein herauskam. Vielleicht arbeitete sie heute nicht. Wie auch immer. Das war okay.
Chad klickte mit dem Stift, als freute er sich über Jays Bestellung. »Ein Schokokuchen, kommt sofort.«
Und Jay fiel wieder ein, dass Chad ein Trottel war. Chad ging in die Küche, und Jay setzte sich auf einen Hocker. Er betrachtete seine Schuhe – abgetragene Slipper –, es war Zeit für ein neues Paar. Rechts lugte schon der große Zeh aus einem Loch hervor. Nächste Woche würde er in die Stadt fahren und sich in dem Vans-Laden genau das gleiche Paar noch einmal kaufen. Schwarz-weiß kariert, Größe zwölf. Never change a winning team.
In diesem Moment kam Lara mit einem Styroporbehälter heraus, den sie in eine Plastiktüte steckte.
»Schokoladenkuchen?«, fragte Lara. »Seit wann isst Jay Riva Schokoladenkuchen?«
Sie arbeitete also doch heute, und sie nahm ihn sehr wohl wahr.
Lara war gut ein Meter achtzig groß, nur unwesentlich kleiner als Jay. Sie war dünn, sogar hager. Und wenn Jay ganz ehrlich war, auch nicht besonders schön. Ihr ovales Gesicht mit dem energischen Kinn wirkte streng. Eine schmale Nase. Dünne Lippen. Doch irgendwie war es schwer, den Blick von ihrem Gesicht zu lösen.
Jay hatte nicht aufhören können, an sie zu denken. Er war verknallt, bezaubert und nervös wie ein Teenager. Und als Teenager war er nie verliebt gewesen. Das war also ganz neu für ihn, extrem unangenehm, ekelhaft und aufregend.
»Manchmal muss man was Neues ausprobieren«, sagte er.
Lara stellte die Tüte auf den Tresen und kassierte ab.
Er reichte ihr das Geld. »Kommst du heute Abend zur Party?«, fragte er. Die Worte waren raus, und er war zufrieden. Er hatte lässig, aber nicht zu eifrig geklungen.
Lara öffnete den Mund, um zu antworten, und Jays ganzer Tag und seine ganze Nacht hingen von ihrer Antwort ab.
Drei Wochen zuvor waren sich Lara und Jay, bis dahin nur flüchtige Bekannte, vor Alice’s Restaurant begegnet. Jay war auf dem Rückweg zum Strand, nachdem er am Ende des Piers einen Joint geraucht hatte. Lara kam gerade aus der Bar. Ihre langweilige Verabredung war vor einer Stunde gegangen, und sie hatte ihre Enttäuschung in Coronas ertränkt.
Als Jay sie entdeckte, saß sie ziemlich angeheitert in Jeansshorts und einem Tanktop auf einer Bank und versuchte gerade, sich ihre weißen Keds zuzubinden.
Jay lächelte sie an, und sie lächelte erfreut zurück.
»Lara, stimmt’s?«, hatte er gesagt und sich eine Zigarette angezündet, um den Geruch vom Gras zu überdecken.
»Ja, Jay Riva«, erwiderte Lara und stand auf.
Jay lächelte bescheiden. »Ich wusste, dass du Lara heißt. Ich wollte nur nicht irgendwie spooky wirken.«
»Wir sind uns mindestens dreimal begegnet«, sagte sie grinsend. »Es ist nicht spooky, sich meinen Namen zu merken. Es ist höflich.«
»Lara Vorhees. Du arbeitest im Sandcastle, meistens hinter der Bar, manchmal als Kellnerin.«
Lara nickte und lächelte. »Geht doch. Ich wusste, du kannst das.«
»Man muss ein bisschen cool tun können, findest du nicht?«
»Leute, die cool sind, brauchen nicht cool zu tun, oder?«
Jay war es gewohnt, dass Frauen auf ihn warteten, ihm ihre Verfügbarkeit signalisierten und über seine Witze lachten, auch wenn sie nicht lustig waren. Frauen wie Lara war er nicht gewohnt.
»In Ordnung«, sagte er, »ich verstehe, worauf du hinauswillst. Aber was soll ich dann sagen, wenn ich cool bin?«
»Als Nächstes fragst du mich, ob ich gerade etwas vorhabe«, antwortete sie. »Und dann sage ich dir, dass ich nichts vorhabe. Und dann fragst du mich, ob ich irgendwo mit dir deinen Joint zu Ende rauchen will. Denn offensichtlich hast du einen, du bist high und riechst nach Gras.«
Jay lachte ertappt. »Hast du was vor?«
»Nein.«
»Willst du irgendwo mit mir meinen Joint zu Ende rauchen? Ich bin high und rieche nach Gras.«
Lara lachte. »Gehen wir zu mir.«
Und das taten sie. Lara wohnte in einem Einzimmerappartement eine Viertelmeile landeinwärts am Fuß der Berge. In einer klaren Nacht konnte man von ihrer Wohnung aus das Wasser sehen. Die beiden standen zwischen zwei Zimmerpflanzen auf ihrem winzigen Balkon, teilten sich ein Bier und einen Joint und betrachteten den Mond über dem Meer.
Als Lara ganz beiläufig fragte: »Mit wie vielen Frauen hast du geschlafen?«, war Jay so überrumpelt, dass er spontan die Wahrheit sagte. »Mit siebzehn.«
»Bei mir waren es acht«, sagte sie und blickte dabei auf den Horizont. »Obwohl es vermutlich davon abhängt, was wir als Sex definieren.«
Sie überraschte ihn. Wo war ihre Schüchternheit? Ihre Scham? Jay war klug genug, um zu wissen, dass Frauen nicht von Natur aus schüchtern waren, aber gelernt hatten, sich so zu geben. Die meisten Frauen wussten, dass es die Gesellschaft quasi von ihnen erwartete. Doch Lara war anders.
»Definieren wir es als einen Orgasmus«, sagte Jay.
Lara lachte ihn aus. Lachte ihn tatsächlich aus. »Na gut, dann waren es drei«, gestand sie, stieß den Rauch des Joints aus und reichte ihn an Jay zurück. »Männer bringen Frauen nicht so oft zum Orgasmus, wie sie glauben.«
»Ich garantiere dir, bei mir würdest du einen haben«, sagte er, während er den Joint an seine Lippen setzte.
Diesmal lachte sie nicht. Sie sah ihn an, musterte ihn.
»Was macht dich so sicher, dass ich dich ranlasse?«
Er lächelte, rückte ein Stück von ihr ab und ließ sie spüren, wie es sich anfühlte, wenn er nicht mehr bei ihr war. »Hör zu, wenn du keinen Orgasmus erleben willst, der in deinen Zehen beginnt und dann deinen gesamten Körper erschüttert, kratzt mich das nicht.«
»Oh, das ist echt beeindruckend«, sagte Lara und spielte mit dem Etikett der Bierflasche. »Wie du es schaffst, es so aussehen zu lassen, als würdest du mir einen Gefallen tun, wenn du mit mir schläfst. Lass uns eins klarstellen, Riva. Du wärst nicht hier, wenn ich kein Interesse hätte. Aber du hast Glück, dass ich es habe. Nicht andersherum. Es ist mir egal, wer dein Daddy war.«
Jay vermutete, dass er sich in diesem Moment in sie verliebt hatte. Aber es gab auch noch andere Momente in jener Nacht, in denen es passiert sein könnte.
Hatte er sich in sie verliebt, als sie sich dort auf dem Balkon ausgezogen hatte? Vielleicht, als sie die Hände um sein Gesicht schmiegte, ihm tief in die Augen sah und sich auf ihn legte.
Vielleicht hatte er sich in sie verliebt, als sie eins gewesen waren, die Beine umeinandergeschlungen, die Körper so nah, dass kein Platz mehr zwischen ihnen war. Sie bewegten sich im Einklang, als wüssten sie genau, was sie taten. Kein Gefummel, keine Fehler, keine peinlichen Momente. Und Jay dachte: Vielleicht ist das Liebe .
Oder vielleicht hatte er sich auch später in sie verliebt, als es draußen stockdunkel war und sie so taten, als ob sie schliefen, aber beide wussten, dass der andere es auch nicht tat. Sie hatte nackt dagelegen, ohne Anstalten zu machen, die Decke über sich zu ziehen. Ihre Haut war das Einzige, was er in der Dunkelheit sehen konnte.
In dem Moment hatte er tief Luft geholt und ihr als Erster das neue, große Geheimnis anvertraut, das ihn fertigmachte.
»Bei mir wurde gerade ein Herzproblem festgestellt«, sagte er zu ihr. »Dilatative Kardiomyopathie.«
Es war das erste Mal, dass er es laut aussprach, seit er es in der Woche zuvor von dem Arzt gehört hatte. Es klang so seltsam aus seinem Mund, dass er sich fragte, ob er es falsch ausgesprochen hatte. Ständig wiederholte er den Begriff in seinem Kopf, bis er wie Unsinn klang. Das konnte doch nicht richtig sein, oder? Kardiomyopathie? Aber das war es. Er hatte es genauso ausgesprochen wie der Arzt.
Er hatte schon seit Wochen Schmerzen in der Brust gehabt. Kurz nachdem er in Baja vom Board geworfen worden war und zwischen zwei Wellen geriet, fing es an. Er war so lange unter Wasser gewesen, dass er schon glaubte, sterben zu müssen. Er kämpfte gegen die Strömung an und versuchte, oben und unten zu unterscheiden. Er stemmte sich gegen das Gewicht des Wassers und versuchte verzweifelt, den Himmel zu erreichen. Aber er wurde einfach immer weiter herumgeschleudert und von der Strömung mitgerissen. Und plötzlich war er durch die Wasseroberfläche gestoßen und hatte wieder Luft bekommen.
Seitdem tauchten von Zeit zu Zeit diese Schmerzen auf. Ganz plötzlich krampfte sich seine Brust aus dem Nichts heftig zusammen und raubte ihm den Atem, um sich dann genauso schnell wieder zu entspannen.
Zunächst war der Arzt nicht sicher, was es verursachte, und dann auf einmal sehr sicher.
Lara legte ihre Hand auf seine Brust, rückte ihren warmen Körper näher an seinen und fragte: »Was bedeutet das?«
Es bedeutete, dass Jays linke Herzkammer geschwächt war und nicht immer so funktionierte, wie sie sollte. Dass alles, was zu Überanstrengung und zu einem erhöhten Adrenalinausstoß führen könnte – insbesondere unter Wasser gezogen zu werden –, nicht mehr empfehlenswert war. Die Überlastung des Herzens, als er fast ertrunken wäre, hatte das Ganze ausgelöst, aber dahinter steckte eine Erbkrankheit. Sie war ihm von seinen Vorfahren mitgegeben worden und lauerte in seinen Genen.
Jay ersparte Lara weitere Details, erzählte ihr aber das Schlimmste. »Ich muss mit dem Surfen aufhören. Es könnte mich umbringen.« Sein Ruhm, sein Geld, die Partnerschaft mit seinem Bruder … Ein kleiner Defekt in seinem Körper würde ihm alles nehmen.
Doch als Lara das hörte, sagte sie: »Okay, dann machst du eben etwas anderes.« Bei ihr hatte es so einfach geklungen.
Ja , dachte Jay. In dem Moment hatte er sich in sie verliebt. Als sie, was sich für ihn wie ein Todesstoß angefühlt hatte, so hindrehte, als wäre es leicht zu überwinden. Als sie ihm in seiner düsteren Zukunft einen Silberstreif am Horizont gezeigt hatte.
Als Jay am nächsten Morgen aufwachte, hatte Lara ihm einen Zettel hinterlassen, dass sie zur Arbeit musste. Er hatte keine Nummer von ihr. Seither war er dreimal im Sandcastle gewesen und hatte versucht, sie zu finden.
»Ich wusste nicht, wie das läuft«, sagte Lara und reichte ihm den Schokoladenkuchen. »Mit den Einladungen, meine ich.«
Jay schüttelte den Kopf. »Keine Einladungen. Es ist ganz einfach: Wenn du von der Party weißt und weißt, wo Nina wohnt, bist du eingeladen.«
»Tja, das weiß ich aber nicht«, sagte Lara. »Ich weiß nicht, wo sie wohnt.«
»Oh«, sagte Jay. »Na, zum Glück kennst du mich.«
Er schrieb die Adresse seiner Schwester auf eine Serviette und reichte sie ihr.
»Ist es okay«, fragte sie und deutete mit dem Kopf auf ihren Kollegen, »wenn ich Chad mitbringe?«
Hatte sie was mit Chad? Jay wurde innerlich ganz heiß, ihm brach fast das Herz. Diese Schmach. Es war ein heftiger Absturz, wenn man auf Wolke sieben geschwebt hatte.
»Oh, klar«, sagte er. »Ja, sicher.«
»Ich schlafe nicht mit ihm, falls du das denkst«, sagte Lara. »Ich bevorzuge Männer, die sich nicht vier Stunden am Tag mit einem Folienreflektor in die Sonne legen.«
Jay durchströmte Erleichterung, es fühlte sich an wie Eis auf einer Brandwunde.
»Er ist deprimiert, weil seine noch orangenere Freundin mit ihm Schluss gemacht hat«, fuhr Lara fort. »Auf eurer Party muss doch irgendwer auf hübsche Jungs stehen, oder? Können wir ihn jemandem ausleihen?«
Jay lächelte. »Ich glaube, das dürfte sich machen lassen.«
Lara faltete die Serviette mit der Adresse und steckte sie in ihre Schürzentasche. »Ich gehe heute Abend wohl auf eine Party.«
Jay lächelte erfreut. Das war’s. Dafür war er hergekommen. Als er ging, vergaß er, den Kuchen mitzunehmen.