1962

Im Sommer 1962 kam Micks Leben ins Gleichgewicht. Er hatte eine Tourpause eingelegt, seine neue Schallplatte war bereits aufgenommen, und er war wieder bei seiner Familie eingezogen.

Jeden Tag wachte er mit dem befriedigenden Gefühl auf, der Mann zu sein, der er sein wollte. Er bezahlte die Rechnungen und kaufte June und den Kindern, was das Herz begehrte. Er führte June zu romantischen Abendessen aus und las seinen Jungs Geschichten von Helden und Soldaten vor.

Nur seine Tochter zeigte sich ihm gegenüber etwas zurückhaltend.

Nina ließ sich von Mick nicht so bezaubern wie June und sehnte sich nicht so sehr nach seiner Gegenwart wie die Jungs. Aber Mick war entschlossen, sie für sich zu gewinnen. Er kitzelte sie im Wohnzimmer durch und bot ihr an, sie nachts in den Schlaf zu singen. Er briet ihr Cheeseburger auf dem Grill und baute ihr am Strand Sandburgen. Eines Tages würde sie auftauen.

Eines Tages, so glaubte er, würde Nina begreifen, dass er nie wieder gehen würde.

»Heirate mich, Junie. Noch einmal, diesmal für immer«, sagte Mick in der Dunkelheit zu ihr, nachdem sie sich in aller Stille geliebt hatten, während der Rest des Hauses schlief.

»Ich dachte, letztes Mal war es für immer«, erwiderte June halb im Scherz. Sie war noch wütend, aber überglücklich, dass er sie fragte.

»Beim ersten Mal war ich ein Junge, der so getan hat, als wäre er ein Mann. Aber jetzt bin ich ein Mann. Die Lage hat sich geändert«, sagte Mick und zog sie an sich. »Das weißt du doch, oder?«

»Ja«, sagte June. Sie merkte es daran, wie er ihre Nähe suchte, nie lange ausblieb, morgens eine halbe Kanne Kaffee trank, um mit den Kindern aufzustehen, und abends fast keinen Alkohol.

»Willst du diesen neuen Mann heiraten?«, fragte er und strich ihr das Haar aus dem Gesicht.

June musste gegen ihren Willen lächeln und gab ihm die Antwort, von der beide wussten, dass sie nie wirklich in Zweifel gestanden hatte. »Ja«, sagte sie. »Ich will.«


Im September heirateten June und Mick im Gerichtsgebäude von Beverly Hills in Begleitung ihrer Kinder. June in einem blassblauen Etuikleid mit weißen Handschuhen und drei kurzen Perlenketten um den Hals. Mick wie üblich in Schwarz. Als der Richter die beiden erneut für verheiratet erklärte, nahm Mick June in den Arm, bog sie nach hinten und drückte ihr einen Kuss auf die Lippen. Theo, Christina und die Kinder sahen zu, wie June von ganzem Herzen lachte, so sehr freute sie sich, ihm erneut ihre Seele geschenkt zu haben.

»Sei der Mann, als der du dich uns präsentiert hast«, sagte Christina direkt nach der Trauung zu ihm.

»Dieser Mann bin ich jetzt«, antwortete Mick. »Das verspreche ich dir. Ich verspreche, ihr nie wieder so etwas anzutun.«

»Ihnen«, korrigierte Christina. »Tu ihnen nie wieder so etwas an.«

Mick nickte. »Glaub mir«, sagte er. »Ich verspreche es.«

Als die Familie das Gerichtsgebäude verließ, zwinkerte Mick Nina zu und ergriff ihre Hand. Sie lächelte nur ein klein wenig in ihrem lavendelfarbenen Kleid, also hob er sie hoch und lief mit ihr über den Parkplatz.

»Nina, meine Nina! Schöner als eine Ballerina«, sang er ihr vor, und als er sie absetzte, lachte sie.

Anschließend fuhren Mick und June nicht in die Flitterwochen, sondern nach Hause an den Strand. Sie verabschiedeten sich von Theo und Christina, June wärmte zum Abendessen einen Auflauf auf, und Mick brachte die Kinder ins Bett.

June zog ihr Kleid aus und hängte es in einem Plastikkleidersack in den Schrank, weil sie davon träumte, es eines Tages ihrer Tochter zu schenken. Es war ein physischer Beweis für zweite Chancen.

Noch ehe das Jahr zu Ende ging, war June schwanger. Und als Katherine Elizabeth Riva geboren wurde, war Mick so lange geblieben und so vernarrt in sie, dass er sogar die kleine, misstrauische Nina für sich gewonnen hatte.

»Ich weiß gar nicht mehr, wann du weg warst«, sagte Nina eines Abends zu ihm, als er sie ins Bett brachte, bevor er zu ein paar Auftritten in Palm Springs aufbrach. Sein neues Album stand kurz vor der Veröffentlichung, er war zurück im Rampenlicht, und sein PR-Team verbreitete die Geschichte seiner Läuterung. »Der Frauenheld wird zum Familienmenschen«. Er trug seinen schwarzen Anzug, das Haar war glatt nach hinten gekämmt und zeigte seinen V-förmigen Haaransatz. Er roch nach Pomade.

»Ich erinnere mich auch nicht daran, Schatz.« Mick küsste sie auf die Stirn. »Und über solche Dinge müssen wir uns nie wieder Gedanken machen.«

»Ich hab dich so lieb«, sagte Nina und breitete weit die Arme aus.

Mick steckte die Decke um sie fest. »Ich hab dich doppelt so lieb.«

Nina war jetzt mit ganzem Herzen dabei, wie es nur Menschen sind, die verletzt wurden und gelernt haben, wieder zu vertrauen. Es ist, als entdeckte man erst mit einem gebrochenen Herzen, welch tiefe Reserven es in sich trägt. Und diese Reserven hatte sie diesmal aufgegeben.

Ihr Vater war hier, und er blieb und liebte sie. Sie war sein Mädchen, sein »Nina-Baby«. Und hin und wieder, wenn Mick emotional war, nahm er sie in den Arm und gestand ihr die Wahrheit: Sie war sein Lieblingskind .

In der Geborgenheit dieser Liebe blühte Nina auf. Sie sang mit Mick zusammen seine Lieder. »Ein warmer Juni voller Sonnenschein …«, sangen sie gemeinsam. »Lange Tage und mondhelle Nächte …«

Nina war fasziniert von seiner Stimme, von seinen Krawatten, von dem Glanz seiner Schuhe, und wollte ihren Freundinnen in der Schule unbedingt erzählen, wer ihr Vater war. Sie war stolz darauf, dass sie seine langen, vollen Wimpern geerbt hatte. Manchmal starrte sie ihn an, wenn er die Zeitung las, und beobachtete, wie er blinzelte.

»Hör auf, mich anzustarren, Schätzchen«, sagte Mick, ohne den Blick von der Zeitung zu lösen.

»Okay«, erwiderte Nina und machte etwas anderes.

Ihre Zuneigung war so unbelastet, ihre Seelen so verbunden, dass sie sich nicht von ihm zurückgewiesen fühlen konnte.

Ab und zu weckte Mick Nina in den frühen Morgenstunden, bevor alle anderen wach waren, um bei Sonnenaufgang einen Drachen steigen zu lassen. Manchmal war Mick frisch und sauber, hatte gerade geduscht und sich rasiert. Ein anderes Mal kam er von einem Auftritt nach Hause, noch leicht angetrunken und mit einem säuerlichen Geruch. Doch in welchem Zustand er auch war, er setzte sich sanft auf Ninas Bettkante und sagte: »Wach auf, Nina-Baby. Es ist ein windiger Tag.«

Nina stieg aus dem Bett, zog eine Strickjacke über ihr Nachthemd, und die beiden gingen hinunter, unter das Haus an den Strand.

Es war immer früh genug, dass fast niemand anders da war. Nur die beiden teilten die Morgendämmerung.

Der Drachen war rot mit einem Regenbogen in der Mitte, so leuchtend, dass man ihn sogar im Nebel sehen konnte. Mick ließ ihn in den Himmel steigen und hielt ihn fest. Er tat so, als könnte er ihn kaum halten, und rief: »Nina-Baby! Ich brauche deine Hilfe. Bitte! Du musst den Drachen retten!«

Sie wusste, dass er nur so tat, aber sie genoss es trotzdem und griff mit aller Kraft nach der Schnur. Wenn sie den Drachen festhielt, fühlte sie sich stark, stärker als ihr Vater, stärker als irgendjemand auf der Welt.

Der Drache brauchte sie und ihr Vater ebenso. Oh, wie gut es war, wichtig für jemanden zu sein, gebraucht zu werden, wie sie von ihm.

»Du hast es geschafft!«, sagte er immer, wenn der Drachen in ihren Händen wippte. »Du hast den Tag gerettet!« Er nahm sie in seine Arme, und Nina wusste tief in ihrem Inneren, dass ihr Vater sie niemals wieder verlassen würde.


Ein Jahr später trat Mick Riva in Atlantic City auf, als eine Backgroundsängerin namens Cherry hereinkam.

Und er kehrte nie mehr nach Hause zurück.

 

 


14:00 Uhr

Die vier Rivas saßen rittlings auf ihren Brettern im Meer, alle in einer Reihe wie Vögel auf einem Draht. Und dann, als sich die Wellen brachen, standen sie einer nach dem anderen auf.

Jay, Hud, Kit, Nina. Ein rotierendes Team mit Jay als selbst ernanntem Anführer. Sie zogen aneinander vorbei und paddelten gemeinsam zurück, und wenn eine Welle zu weit ans Ufer trug, arbeiteten sie sich zurück zur Vierergruppe.

Die erste Welle in einer großartigen Gruppe kam, und Jay war bereit. Er brachte sich in Position, sprang auf sein Brett, und dann tauchte wie aus dem Nichts Kit auf, schnitt ihm den Weg ab und klaute ihm die Welle.

Sie grinste und hielt dabei den schwesterlichen Mittelfinger hoch. Hud sah mit offenem Mund zu.

Kit wusste, dass man eine Welle nur von jemandem klauen konnte, von dem man sicher war, dass er einen nicht verprügelte. Denn so schöne Wellen waren selten. Das war das Problem mit dem Wasser: Man konnte es nicht kontrollieren. Man war der Natur hilflos ausgeliefert. Das machte das Surfen zu mehr als nur einem Sport: Man musste das Schicksal auf seiner Seite haben, der Ozean musste einem wohlgesinnt sein.

Wenn man also eine krasse Welle bekam wie die, die Jay für seine hielt – brusthoch, sehr steil, die schnell und sauber bricht –, war das nicht nur ein Volltreffer, sondern der Jack-
pot.

»Was zum Teufel!«, rief Jay, nachdem er schnell ausgewichen war, damit sie nicht zusammenstießen. Er hielt sich an den Kanten seines Boards fest, um das Tempo zu drosseln, hing im Wasser und sah zu, wie seine kleine Schwester die Welle hinunterfuhr, bis diese sie langsam losließ, als würde die Gondel eines Riesenrads sie unten absetzen.

Sie legte sich bäuchlings auf das Brett und paddelte auf Jay zu.

»So einen Scheiß kannst du wirklich nicht mehr bringen«, rief er ihr zu, während Kit erneut hinauspaddelte.

»Ups«, erwiderte sie lächelnd.

»Ernsthaft. Hör auf damit. Es wird sich noch jemand verletzen«, fuhr Jay fort. »Ich merke doch nicht immer, ob du mich gleich überfällst.«

»Ich habe alles im Griff«, erwiderte Kit. »Du brauchst mir keinen Platz zu machen. Ich kann das.« Er begriff es einfach nicht, oder? Wie gut sie war.

Aber Hud sah es. Ihr Selbstvertrauen, ihre Selbstbeherrschung, ihren Komplex.

»Kit, ich bin echt sauer auf dich«, sagte Jay. »Entschuldige dich wenigstens.«

Hud nahm eine Welle mit und sprang ab, als alles zusammenfiel. Als er wieder aus dem Wasser auftauchte, sah er Jay und Kit, die sich auf ihren Brettern zankten. Er entdeckte Nina, die aus dem Meer kam, und beobachtete, wie sie mit ihrem Brett zum Schuppen zurückging. Sie erklomm die steile Treppe, die zu ihrem Haus führte.

Sie ging nach oben, um das Reinigungspersonal zu begrüßen. Sie würde ihnen allen ein Glas Wasser oder Eistee anbieten. Falls einer von ihnen einen Teller oder eine Vase zerbrach, falls sie ein Zimmer vergaßen oder die Betten nicht so machten, wie Nina es wünschte, würde sie ihnen trotzdem ausgiebig danken. Sie würde ihnen zu viel Trinkgeld geben. Und dann würde sie es selbst in Ordnung bringen.

Das machte Hud traurig. Dass Nina sich verlor, weil sie die Bedürfnisse anderer immer wichtiger nahm als ihre eigenen. Klar, Hud versuchte auch, auf die Bedürfnisse anderer Rücksicht zu nehmen. Aber manchmal war er auch egoistisch. Das war normal.

Aber Nina sagte nie Nein, stand niemandem im Weg und nahm nie etwas an. Wenn man ihr fünf Dollar bot, gab sie einem zehn. Eigentlich sollte er das an ihr mögen, aber das tat er nicht. Er mochte es ganz und gar nicht.

Hud hob sich über eine sanfte Welle, die ihn und sein Brett antrieb, und paddelte hinaus zu Jay. »Nina ist reingegangen«, sagte Hud. »Wegen der Putzfirma.«

Jay verdrehte die Augen. »Herrgott! Wäre es denn so schlimm für sie, ein bisschen zu leben?«