Es war Ende Dezember 1959, ein paar Tage nach Weihnachten. Mick war im Studio in Hollywood, June mit Nina und Jay zu Hause, sie grillte ein Hähnchen. Das Haus duftete nach Zitrone und Salbei. Sie trug ein rot gestreiftes Hauskleid und hatte ihr Haar wie jeden Tag zu einem perfekten Bob gestylt. Nie erwartete sie ihren Mann unfrisiert zu Hause.
Irgendwann um kurz nach vier Uhr nachmittags läutete es an der Tür.
June ahnte nicht, dass sie nach den zehn Sekunden, die sie brauchte, um von der Küche zum Eingang zu gelangen, schlagartig ihre Naivität verlieren würde.
Mit dem vier Monate alten Jay auf dem Arm und der siebzehn Monate alten Nina, die sich an ihr Bein klammerte, öffnete June die Tür und stand vor einer Frau, in der sie das junge Filmsternchen Carol Hudson erkannte.
Carol war klein – zierlich –, mit großen Augen und heller Haut. Sie trug einen Kamelhaarmantel und rosa Lippenstift, den sie gekonnt auf die schmalen Lippen aufgetragen hatte. June sah sie an, und es kam ihr vor, als wäre ein Kolibri auf der Fensterbank gelandet.
Carol stand vor Junes Tür und hielt einen kleinen Jungen im Arm, der ungefähr in Jays Alter war. »Ich kann ihn nicht behalten«, sagte Carol mit wenig Bedauern in der Stimme.
Carol reichte June das Baby, sie drückte es in ihre bereits vollen Arme. June war wie erstarrt und versuchte zu verstehen. »Es tut mir leid. Aber ich kann das nicht«, fuhr Carol fort. »Vielleicht … wenn es ein Mädchen wäre … aber ein Junge sollte bei seinem Vater sein. Er sollte bei Mick sein.«
June spürte, wie ihr die Luft wegblieb. Sie rang um Atem und stieß einen kaum hörbaren Schrei aus.
»Seine Geburtsurkunde«, sagte die Frau, ohne auf Junes Reaktion einzugehen, und holte das Papier aus ihrer schwarzen Handtasche. »Hier. Sein Name ist Hudson Riva.« Sie hatte das Kind nach sich benannt, wollte es aber trotzdem verlassen.
»Hudson, es tut mir leid«, sagte Carol, dann drehte sie sich um und ging.
June sah ihr hinterher und hörte, wie die schwarzen Pumps der Frau leise über das Pflaster klackerten.
Als sie sie die Treppe hinunterlaufen sah, wurde sie sehr wütend. Noch war sie nicht wütend auf Mick, das kam erst später. Und sie war auch nicht wütend über die Situation, obwohl die Verzweiflung darüber nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Aber in diesem Moment verspürte sie eine unfassbare Wut auf Carol Hudson, weil sie an ihre Tür geklopft und ihr ein Kind in den Arm gedrückt hatte, ohne den Mut zu haben, die Worte auszusprechen: »Ich habe mit Ihrem Mann geschlafen.«
Für Carol war der Verrat an Junes Ehe nebensächlich gewesen, das kleinste Teil des Puzzles. Es schien sie nicht zu kümmern, dass sie June nicht nur ein Kind überreichte, sondern ihr zugleich das Herz brach. Als June über die einzigartige Kombination aus Dreistigkeit und Charakterlosigkeit dieser Frau nachdachte, kniff sie die Augen zusammen. Carol Hudson war in der Tat eine dreiste Frau.
June sah Carol unverwandt hinterher, während die kleinen Jungen in ihren Armen zu weinen begannen – immer abwechselnd, als weigerten sie sich, im Gleichklang zu sein.
Carol setzte rückwärts aus der Einfahrt. Ihr augenscheinlich nagelneuer Ford Fairlane war bis unters Dach mit Koffern und Taschen vollgestopft. Sollte June noch Zweifel daran gehabt haben, stellte das vollgepackte Auto klar, dass dies kein Spiel war. Diese Frau wollte Los Angeles den Rücken kehren und ihren Sohn in Junes Armen zurücklassen, damit die ihn aufzog. Sie kehrte im wahrsten Sinne des Wortes ihrem Fleisch und Blut den Rücken.
June sah Carol hinterher, bis der Wagen hinter den Bergen verschwand. Sie blieb noch eine Weile stehen, hoffte, dass die Frau ihre Meinung ändern und umkehren würde, und als das Auto nicht wieder auftauchte, wurde ihr schwer ums Herz.
June drückte mit dem Fuß die Tür zu und führte Nina zum Fernseher. Sie stellte eine Wiederholung von Mein Freund Flicka an, in der Hoffnung, dass Nina ruhig zusehen würde. Nina tat genau, was man ihr sagte. Noch keine zwei Jahre alt, hatte sie ein feines Gespür für Stimmungen.
June legte Jay in sein Bettchen und ließ ihn weinen, während sie Hudson aus seiner Decke wickelte.
Hudson war klein und schwächlich, mit langen Gliedmaßen, in die er noch nicht hineingewachsen war und die er noch nicht kontrollieren konnte. Er war rot und schrie, als wäre er bereits wütend. Er wusste, dass er verlassen worden war, da war sich June sicher. Er weinte so heftig, so laut und so unfassbar lange, dass June fürchtete, den Verstand zu verlieren. Immer wieder fing er an zu schreien wie eine Sirene, die nie verstummte. Tränen liefen über sein Neugeborenengesicht. Ein Junge ohne
Mutter.
»Du musst aufhören«, flüsterte June ihm verzweifelt zu. »Mein Süßer, du musst aufhören. Du musst aufhören. Du musst aufhören. Bitte, kleines Baby, bitte, bitte, bitte. Tu’s für mich.«
Und zum ersten Mal, seit sie diese seltsame und unangenehme Reise angetreten hatten, sah Hudson Riva June direkt in die Augen, als merkte er plötzlich, dass er nicht allein war.
Als June diesen fremden Jungen in den Armen hielt – ihn anstarrte und zu verstehen versuchte, wie ihnen beiden geschah –, begriff sie auf einmal, dass alles viel einfacher war, als sie gedacht hatte.
Dieser Junge brauchte jemanden, der ihn liebte. Und das konnte sie. Für sie war das ein Kinderspiel.
Sie zog ihn dicht an sich, so dicht, wie sie konnte, so dicht, wie sie ihre eigenen Babys an den Tagen nach der Geburt gehalten hatte. Sie hielt ihn fest, legte ihre Wange an seinen Kopf und spürte, wie er sich zu beruhigen begann. Und dann, noch bevor er verstummte, hatte June sich bereits entschieden.
»Ich werde dich lieben«, sagte June zu ihm. Und das tat sie.
Als es Abend wurde, holte June das Hähnchen aus dem Ofen, dämpfte den Brokkoli und gab Nina etwas zum Abendessen. Sie schaukelte die Jungen, badete Nina und brachte alle drei ins Bett – was geschlagene zweieinhalb Stunden dauerte.
Und während sie jede dieser Aufgaben erledigte, schmiedete June einen Plan. Ich werde ihn umbringen , dachte sie, während sie Nina das Haar wusch. Ich werde ihn umbringen , dachte sie, während sie Jays Windel wechselte. Ich werde ihn umbringen , während sie Hudson ein Fläschchen gab. Aber zuerst werde ich ihn aus dem verdammten Haus aussperren.
Als die Kinder schliefen – Nina in ihrem Bett und die beiden Jungen in einem Kinderbett –, goss sich June einen Schluck Wodka ein und kippte ihn herunter. Dann schenkte sie sich noch einen ein. Schließlich rief sie einen Schlüsseldienst aus den Gelben Seiten an, der rund um die Uhr geöffnet hatte.
Sie wollte nicht, dass Mick auch nur einen Fuß in ihr Haus setzte, dass er jemals wieder in ihrem Kingsize-Bett schlief oder sich die Zähne in einem der Waschbecken im Badezimmer putzte.
Als der Schlosser eintraf – ein Mr Dunbar, sechzig Jahre alt in schwarzem T-Shirt und Latzhose, mit gelblichen blauen Augen und derart tiefen Falten, dass man sein Kleingeld darin verlieren konnte –, stieß June auf ihre erste Hürde.
»Ich kann die Schlösser nicht ohne die Zustimmung des Hausherrn auswechseln«, erklärte Mr Dunbar. Er sah June stirnrunzelnd an, als ob sie es besser wissen müsste.
»Bitte«, sagte June. »Für meine Familie.«
»Tut mir leid, Ma’am, ich kann die Schlösser nicht auswechseln, wenn das Haus nicht Ihnen gehört.«
»Das Haus gehört mir«, behauptete sie.
»Na ja, aber nicht allein«, widersprach er, und June vermutete, dass seine eigene Frau ihn vielleicht das eine oder andere Mal aus dem Haus ausgesperrt hatte.
June flehte vergeblich weiter, aber in Wahrheit war sie nur mäßig überrascht. Schließlich war sie eine Frau, die in einer von Männern geschaffenen Welt lebte. Und sie hatte schon lange gewusst, dass Arschlöcher zusammenhielten. Sie waren keiner treu, aber untereinander passten sie erstaunlich gut aufeinander auf.
»Ich wünsche Ihnen viel Glück, Mrs Riva. Das wird sich sicher alles finden«, sagte er, als er ging und nichts weiter getan hatte, als eine Gebühr dafür zu kassieren, dass sie ihn aus dem Bett geholt hatte.
Also benutzte June das einzige Werkzeug, das ihr zur Verfügung stand: einen Esszimmerstuhl. Sie klemmte ihn unter den Türknauf und setzte sich darauf. Und zum ersten Mal in ihrem Leben wäre sie gern schwerer gewesen. Sie wollte lieber breit und groß und stark sein. Stämmig und mächtig. Wie dumm von ihr, dass sie die ganze Zeit so hart daran gearbeitet hatte, schlank und zierlich zu bleiben.
Als Mick nach den Schallplattenaufnahmen um ein Uhr nachts nach Hause kam – sein Kragen stand offen, die Augen waren gerötet –, stellte er fest, dass sich die Tür zwar einen Spalt, aber nicht weiter öffnen ließ.
»June?«, fragte er durch den Spalt.
»Am meisten ärgert mich«, sagte June ganz offen, »dass ich es im Grunde schon wusste. Dass du nicht treu gewesen bist. Aber ich habe es verdrängt, weil ich deinen Worten mehr vertraut habe als mir selbst.«
»Schatz, wovon redest du?«
»Du hast ein drittes Kind«, sagte June. »Deine Freundin hat es hier bei uns abgegeben. Offenbar ist sie nicht bereit, Mutter zu sein.«
Mick schwieg, und June hoffte verzweifelt, dass er etwas sagen würde.
»Oh, Junie«, sagte er schließlich. June konnte hören, wie seine Stimme brach, als würde er gleich weinen.
Mick ließ sich auf den Boden sinken, schüttelte den Kopf und vergrub ihn dann in den Händen. Gott , dachte er. Wie konnte es nur so weit kommen?
Vor Carol war ihm alles so einfach erschienen.
Er konnte das schöne Haus mit der schönen Frau und den schönen Kindern haben, sie von ganzem Herzen lieben und ein guter Mann sein. Er wollte ein guter Mann sein.
Aber die Frauen umschwärmten ihn in Scharen! Guter Gott, man musste es gesehen haben, um es zu glauben. Bei den Konzerten ging es hinter der Bühne zu wie in Sodom und Gomorra, vor allem wenn er mit Freddie Harp und Wilks Topper zusammen auftrat.
June verstand das nicht. Dass die jungen Frauen mit großen, leuchtenden Augen und wissendem Lächeln vor der Bühne standen und ihn anhimmelten. Dass sie sich in seine Garderobe schlichen, die Kleider zwei Knöpfe zu weit geöffnet.
Er hatte Nein gesagt. So oft hatte er Nein gesagt. Er ließ sie an sich heran oder sich von ihnen berühren. Ein- oder zweimal hatte er sogar den Schnaps auf ihren Lippen geschmeckt. Und dann hatte er immer Nein gesagt.
Er schob ihre Hände weg, wandte den Kopf ab und sagte: »Du solltest gehen. Ich habe eine Frau zu Hause.«
Aber jedes Mal, wenn er Nein sagte, fürchtete er, dem Tag, an dem er Ja sagen würde, ein Stück näher gekommen zu sein. Und er wusste nicht genau, wann es ihm bewusst geworden war, irgendwann, als Nina noch ganz klein war: dass er wie jemand Nein sagte, der eine zweite Portion Nachtisch ablehnt. Der zwar Nein sagt, aber weiß, dass er beim zweiten Nachfragen Ja sagen würde.
Dieses Ja erfolgte schließlich auf dem Parkplatz des Tonstudios, in dem er sein erstes Album aufnahm. Sie hieß Diana, eine zwanzigjährige rothaarige Backgroundsängerin mit einem Schönheitsfleck über der Augenbraue und einem Lächeln, das einem das Gefühl gab, sie könne einen durch den Anzug hindurch nackt sehen.
Als Mick eines Abends nach Hause fahren wollte, traf er sie bei seinem Auto, und sie erwiderte seinen Blick eine Sekunde zu lang. Bevor er sich besann, küsste er sie, drängte sie an die Hauswand und presste seinen Körper gegen ihren, als hinge ihrer beider Leben davon ab.
Sieben Minuten später war er fertig. Er löste sich von ihr, richtete sein Haar und sagte: »Danke!«
Sie lächelte und erwiderte: »Jederzeit«, und er wusste tief im Inneren, dass er es wieder tun würde.
Die Sache mit Diana dauerte zwei Wochen, dann wurde es ihm langweilig. Doch sobald es vorbei war, stellte er fest, dass das schlechte Gewissen sein Verlangen nach June nur noch verstärkte. Er brauchte ihre Liebe genauso, wie er sie gebraucht hatte, als er sie zum ersten Mal traf. Er sehnte sich nach ihrer Anerkennung und konnte nicht genug von ihren großen braunen Augen bekommen.
Bei Betsy, der Kellnerin in der Bar gegenüber vom Büro seines Produzenten, war die Hemmschwelle schon deutlich gesunken.
Und dann war da noch Daniella, ein Zigarettenmädchen in Reno. Nur eine einmalige Sache. Es hatte keine Bedeutung.
Und was spielte es für eine Rolle?
Er konnte June immer noch ein guter Ehemann sein. Er konnte pünktlich zu den Aufnahmen im Tonstudio erscheinen. Er konnte vor ausverkauften Sälen spielen, Jung wie Alt bezaubern, den alten Damen zuzwinkern, die mit ihren Ehemännern kamen, um sich mit dem hippen jungen Mann zu amüsieren. June bekam alles, was sie sich erträumt hatten. Sie hatten ihre zwei Waschbecken und gründeten eine große Familie. Und er würde June alles schenken, was sie sich nur vorstellen konnte.
Nur diese eine Sache hatte er für sich.
Doch dann traf er Carol. Die Carols zerstörten alles. Und dass er das im Grunde genau gewusst hatte, machte ihn wahnsinnig. Das alles hatte er schon bei seinem Vater miterlebt.
Er hatte Carol bei einem Auftritt in der Hollywood Bowl kennengelernt, zu dem sie mit einem Studiomanager gekommen war. Sie war klein und zierlich, und dennoch sahen sich alle nach ihr um, wenn sie einen Raum betrat. Eigentlich hatte sie gar nicht zu dem Auftritt kommen wollen, wusste nicht einmal, wer Mick war – was immer seltener vorkam. Sie schüttelte ihm höflich die Hand, und er schenkte ihr sein allerbestes Lächeln und beobachtete, wie sich ebenfalls ein kleines Lächeln auf ihre dünnen rosafarbenen Lippen schlich. So als mühte sie sich, ihn nicht zu mögen, und es gelänge ihr nicht ganz.
Vierzig Minuten später nahm er sie in einer unverschlossenen Limousine, die sie hinter dem Club fanden. Kurz bevor sie beide kamen, schrie sie seinen Namen.
Als sie fertig waren, stand sie auf und verabschiedete sich mit einem »Man sieht sich«. Zehn Minuten später hatte sie sich wieder bei dem Mann eingehakt, mit dem sie gekommen war, und würdigte Mick keines weiteren Blickes.
Mick war niedergeschlagen, er musste sie wiedersehen. Er rief das Büro ihres Agenten an, tauchte vor ihrer Wohnung auf, konnte nicht genug von ihr bekommen. Ihr kühler Charme faszinierte ihn, die Gleichgültigkeit, mit der sie beinahe allem begegnete – auch ihm. Wie sie mit jedem über alles reden konnte, ohne an irgendjemandem Interesse zu zeigen. Nicht einmal an ihm.
Oh Gott , dachte er nach ein paar Wochen. Ich bin dabei, mich zu verlieben.
Sie hatten sich drei Monate lang zu langen Nächten und langen Mittagspausen getroffen, als Carol Mick mitteilte, dass sie schwanger war.
Sie waren sich im Ciro’s begegnet. Mick hatte mit seinem Produzenten zu Abend gegessen, Carol war mit einem anderen Mann dort.
Sie mit einem anderen Mann zu sehen hatte ihn so eifersüchtig gemacht, dass er sie in die Herrentoilette lockte und an Ort und Stelle in einer Kabine nehmen musste.
Als er danach sein Haar glatt strich und sich darauf vorbereitete, die Toilette zu verlassen, richtete Carol ihren Rock und machte sich zurecht. Dann sagte sie: »Ich bin schwanger. Es ist von dir.«
Er sah sie an und hoffte, dass es ein Scherz war, doch das war es eindeutig nicht. Und bevor Mick etwas sagen konnte, ließ sie ihn dort stehen.
Er schloss die Augen, und als er sie wieder öffnete, starrte ihn sein fassungsloses Gesicht aus dem Spiegel an. Du verdammter Idiot! Blitzschnell versetzte er seinem Spiegelbild einen Faustschlag, wobei das Glas splitterte und er sich die Hand aufschnitt.
Nach dieser Nacht sah er Carol nicht wieder. Er schickte ihr Geld, rief sie aber nicht mehr an, zwang sich, nicht mehr an sie zu denken, und hatte seither auch mit keiner anderen Frau geschlafen.
Und nun war er fast ein Jahr später aus seinem eigenen Haus ausgeschlossen. Doch seit dem Augenblick, als er auf den Spiegel eingeschlagen hatte, war ihm klar gewesen, dass ihm das drohte. Vielleicht hatte er es auch schon lange vorher gewusst. Vielleicht hatte er immer gewusst, dass er sich selbst nicht entkommen konnte.
»Junie, es tut mir so leid«, sagte Mick und begann zu weinen. Es war unerträglich, sich selbst so zu hassen, wie er sich in diesem Moment hasste. »Ich habe versucht, das Richtige zu tun, ich schwöre es.«
June ließ sich von dem schwachen Klang seiner Stimme nicht beeindrucken.
Es fiel ihr nicht schwer, ihre Wut aufrechtzuerhalten, und wenn sie doch einmal einzuknicken fürchtete, dachte sie an ihre Schwangerschaft, die sie nun in einem anderen Licht sah. Sie wurde von dem Wissen überschattet, dass eine andere Frau fast gleichzeitig mit ihr ebenfalls ein Kind ihres Mannes ausgetragen hatte. Wie traurig, in diesem Moment nicht die Einzige gewesen zu sein, die ein Kind des eigenen Ehemanns unter dem Herzen trug. Für June war dieses Privileg das Mindeste, was man von einem Mann verlangen konnte.
»Ich war schwach«, flehte Mick sie an. »Ich hatte einen schwachen Moment, ich konnte mich einfach nicht zurückhalten. Aber jetzt bin ich stärker.«
»Ich will dich nicht hier haben«, sagte June unbeirrt. »Ich will dich nicht in der Nähe dieser Kinder haben. Ich möchte nicht, dass die Jungs so werden wie du.«
Sie hatte »Jungs« gesagt. Nicht Junge . Jungs.
»Schätzchen«, sagte Mick. Jetzt wusste er, wie er sie überreden konnte, ihn alles wiedergutmachen zu lassen. »Ich bin Hudsons Vater. Wenn du ihn willst, musst du auch mich nehmen.«
Anschließend schwiegen sie eine Weile, June wusste nicht, was sie tun sollte. Mick wartete mit angehaltenem Atem. Auf keinen Fall wollte sie Mick ein Baby überlassen. Er wusste nicht einmal, wie man eine Windel wechselte. Das Baby brauchte June. Der Junge brauchte eine Mutter. Das wussten sie beide.
June öffnete die Tür, und Mick fiel ins Haus.
»Danke«, sagte er, als ob sie ihn begnadigt hätte. »Ich mache das wieder gut. Von jetzt an werde ich mich immer anständig verhalten.«
In diesem Moment blickte Mick auf und sah, dass Nina aufgewacht und zu ihnen gekommen war.
»Hallo, Schatz«, sagte er zu ihr.
Im Schlafzimmer fingen Jay und Hud gleichzeitig an zu weinen. June schnappte sich Nina und ging zu den Babys. Mick schaute ihr über die Schulter und betrachtete seinen neugeborenen Sohn, den er zum ersten Mal sah.
June ertrug es nicht, Micks Beziehung zu diesem Kind zu erleben, und scheuchte ihn weg.
Als sie mit den Kindern fertig war, ging sie ins Schlafzimmer und sah, dass Mick sich auf die andere Seite der Matratze gelegt hatte, so als ob ihm die linke Seite des Betts noch gehörte.
»Junie, ich liebe dich«, sagte er.
Sie erwiderte nichts.
Doch als June ihn ansah, spürte sie, wie die Müdigkeit sie übermannte. Er würde es ihr nicht leicht machen, er würde nicht aus freien Stücken gehen, sondern es ihr überlassen, ihn anzuschreien und herumzubrüllen, damit er ging. Sie musste gegen ihn wüten, und selbst dann würde sie vielleicht nicht gewinnen.
Die Wut forderte ihren Tribut, und plötzlich war June sehr müde. Sie konnte sich jetzt nicht mit Mick streiten, denn hier und jetzt konnte sie nichts gegen ihn ausrichten.
Und so legte sie sich neben ihn und sparte sich ihre Empörung für das Tageslicht auf, wenn sie klar denken konnte. Über all das würden sie sich auch morgen noch streiten können.
Aber am Morgen hatte ihr Zorn seine Schärfe verloren und war dem Kummer gewichen. Ein dumpfer Schmerz ergriff sie und breitete sich in ihrem gesamten Körper aus wie ein empfindlicher Bluterguss. Sie hatte das Leben verloren, mit dem sie sich beschenkt wähnte. Sie war in Trauer.
Als Mick sich umdrehte und den Arm um sie legte, brachte sie nicht die Kraft auf, ihn abzuwehren.
»Ich verspreche dir, dass das alles vorbei ist«, flüsterte Mick mit Tränen in den Augen. »Ich werde dich nie wieder verletzen. Ich liebe dich, Junie. Von ganzem Herzen. Es tut mir so leid.«
Und weil June seinen Arm nicht weggeschoben hatte, fühlte sich Mick sicher genug, ihren Hals zu küssen. Und da sie diesen kleinen Vorstoß nicht abwehrte, wusste sie nicht, wie sie den größeren abwehren sollte. Und so ging es weiter. Kleine Grenzen zerbrachen wie winzige Zweige, und irgendwann waren es so viele, dass June kaum noch merkte, dass er den ganzen Baum wollte.
Über Micks Annäherungen, als er sie hielt, als er sie küsste, verpasste June den Moment, den Mund aufzumachen, und musste anschließend mit dem Schmerz leben, nichts gesagt zu haben.
Und schon bald zeichnete sich am Horizont eine Lösung ab – die auch June begrüßte, und sei es nur, weil sie die Rückkehr zur Normalität brauchte, auch wenn sie eine Lüge war.
Um Mitternacht in der folgenden Nacht flüsterte Mick June süße Worte ins Ohr. Gegen ihren Willen genoss June das Gefühl seines Atems an ihrem Hals. Und in dem gepressten, leisen Ton, der Geheimnissen vorbehalten ist, besprachen die beiden alles.
Mick würde für immer treu sein, und sie würden Hud wie ihr eigenes Kind aufziehen. Sie würden behaupten, dass Jay und Hud Zwillinge seien. Niemand würde es wagen, das anzuzweifeln. Schließlich waren sie im Begriff, mit Micks zweitem Album gesellschaftlich weiter aufzusteigen. Sie würden neue Freunde haben und wären ab jetzt eine fünfköpfige Familie.
June hatte in jener Nacht das Gefühl, als würden Mick und sie ihre gebrochenen Knochen zusammenflicken. Sie legten einen perfekten Gips an und hofften, dass sie sich eines Tages gar nicht mehr daran erinnern würde, dass sie gebrochen worden war.
Und das Verrückte war: Es funktionierte.
June liebte ihre Kinder, liebte ihr Mädchen und die Zwillingsjungs. Sie liebte ihr Haus am Wasser und genoss es, ihren Kindern beim Spielen am Strand zuzusehen. Es gefiel ihr, wenn die Leute sie mit zwei Säuglingen und einem Kleinkind im Einkaufswagen im Supermarkt ansprachen und sagten: »Sind Sie nicht die Frau von Mick Riva?«
Ihr gefielen das Geld, der Cadillac und die Nerzmäntel. Es gefiel ihr, die Kinder bei ihrer Mutter zu lassen und in einem ihrer schicksten Cocktailkleider bei einigen von Micks Auftritten hinter der Bühne zu stehen.
Sie hörte gern »Für June« im Radio und genoss Micks Aufmerksamkeit, wenn er zu Hause war. Er gab ihr immer das Gefühl, die einzige Frau auf der Welt zu sein, auch wenn sie wusste – und jetzt mit Gewissheit –, dass sie es nicht war.
Trotz des Magengeschwürs, das sie bekam, musste June zugeben, dass sie das alles leichter verdaute als gedacht. Der Wodka half.
Leider konnte Mick sich einfach nicht zurückhalten.
Da war Ruby, die er auf dem Sunset-Gelände kennengelernt hatte. Und dann noch Joy, eine Freundin von Ruby. Sie bedeuteten ihm nichts, und so sah er darin keinen wirklichen Verrat.
Doch dann kam Veronica. Und oh mein Gott , Veronica!
Schwarzes Haar, olivfarbene Haut, grüne Augen und eine perfekte Sanduhrfigur. Trotz aller Versuche, sein Herz herauszuhalten, verliebte er sich aufs Neue. Er verliebte sich in ihr karmesinrotes Lächeln und ihre Vorliebe für Sex im Freien. Er verliebte sich in ihre aufreizenden Kleider und ihren scharfen Verstand, und es gefiel ihm, dass sie sich nicht von ihm einschüchtern ließ und sich über ihn lustig machte. Er verliebte sich in sie, weil sie vielleicht sogar noch berühmter wurde als er selbst, nachdem sie die Hauptrolle in dem Thriller Die Hollywoodschaukel gespielt hatte. Ihr Name prangte in großen Lettern an den Kinos, und dennoch war es sein Name, den sie in der Stille der Nacht rief.
Er konnte nicht genug von Veronica Lowe bekommen.
Und June wusste genau, was vor sich ging.
Als Mick erst um vier Uhr morgens nach Hause kam, als er einen Hauch Lippenstift hinter dem Ohr hatte, als er aufhörte, ihr einen Gutenmorgenkuss zu geben.
Mick begann, mit Veronica essen zu gehen. Manchmal kam er auch gar nicht mehr nach Hause.
June ließ sich die Haare machen und nahm ab, sie demütigte sich sogar so weit, ihre Freundinnen nach Sextipps zu fragen. Sie kochte sein Lieblings-Roastbeef, und in den seltenen Momenten, in denen sie seine Aufmerksamkeit hatte, versuchte sie, ihn dezent an seine väterlichen Pflichten zu erinnern.
Und doch konnte sie ihn nicht von Veronica losreißen.
Mick redete sich ein, er sei nicht wie sein Vater. Sein Vater, der nach Hause gekommen war und nach dem Parfum anderer Frauen gerochen hatte, der wochenlang weg gewesen war und der seine Mutter geschlagen hatte, weil sie zu viele Fragen stellte.
Er redete sich ein, mit June die richtige Frau geheiratet zu haben, denn sie war ganz anders als seine Mutter und hätte seinen Vater zurückgeschlagen. Aber er verlor sich in Veronicas nach Vanille duftendem Haar, in ihrem Lachen, in ihren Beinen. Er war verloren.
Und dann, eines Nachts, als die Jungs zehn und elf Monate alt waren, kam Mick um vier Uhr morgens nach Hause.
Er war betrunken, aber zielstrebig. Als er gegen seinen Nachttisch stieß und den Reisepass herausholte, fiel die Lampe krachend auf den Boden.
June wachte auf und sah ihn dort stehen – mit wirrem Haar und geröteten Augen, die Jacke über den Arm gehängt. In der Hand hielt er einen Koffer.
»Was ist los?«, fragte sie. Aber sie wusste es bereits. So, wie Menschen wissen, dass sie ausgeraubt werden – nämlich in letzter Sekunde.
»Ich fahre mit Veronica nach Paris«, sagte er, drehte sich um und ging zur Tür.
June folgte ihm in ihrem durchsichtigen Nachthemd bis zur Einfahrt. »Das kannst du nicht tun!«, schrie sie. »Du hast gesagt, das würdest du nicht tun!« Sie demütigte sich, indem sie um etwas bettelte, um das sie niemals betteln wollte.
»Ich kann nicht so sein!«, schrie Mick sie an. »Ein Familienmensch oder was auch immer du dachtest. Das bin ich nicht! Ich habe es versucht, okay? Und ich kann das nicht!«
»Mick, nein«, sagte June, als er die Autotür zuschlug. »Verlass uns nicht.«
Aber genau das tat er. June sah zu, wie er den Wagen zurücksetzte. Und dann sackte sie schwer in der Auffahrt zusammen wie ein haltloser Anker.
Mick fuhr zu Veronicas Haus in den Hügeln, wo er, so redete er es sich ein, die Dinge endlich in Ordnung bringen konnte. Mit Veronica würde er es besser machen.
Er war kein guter Mensch. Kein ehrlicher Mensch. So war er auf die Welt gekommen, so war er erzogen worden. Aber eine gute Frau konnte ihn retten. Er hatte gedacht, das sei June, aber jetzt verstand er, dass es Veronica war. Sie
war die Antwort. Seine Liebe zu ihr war stark genug, um ihn zu heilen. Sobald
sich die Lage beruhigt hatte, wollte er seine Kinder anrufen. In ein paar Jahren, wenn sie alt genug waren, würden sie es verstehen.
June weinte eine gefühlte Ewigkeit in der Auffahrt. Sie weinte um sich und ihre Kinder, weinte, weil sie so viele Kompromisse eingegangen war, um ihn zu halten. Weinte, weil es nicht gereicht hatte, um ihn zum Bleiben zu bewegen.
Sie weinte, weil es sie nicht überraschte, dass er gegangen war, sondern nur, dass es jetzt, in diesem Moment, geschah. Und nicht morgen oder in einem Monat oder in zehn Jahren.
Ihre Mutter hatte recht gehabt. Er war eine zu kühne Wahl gewesen, ein zu gut aussehender Mann.
Warum wurden ihr all die Fehler, die sie nicht gesehen hatte, als sie sie beging, jetzt so deutlich vor Augen geführt?
Und dann, für eine kurze Sekunde, brach sie atemlos zusammen, als sie daran dachte, dass sie vielleicht nie mehr ein Mann so berühren könnte wie er, sollte er tatsächlich wegbleiben. Er nahm ihr so viel.
Die Sonne ging auf, und June kam zu Atem. Entschlossen ging sie zurück zum Haus. Sie würde sich davon nicht unterkriegen lassen, nicht vor den Augen der Kinder.
Sie trat in die Küche und legte zwei kalte Löffel auf ihre Augenlider, um die Schwellung zu lindern. Doch als sie in der Seite des Toasters ihr Spiegelbild entdeckte, sah sie genauso schrecklich aus wie befürchtet.
June schenkte sich ein Glas Orangensaft ein und kippte einen Schluck vom Wodka hinein, den sie im Schrank aufbewahrte. Sie strich ihr Haar glatt und versuchte, sich einen Rest Würde zu bewahren.
»Wo ist Daddy?«, fragte Nina, die in der Tür stand.
»Dein Vater versteht es nicht, sich wie ein Mann zu benehmen«, sagte June und ging an ihr vorbei. Sie schnappte sich Micks Platten vom Plattenspieler und warf sie in den Müll, wobei sein selbstsicheres Gesicht zu ihr hochstarrte.
Sie schüttete den Rest aus dem Orangensaftkarton über alles. »Wascht euch die Hände und macht euch fürs Frühstück fertig.«
June und ihre drei Kinder aßen Eier und Toast, dann ging sie mit ihnen an den Strand und verbrachte den Tag mit ihnen im Wasser. Nina zeigte June, dass sie das ganze Alphabet singen konnte. Jay und Hudson hatten beide angefangen zu krabbeln. Um die Mittagszeit kam Christina mit Thunfischsandwiches vorbei, und June nahm sie zur Seite.
»Er ist weg, Mama«, sagte sie. »Er ist weg.«
Christina schloss die Augen und schüttelte den Kopf. »Er wird zurückkommen, Schatz«, sagte sie schließlich. »Und wenn er zurückkommt, musst du entscheiden, was du tun willst.«
June nickte erleichtert. »Und wenn nicht?«, fragte sie leise und konnte es kaum ertragen, ihre Stimme zu hören.
»Dann eben nicht«, sagte Christina. »Und du hast mich und deinen Vater.«
June atmete durch und sah ihre Kinder an. Nina baute gerade eine Sandburg. Jay schob sich eine Handvoll Sand in den Mund. Hudson schlief unter dem Sonnenschirm.
Ich werde über das hier hinauswachsen , dachte June bei sich. Ich bin mehr als nur eine Frau, die er verlassen hat.
Doch als in jener Nacht die Lichter erloschen und sie alle in ihren Betten lagen und an die Decke starrten, wusste June, dass sie, Nina, Jay und Hudson alle etwas verloren hatten. Von nun an lebten alle vier mit einem unterschiedlich großen Loch in ihren Herzen.
Nina stand in der überfüllten Küche, während drei Köche den überdimensionalen Grill und die beiden Fritteusen bedienten. Ruhig begann sie mit ihrer wohl wichtigsten Aufgabe bei Riva’s. Sie schnappte sich einige Handvoll frittierte Muscheln, eine Schüssel mit kalten Garnelen, eine Flasche Remoulade, drei Scheiben Käse und vier Brötchen. Dann begann sie, für ihre Geschwister das zu machen, was sie alle »das Sandwich« nannten.
Kalte Meeresfrüchte in Brot. Eins für jeden, ihres ohne Käse, Jays mit extra Soße, Huds ohne Muscheln, Kits mit einer Zitronenspalte.
Ohne Nina gäbe es das Sandwich nicht. Wenn Nina krank war, kam sie trotzdem und bereitete es zu. Wenn sie wegen eines Shootings nicht in der Stadt war, aß keiner das Sandwich. Es wäre Jay, Hud oder Kit nie in den Sinn gekommen, das Sandwich selbst zu machen oder Nina damit zu versorgen.
Nina machte das nichts aus. Sie kümmerte sich um ihre Geschwister, und die dankten es ihr und liebten sie dafür, und dabei beließen sie es.
Als die Sandwiches fertig waren, schnappte sich Nina vier Bögen Pergamentpapier und vier rote Körbchen. In jedes legte sie ein Brötchen und füllte den übrigen Platz mit Pommes frites. Bis auf ihres, das sie mit gesalzenen Tomatenscheiben füllte.
Sie sah auf ihre Armbanduhr. Ihre Geschwister waren spät dran.
»Heute Abend ist Party, stimmt’s?«
Nina blickte auf und sah Wendy in die Küche kommen. Wendy war eine aufstrebende Schauspielerin, die zwischen den Vorsprechterminen in Hollywood bei Riva’s Seafood jobbte. Bisher hatte sie eine Rolle in mehreren Folgen einer Seifenoper gehabt und in einem Musikvideo mitgewirkt.
»Ja«, sagte Nina. Sie mochte Wendy. Wendy erschien immer pünktlich zur Arbeit, war freundlich zu den Gästen und vergaß nie, den Getränkespender zu reinigen. »Kommst du?«
Wendy hob eine Augenbraue. »Denkst du im Ernst, das würde ich mir entgehen lassen? Die Riva-Party ist jedes Jahr die einzige Party, bei der man wirklich nicht weiß, was man am Ende treibt.«
Nina rollte mit den Augen. »Oh Gott«, sagte sie. »Bei dir klingt das so …«
»Krass?«, bot Wendy an.
Nina lachte wieder. »Genau, krass.«
»Ich komme und bringe Partylaune mit.«
»Ich komme übrigens auch!«, rief Ramon von der Fritteuse.
Nina lachte und verteilte die gebratenen Muscheln auf den Brötchen. »Das glaube ich erst, wenn ich es sehe«, sagte sie zu ihm.
»Psssh.« Er winkte ab und holte zwei Körbe mit Garnelen aus der Fritteuse. »Du weißt, dass ich ein Leben habe. Ich kann nicht auf irgendeine Reiche-Schnösel-Party gehen und meine Zeit mit irgendwelchen berühmten Arschlöchern verschwenden. Nichts für ungut.«
»Nichts anderes hab ich von dir erwartet«, sagte Nina. Sie war ziemlich sicher, dass Ramon einer der wenigen war, die die Einladung zur jährlichen Riva-Party nicht als einen Vorteil ihres Jobs ansahen.
Inzwischen war sie überzeugt, dass der junge Kerl, der einen der Grills bediente, Kyle Manheim, ein hiesiger Surfer, der gerade die Highschool abgeschlossen hatte, den Job in diesem Sommer nur wegen der Einladung angenommen hatte. Sie ahnte schon, dass er nächste Woche kündigen würde.
»Wo sind deine Taugenichtse von Geschwistern?«, fragte Ramon. Und genau in dem Moment ließ Kyle einen gegrillten Käse in Flammen aufgehen. In der Küche brach kontrolliertes Chaos aus, und Nina stellte die Körbe mit den Sandwiches auf ein Tablett, schlich sich hinaus und machte sich auf den Weg zum Pausenraum im hinteren Bereich.
Nina setzte sich und nahm eine Zeitschrift vom Schreibtisch hinter sich in die Hand. Newslife. Sie blätterte durch die Seiten. Reagan und russische Dissidenten, MTV verdirbt die Kinder, und sollte sie sich einen Videodisc-Player kaufen?
Es gab Anzeigen für den Chevy Malibu und Malibu-Coconut-Rum und Malibu-Musk-Körperspray. Nina fragte sich zum millionsten Mal, warum jeder Außenstehende dachte, dass der Ort etwas Exotisches und übernatürlich Cooles an sich hatte, als wäre er ein sonnengebleichtes Utopia.
Klar, vielleicht spielte der Nachbar in ein paar Filmen mit, aber in Malibu lebte man wie woanders auch. Man putzte sich die Zähne, ließ das Abendessen anbrennen und erledigte Besorgungen, nur mit dem Blick auf den Pazifik. Jemand sollte ihnen sagen , dass es das Paradies nicht gibt .
Dann blätterte sie eine Seite weiter und sah ihren Ehemann vor sich. Schon wieder. »BranRan und Carrie Soto: Spiel, Satz, Sieg.« Würg!
Angewidert legte Nina die Illustrierte weg. Dann nahm sie sie wieder zur Hand und las den Artikel noch mal. Überall auf den Seiten waren Fotos von Brandon und Carrie abgebildet. Wie sie am Rodeo in einen silbernen Porsche einstiegen, wie sie in einen Country Club in Bel Air gingen.
Die Fotos verfolgten sie. Nicht weil Brandon mit Carrie glücklich aussah. Obwohl er das tat. Und es lag auch nicht daran, dass er mit Carrie anders aussah – auch wenn das ebenfalls zutraf. Brandon hatte seine T-Shirts durch Polohemden ersetzt, seine Bootsschuhe durch Loafer.
Aber nein. Nina fühlte sich verfolgt, weil ihr das alles so vertraut vorkam. Vor langer Zeit hatte sie ihre Mutter dabei beobachtet, wie sie Illustrierte mit Bildern ihres Vaters und seiner neuen Frau durchblätterte.
»Wir sind da!«, rief Hud, noch bevor sie durch die Tür traten.
Nina stand auf und umarmte ihre Geschwister.
»Tut mir leid, dass wir zu spät sind«, sagte Kit.
»Schon okay«, erwiderte Nina.
»Es war Jays Schuld«, fügte Kit hinzu.
»Wir sind doch kaum zu spät«, widersprach Jay, als er auf die Uhr an der Rückwand schaute. Es war 12:23 Uhr.
Sie setzten sich zu viert an den Tisch, und Kit machte sich sofort über ihre Pommes frites her. Nina wusste, dass sie inzwischen kalt sein mussten, aber sie schätzte es, dass keines ihrer Geschwister es erwähnte.
»Also, wie läuft es mit der Party?«, fragte Kit und steckte sich eine Pommes in den Mund. »Sollen wir noch was tun?«
Nina nahm eine Tomatenscheibe. Gott, sie wollte auch Pommes frites. »Nein«, sagte sie kopfschüttelnd. »Es ist alles geregelt. In ein paar Stunden treffe ich mich mit dem Reinigungsteam im Haus. Die Caterer kommen um fünf. Die Barkeeper sollten um … sechs da sein, glaube ich? Die Party beginnt um sieben, aber die Leute werden vermutlich so gegen halb acht eintrudeln. Ich habe alles im Griff.«
Jay schüttelte den Kopf. »Es ist so anders als früher.«
Hud lachte beim Kauen. Er wischte sich den Mund ab und schluckte. »Du meinst, als Nina das Haus geputzt und Kit die Schüsseln mit den Brezeln verteilt hat …«
»Und wir zwei haben Hank Wegman im Spirituosenladen überredet, uns drei Fässer zu verkaufen«, sagte Jay. »Ja, genau das meine ich.«
»Übrigens, ich beschränke mich dieses Jahr hauptsächlich auf Bier und Wein«, sagte Nina. »Ich meine, natürlich wird es an der Bar auch Alkohol für Cocktails geben, aber ich will es nicht übertreiben. Ich will nicht, dass wieder jemand denkt, es wäre eine gute Idee, von meinem Balkon in den Pool zu springen.«
»Oh mein Gott!« Kit lachte. »Jordan Walkers Nase sieht immer noch furchtbar aus! Erinnert ihr euch an den Film Ewiger Schwur ? Jedes Mal, wenn er auf der Leinwand erschien, sah er aus, als hätte er Knetmasse im Gesicht.«
Hud lachte.
»Aber das lag nicht daran, dass er Whisky getrunken hat«, sagte Jay. »Der Typ war auf Pilzen.«
»Trotzdem«, beharrte Nina. »Der Caterer hat gesagt, Bier und Wein sind sowieso cooler.«
»Ja, alles klar.« Jay warf Hud einen kurzen Blick zu, und in einer Nanosekunde war klar, dass sie zum Getränkeladen fahren und die Bar nach ihren Wünschen ausstatten würden.
»Leute, was ist, wenn Goldie dieses Jahr kommt?«, fragte Hud.
Jay schüttelte den Kopf. Nina lächelte.
»Hör auf.« Kit lachte. »Du kannst sie nicht Goldie nennen – du kennst sie doch gar nicht.«
»Klar kenne ich sie.«
»Dass du im Supermarkt hinter ihr gestanden hast, heißt nicht, dass du sie kennst. Nenn sie einfach Goldie Hawn, wie alle anderen auch«, sagte Kit.
»Ich habe ihr meinen Korb geliehen!«, insistierte Hud. »Sie hatte nämlich alle Hände voll mit den Kindern zu tun. Und sie hat gesagt: ›Hallo, ich bin Goldie!‹«
Nina, Jay und Kit sahen sich an und überlegten, ob sie ihm glauben sollten oder nicht.
»Ich habe nicht gehört, dass Goldie Hawn kommt«, sagte Nina diplomatisch. »Aber ich glaube, Ted Travis kommt wieder.«
Kit lächelte und rieb sich aufgeregt die Hände. »Ja!«
Ted Travis wohnte vier Straßen weiter in einem Haus, das die Form eines Doughnuts hatte, mit einer Bambusbar und einer Grotte in der Mitte. Kit und ihre beste Freundin Vanessa verpassten keine Folge seiner Serie Cool Nights , in der es um einen Polizisten in Orange County ging, der mit den Frauen anderer Männer schlief und Morde in Blazer und Badehose aufklärte. »Letzte Woche ist er auf Wasserskiern über zwei Schnellboote gesprungen, und Van und ich wollten ihn dazu was fragen.«
»Kommt Vanessa heute Abend?«, fragte Nina. »Du hast gesagt, dass sie vielleicht mit ihrer Familie nach San Diego fahren muss.«
»Nein, sie kommt«, antwortete Kit. Vanessa war in Hud verliebt, seit Kit und Vanessa dreizehn gewesen waren. Kit wusste also, dass sie keine Gelegenheit verpasste, um in seiner Nähe zu sein. Kit gab zwar die Hoffnung nicht auf, dass die Verliebtheit irgendwann nachlassen würde, aber das hatte sie bisher nicht getan. Und dass Hud so nett zu ihr war, machte die Sache auch nicht besser.
»Aber wen wundert’s, dass Ted kommt?«, fragte Jay. »Er lässt keine Gelegenheit aus, sich an Nina heranzumachen.«
Nina verdrehte die Augen. »Ted ist alt genug, um unser Vater zu sein«, erwiderte sie und stand auf, um eine Serviette vom Tresen zu holen. »Und außerdem will ich mir gar nicht vorstellen, dass mich einer anmacht. Mir ist in letzter Zeit nicht nach Flirten.«
»Ach komm schon«, sagte Jay.
»Vielleicht lässt du es einfach«, bot Hud an.
»Lässt du dir von einem Tennis-Arsch die Laune verderben?« Jay sah Nina in die Augen. »Der Typ ist ein Vollidiot, und tut mir leid, aber seine Rückhand ist beschissen. Und das fand ich schon immer. Auch als ich ihn noch mochte.«
»Ich finde«, sagte Kit, »Jay hat irgendwie recht. Dürfen wir jetzt auch erwähnen, dass er eine Glatze bekommt?«
Darüber musste Nina lachen. Hud fing ihren Blick auf und lachte mit ihr.
»Er bekommt wirklich eine Glatze«, sagte Nina. »Was in Ordnung wäre, wenn er es merken würde. Aber er hat keine Ahnung! Es fing oben auf seinem Kopf an, und er trägt diese Sonnenvisiere …«
»Mit denen er noch kahler aussieht«, bemerkte Jay trocken. »Warum hast du ihn diese Visiere tragen lassen?«
»Ich wusste nicht, wie ich ihm sagen sollte, dass er eine Glatze bekommt!«
Kit schüttelte den Kopf. »Das ist brutal. Du hast ihn mit der kahlen Stelle auf dem Kopf aus dem Haus und ins nationale Fernsehen gehen lassen.«
Alle fingen an zu lachen. Sie schütteten sich über die Vorstellung aus, wie Brandon Randall auf ESPN ungewollt seine werdende Glatze präsentierte.
Das konnten sie gut, damit hatten sie Erfahrung. So schafften sie es, die Menschen zu vergessen, die ihnen den Rücken zugekehrt hatten.
»Wenigstens ist das jetzt Carrie Sotos Problem«, sagte Nina. »Soll sie sich doch überlegen, wie sie es ihm sagt.«
Wer von einem Idioten abserviert wird, braucht sich wenigstens nicht mehr mit ihm herumzuplagen. Sollte man zumindest meinen.