1971

June trank morgens Screwdrivers wie andere Leute Orangensaft. Zum Mittagessen trank sie im Pausenraum Cape Codders.

Zum Abendessen gab es Sea Breezes, während sie mit den Kindern am Tisch saß und Hackbraten oder ein Brathähnchen aß. Die Becher auf dem Tisch waren immer dieselben. Milch für Kit, Limonade für Jay und Hud, Wasser für Nina und ein Highballglas Wodka gemischt mit rubinrotem Grapefruit- und Cranberrysaft auf Eis für Mom.

Seit sie im Vorjahr evakuiert werden mussten, bemerkte Nina den Alkohol. In den Canyons waren Feuer ausgebrochen, Häuser brannten, und man roch den Rauch in der Luft.

June weckte sie früh am Morgen und sagte ihnen ruhig, aber bestimmt, dass jeder die Dinge mitnehmen solle, ohne die er auf keinen Fall leben könne.

Jedes Kind bat darum, die Surfbretter auf dem Autodach zu befestigen. Kit brachte ihre Kuscheltiere. Jay und Hud nahmen ihre Comics und Baseballkarten mit. Nina packte ihre Lieblingsjeans und ein paar Schallplatten ein. June die Familienalben. Doch als sie alle ins Auto stiegen, bemerkte Nina, dass June auch den Wodka mitgenommen hatte.

Als sie Tage später in ihr Haus zurückkehrten, das bis auf etwas Ruß auf der Arbeitsplatte unversehrt geblieben war, bemerkte Nina, dass sich in der Handtasche ihrer Mutter eine neue, vollere Wodkaflasche befand. Nina beobachtete, wie June sie als Allererstes in den Gefrierschrank schob.

In jenen Tagen fing June an, im Nachthemd mit Lockenwicklern im Haar auf der Couch einzuschlafen. Wenn sie den Abend mit der Flasche vor dem Fernseher verbracht hatte, schaffte sie es nicht mehr bis ins Schlafzimmer.

Aber sie behielt ihren Charme und Witz. Und ihr Lächeln. Sie brachte die Kinder pünktlich zur Schule, erschien zu jedem ihrer Theaterstücke und Spiele. Sie nähte ihre Halloween-Kostüme selbst, führte das Restaurant gewissenhaft und bezahlte das Küchen- und Servicepersonal gut.

Es war der Beginn einer Lektion, die ihre Kinder auswendig lernen sollten: Alkoholismus ist eine Krankheit mit vielen Gesichtern, und einige von ihnen sehen wunderschön aus.


Christina starb im Herbst 1971 im Alter von einundsechzig Jahren an einem Schlaganfall.

June sah zu, wie die Krankenschwestern den Leichnam ihrer Mutter fortbrachten. Als sie dort im Krankenhaus stand, hatte June das Gefühl, von einem Sog erfasst zu werden. Wie war sie hier gelandet? Eine Frau, allein mit vier Kindern und einem Restaurant, das sie nie gewollt hatte.

Am Tag nach der Beerdigung brachte June die Kinder zur Schule. Sie setzte Kit an der Grundschule ab und fuhr dann Nina, Jay und Hud zur Junior High.

Als sie in der Anfahrtsschleife hielten, liefen Jay und Hud sofort los, doch Nina drehte sich mit der Hand auf dem Türgriff zu ihrer Mutter um.

»Bist du sicher, dass es dir gut geht?«, fragte Nina. »Ich könnte zu Hause bleiben, dir im Restaurant helfen.«

»Nein, Schatz«, sagte June und nahm die Hand ihrer Tochter. »Wenn du Lust hast, in die Schule zu gehen, dann solltest du das auch tun.«

»Okay«, sagte Nina. »Aber wenn du mich brauchst, holst du mich.«

»Wie wäre es andersherum?«, fragte June und lächelte. »Wenn du mich brauchst, soll das Büro mich anrufen.«

Nina lächelte. »Okay.«

June spürte, dass ihr die Tränen kamen, also setzte sie ihre Sonnenbrille auf und verließ den Parkplatz. Mit offenem Fenster fuhr sie zu Pacific Fish, parkte und zog die Handbremse an. Sie atmete tief durch, stieg aus dem Wagen und starrte auf das Restaurant. Was hatte sie alles geerbt? Es gehörte ihr jetzt, was immer das auch bedeutete.

Sie zündete sich eine Zigarette an.

Dieses gottverdammte Restaurant hatte sie seit dem Tag ihrer Geburt in Beschlag genommen, und jetzt begriff sie, dass sie ihm niemals entkommen würde.

Einige der Lampen an dem Schild waren kaputt. Die Außenfassade musste gereinigt werden. Das lag jetzt allein in ihrer Hand. Sie war die Letzte, die dem Restaurant geblieben war. Vielleicht war es auch das Letzte, was ihr noch geblieben war.

June lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Motorhaube ihres Wagens, rauchte weiter und dachte über die neue Form ihres Lebens nach.

Sie war überarbeitet, übermüdet und einsam. Sie vermisste die Eltern, die sie nie wirklich verstanden hatten, den Mann, der sie nie wirklich geliebt hatte, die Zukunft, von der sie früher noch glaubte, sie sich aufgebaut zu haben. Sie vermisste das junge Mädchen, das sie einst gewesen war.

Doch dann dachte sie an ihre Kinder. Ihre anstrengenden, strahlenden Kinder. Wenn das Leben ihr diese vier beschert hatte, musste sie etwas richtig gemacht haben. Zumindest das schien ihr sonnenklar zu sein.

Vielleicht hatte sie ja doch etwas aus ihrem Leben gemacht. Vielleicht schaffte sie es, auch aus dem etwas zu machen, was davon übrig war.

June warf ihre Kippe auf den Boden und drückte sie mit der Spitze ihres schwarzen Ballerinaschuhs aus. Und dann, als sie zum Pacific-Fish-Schild hinaufblickte, kam June Riva eine verwegene Idee. Sie hatte für ihren Namen einiges durchlitten und auf sich genommen – war es nicht ihr Recht, damit zu tun, was sie wollte?

Zwei Wochen später kamen drei Männer und montierten das neue Schild. Leuchtend rote Lettern in Kursivschrift: RIVA’S SEAFOOD.

Als es hing, stand June in der Eingangstür und betrachtete es. Sie trank Wodka aus einem Limonadenglas und lächelte zufrieden.

Das würde eine Menge mehr Gäste anlocken. Es könnte ihr sogar etwas Presse einbringen. Aber noch wichtiger war, dass es Mick gefallen würde, wenn er endlich zurückkam. Dessen war sich June sicher.


Bald begriffen auch Jay und Hud, dass ihre Mutter Alkoholikerin war – auch wenn sie das Wort dafür weder kannten noch überhaupt wussten, dass es ein Wort dafür gab.

Morgens war ihre Mom zwar immer müde und schlapp, aber bei klarem Verstand. Im Laufe des Tages wurde sie dann zunehmend wirr. Als June einmal zu Jay gesagt hatte, er solle »baden und duschen gehen«, flüsterte Jay Hud zu: »Nach dem Abendessen wird Mom verrückt.«

Ab sechs Uhr abends ignorierten die Kinder sie. Aber sie versuchten auch, sie im Haus zu halten, damit sie sie nicht in der Öffentlichkeit blamierte. Nina hatte so getan, als würde sie gern schon mit vierzehn das Autofahren lernen. Sie fragte ihre Mutter, ob sie zum Einkaufen fahren könne, ob sie die Jungen ins Kino bringen dürfe, ob sie Kit und Vanessa zum Eisstand fahren solle, damit June zu Hause bleiben konnte.

Eigentlich hatte Nina Angst vorm Autofahren. Sie fühlte sich überfordert, und es war nervenaufreibend, sich in den rasenden Verkehr auf dem PCH einzuordnen. Die ganze Zeit klammerte sie sich an das Lenkrad, als hinge ihr Leben davon ab, ihr Herz raste, und ihre Verwirrung wuchs, wenn sie versuchte, den richtigen Zeitpunkt zum Abbiegen zu finden. Wenn schließlich alle am gewünschten Zielort ankamen und aus dem Auto stiegen, spürte sie die Anspannung zwischen ihren Schulterblättern und in den Kniekehlen.

Aber so viel Angst Nina auch vorm Autofahren hatte, noch mehr fürchtete sie sich, wenn sich ihre Mutter nach dem Mittagessen hinters Steuer setzte. Manchmal konnte Nina nachts nicht einschlafen, wenn sie Junes wachsende Zahl von Beinahe-Zusammenstößen, ihre langsamen Reaktionen und die verpassten Abbiegemanöver Revue passieren ließ.

Auch wenn es ihr schwerfiel, war es einfacher für Nina, selbst zu fahren. Und bald hatte Nina das Gefühl, dass es nicht nur einfacher war, sondern entscheidend , um eine unvermeidliche Katastrophe zu verhindern.

»Du fährst wirklich gern Auto«, stellte June eines Abends fest, als sie ihr die Schlüssel reichte. Sie hatte gerade bemerkt, dass keine Milch mehr da war. »Ich versteh das nicht. Mir hat es nie Spaß gemacht.«

»Ja, ich möchte später für einen Limousinenservice fahren«, sagte Nina und bereute ihre jämmerliche Lüge sofort. Ihr hätte doch wirklich etwas Besseres einfallen können.

Hud fing Ninas Blick auf. »Ich komme mit«, sagte er. »Um die Milch zu holen.«

»Ich auch«, schloss Jay sich an.

Als die drei nach draußen gehen wollten, zündete sich June eine Zigarette an und schloss auf der Couch die Augen. Kit spielte vor dem Fernseher mit Lego. June streckte entspannt den Arm aus und streifte mit ihrer glühenden Zigarette Kits Haar. Nina schnappte nach Luft. Jay riss die Augen auf.

»Kit, du kommst mit uns«, sagte Hud. »Du brauchst mehr Zahnpasta. Für deine … Zähne.«

Kit sah sie verwundert an, zuckte dann aber mit den Schultern und stand von dem Flauschteppich auf.

»Was ist los?«, fragte Kit, als sie zum Auto kamen.

»Ach, mach dir keine Sorgen«, sagte Hud und hielt ihr die Tür auf.

»Es ist alles in Ordnung«, bestätigte Nina und nahm auf dem Fahrersitz Platz.

»Ihr erzählt mir nie was«, maulte Kit. »Aber ich weiß, dass was nicht stimmt.«

Jay setzte sich auf den Beifahrersitz. »Dann brauchen wir es dir ja nicht zu erzählen. Also, wer will die billigste Milchtüte kaufen und den Rest für eine Packung Rolos ausgeben?«

»Ich will mindestens ein Viertel von der Packung!«, meldete sich Kit. »Du nimmst dir immer mehr als deinen Anteil.«

»Du kannst meinen Anteil haben, Kit«, sagte Nina und legte den Rückwärtsgang ein.

»Seid jetzt ruhig. Nina muss sich konzentrieren«, rief Hud.

Als Nina langsam rückwärts aus der Einfahrt setzte und auf der Straße in drei Zügen wendete, blickte Kit aus dem Fenster. Was wollten ihre Brüder und ihre Schwester ihr nicht sagen, das sie im Grunde bereits wusste?

Am Ende lernte sie das Wort aus dem Fernsehen.


Etwa ein Jahr später, als Kit zehn Jahre alt war, saß sie mit June auf der Couch und sah fern. Dort stritten sich zwei Brüder wegen eines Mords. Und Kit sah, wie der eine Bruder dem anderen eine Whiskyflasche aus der Hand nahm und ihn einen »Säufer« nannte. »Du bist ein Säufer«, sagte er. »Du bringst dich mit diesem Zeug noch um.«

In Kits Kopf machte etwas klick, und sie drehte sich zu ihrer Mutter um. June sah ihre Tochter an und lächelte.

Plötzlich begann Kits Körper vor Wut zu brennen. Sie entschuldigte sich, ging ins Bad und schloss die Tür hinter sich. Sie blickte auf die Handtücher, die an der Tür hingen, und wollte auf sie eindreschen, hätte am liebsten die Tür eingeschlagen.

Jetzt hatte sie einen Namen dafür. Sie verstand, was sie so lange beunruhigt, geängstigt und verunsichert hatte.

Ihre Mutter war eine Säuferin. Was, wenn sie sich mit dem Zeug umbringt?


In der nächsten Woche ließ June das Abendessen anbrennen.

Im Ofen brach Feuer aus, das Haus war voller Rauch, und der Geruch von verbranntem Käse setzte sich in der Tischdecke und ihrer Kleidung fest.

»Mom!«, schrie Nina und rannte durchs Haus, sobald sie den Rauch bemerkte. Als ihre Kinder in die Küche stürmten, wachte June auf.

»Es tut mir leid! Entschuldigt!«, sagte sie und hob den Kopf vom Tisch, wo sie eingeschlafen war. Ihre Bewegungen waren steif, und sie kam nur langsam zu sich.

Kit starrte auf die Flasche Smirnoff auf der Arbeitsplatte. Sie wusste nicht genau, ob es dieselbe Flasche war, die gestern noch fast voll gewesen war. Jetzt war kaum noch etwas übrig.

Nina lief zum Ofen, zog einen Handschuh an und holte die Auflaufform heraus. Jay stieg auf die Arbeitsplatte und schaltete den Rauchmelder aus. Hud öffnete alle Fenster.

Die Makkaroni und der Käse waren fast schwarz, an den Seiten und oben verbrannt. Man musste sie mit einem Messer aufschneiden, um etwas von dem vertrauten hellen Orangeton zu finden. June servierte sie trotzdem.

»Also gut, Kinder, esst. So schlimm ist es nicht.«

Nina, Jay und Hud setzten sich und taten so, als wäre alles in Ordnung. Sie reichten die Teller herum und legten sich die Servietten auf den Schoß, als wäre es eine ganz normale Mahlzeit.

Kit stand ungläubig daneben.

»Willst du Milch zum Essen, Kit?«, fragte Nina und stand auf, um ihre kleine Schwester zu bedienen.

»Machst du Witze?«, fragte Kit.

Nina sah sie an.

»Das esse ich nicht«, weigerte sich Kit.

»Es ist in Ordnung, Kit, wirklich«, sagte Hud.

Kit sah Hud an und beobachtete, wie sich seine Gesichtszüge anspannten und er sie durchdringend ansah. Er versuchte ihr mitzuteilen, dass sie Ruhe geben solle. Aber das konnte Kit einfach nicht.

»Wenn sie es nicht essen will, muss sie nicht«, bemerkte Jay.

»Ich mache uns allen etwas anderes«, schlug Nina vor.

»Nein, Nina, das ist in Ordnung. Katherine Elizabeth, setz dich hin und iss dein Essen«, mahnte June.

Kit sah ihre Mutter an und suchte in ihrem Gesicht einen Ausdruck von Verlegenheit oder Verwirrung. Aber sie sah ganz normal aus.

Schließlich platzte Kit der Kragen. »Wir werden nicht so tun, als hättest du nicht gerade das Abendessen anbrennen lassen, so wie wir tun, als wärst du keine Säuferin!«

Es wurde totenstill im Haus. Jay fiel die Kinnlade herunter. Hud riss vor Schreck die Augen auf. Nina betrachtete die Hände in ihrem Schoß. June starrte Kit an, als hätte die ihr gerade eine Ohrfeige verpasst.

»Kit, geh auf dein Zimmer«, sagte June, Tränen stiegen ihr in die Augen.

Kit stand stumm da und rührte sich nicht vom Fleck. Sie schwankte zwischen Schuldgefühl und Empörung, Empörung und Schuldgefühl. Irrte sie sich ganz fürchterlich, oder war sie im Recht? Sie wusste es nicht.

»Komm, Kit«, sagte Nina, stand auf und legte ihre Serviette auf den Tisch. Nina ergriff sanft ihre Hand und führte sie hinaus. »Es ist okay«, flüsterte Nina ihr beim Gehen zu.

Kit schwieg und überlegte, ob sie bedauerte, was sie gesagt hatte. Schließlich würde Bedauern bedeuten, sich einzugestehen, dass sie eine bewusste Entscheidung getroffen hatte. Und das hatte sie nicht getan. Ihr war, als hätte sie keine andere Wahl gehabt, als laut auszusprechen, worunter sie so sehr litt.

Als Nina und Kit im Flur verschwanden, blickten Jay und Hud wieder ihre Mutter an.

»Wir räumen auf, Mom«, sagte Hud. »Du kannst dich hinlegen.«

Hud warf einen Blick zu Jay. »Ja«, stimmte Jay zu, obwohl er fürchtete, dass es seine Aufgabe sein würde, den verbrannten Käse abzukratzen. »Hud und ich haben das im Griff.«

June sah ihre beiden Söhne an, die bereits vierzehn waren, schon fast Männer. Wie hatte sie das nicht bemerken
können?

»In Ordnung«, sagte sie erschöpft. »Ich glaube, ich lege mich schlafen.« Und zum ersten Mal seit langer Zeit ging sie in ihr Schlafzimmer, zog ihren Pyjama an und schlief in ihrem Bett.

Die Jungs machten die Küche sauber. Jay schrubbte nach Kräften die Auflaufform, um das Verbrannte zu entfernen. Hud schüttete die vollen Gläser aus und wischte den leichten Aschestaub auf der Arbeitsplatte weg, wo sich der Rauch abgesetzt hatte.

»Kit hat recht«, flüsterte Jay, als er für einen Moment mit dem Schrubben aufhörte und Huds Blick suchte.

»Ich weiß«, sagte Hud.

»Wir reden nie darüber«, flüsterte Jay nun etwas lauter.

Hud hörte auf, den Tresen zu putzen. Er atmete tief durch. »Ich weiß.«

»Sie hätte fast die Küche abgefackelt«, sagte Jay.

»Ja.«

»Sollten wir …« Jay fiel es schwer, den Satz zu Ende zu bringen. Sollten wir Dad anrufen? Jay wusste nicht mal, wie sie das machen sollten. Sie hatten keine Ahnung, wo ihr Vater war und wie sie ihn erreichen konnten. Wenn sie es gewusst hätten, wäre Jay ihm gern begegnet. Aber als sich Hud vor Jahren einmal in der Schule bei einem Sturz vom Klettergerüst die Nase gebrochen hatte und operiert werden musste, um sie zu richten, hatte Jay zufällig belauscht, wie June zu seiner Großmutter sagte: »Ich würde mich eher an die Straße stellen, als Mick anzurufen und ihn um etwas zu bitten.« Und so schien allein die Vorstellung, es laut auszusprechen oder auch nur anzudeuten, seine Mutter zu entehren. Und das würde er nicht tun. Das konnte er nicht. »Ich meine, was sollen wir tun?«

Hud runzelte die Stirn, seufzte und suchte nach einer Antwort. Schließlich setzte er sich resigniert an den Tisch. »Ich habe keine Ahnung.«

»Die ganze Sache mit Mom … Sie hat einfach gerade eine schlechte Phase, oder?«, fragte Jay. »Das bleibt nicht immer so?«

»Nein, natürlich nicht«, bestätigte Hud. »Das ist nur eine Phase.«

»Ja.« Jay klang erleichtert. Er nahm wieder den Schwamm in die Hand und schrubbte am Käse. »Ja, genau.«

Die Brüder sahen sich an, und in einem Sekundenbruchteil wurde beiden klar, dass zwischen dem, was man glauben musste, und dem, was man tatsächlich glaubte, ein großer Unterschied bestand.

Als sie fertig waren, gingen sie mit einer halb vollen Chipstüte und einer Schachtel Cracker in Kits Zimmer, wo Nina und Kit auf dem Boden saßen und sich unterhielten.

Sie setzten sich zu viert zusammen und wischten acht fettige Hände an acht Hosenbeinen ab.

»Wir sollten Servietten holen«, sagte Nina.

»Oh nein, sind da Krümel auf dem Boden?«, neckte Jay sie. »Ruf die Cops!«

Kit begann zu lachen.

Hud tat so, als wählte er. »Hallo? Krümelpolizei?«, sagte er.

Jay lachte so hysterisch, dass er sich fast an einem Cracker verschluckt hätte.

»Ja, äh, Sergeant Crackers hier«, sagte Kit, als würde sie in ein Funkgerät sprechen. »Uns ist lautes Knirschen gemeldet worden.«

Auch in Nina löste sich etwas, und ein lautes Lachen platzte aus ihr heraus. Bei dem bizarren Klang schütteten sich alle noch mehr aus.

»Schon gut, schon gut«, sagte Nina und beruhigte sich. »Wir sollten ins Bett gehen.«

Sie standen auf und räumten das Essen weg, zogen ihre Pyjamas an und putzten sich die Zähne.

»Alles wird gut«, sagte Nina zu ihren Geschwistern, als sie sich an diesem Abend verabschiedete. »Das verspreche ich euch.«

Als er das hörte, entspannten sich Jays Schultern um ein Zehntelprozent, Hud atmete aus, Kit biss nicht mehr die Zähne zusammen.

Obwohl sie vor langer Zeit gelernt hatten, dass manche Menschen ihre Versprechen nicht hielten, wussten die drei jüngeren Rivas, dass sie ihrer großen Schwester glauben konnten.

 

 


16:00 Uhr

Nina stand in ihrem Schlafzimmer im Obergeschoss des Anwesens, das makellos geputzt war. Die deckenhohen Fenster, die nach Südosten auf das Meer hinausgingen, waren so sauber, dass man sich im Freien hätte wähnen können, wären die Rahmen nicht gewesen. In solchen stillen und klaren Momenten, in denen Nina über die Klippen und das Meer bis nach Catalina Island sehen konnte, musste sie eingestehen, dass das Haus auch gute Seiten hatte.

Ihr Bett aus Birkenholz war mit militärischer Präzision gemacht worden. Die weiße Steppdecke war fest unter die Matratze gesteckt, am Fußende lag ein dickeres, perfekt zusammengelegtes Federbett. Am Kopfende waren alle erdenklichen Kissen und Rollen drapiert.

Wie konnte sie so viele teure Dinge besitzen?

Die Reinigungskräfte waren ins Erdgeschoss weitergezogen. Sie wischten die Steinfliesen und weißten die Wände. Sie entfernten die Spinnweben aus den Ecken der hohen Decken und die Staubmäuse aus den hintersten Winkeln der Flure, Bücherregale und Schränke.

Nina hörte, wie sie die Teppiche absaugten, und fragte sich, ob es überhaupt einen Sinn hatte. Um zehn würden sie wieder sandig und schmutzig, um Mitternacht würde das ganze Stockwerk in Unordnung sein.

Sie betrat ihr Bad und fand einen makellos sauberen Waschtisch und Fußboden vor; taupefarbene Stoffhandtücher waren in ordentlichen Dreiecken gestapelt.

Nina öffnete die Doppeltür des begehbaren Kleiderschranks und fuhr mit der Hand an der linken Seite entlang, um die Textur ihrer Kleider, Hosen und Blusen zu fühlen. Baumwolle, Seide und Satin. Samt und Leder. Nylon und Neopren.

Sie besaß so viele Kleider – so viele Kleider, die sie nie gewollt, nie gebraucht, nie getragen hatte. Sie hatte so viel Zeug . In letzter Zeit kam es ihr vor, als sollte das der Sinn von allem sein – wie viele Dinge man kaufen konnte –, als wären sie die Eintrittskarte in ein zauberhaftes Leben. Aber das ließ sie alles kalt.

Als sie am Ende ihrer Sachen angelangt war, ging sie auf der anderen Seite zurück und strich mit ihrer Hand über die zurückgelassene Kleidung Brandons. Sie spürte die Lücken zwischen den Hemden, sah die leeren Bügel. Brandon ließ sich von diesem Zeug blenden. Und jetzt wurde Nina deutlich bewusst, was sich nicht mehr auf seiner Seite des Schranks befand. Seine steifen Polos, die weichen Levi’s und die eingetragenen Adidas. Seine Lacostes und seine Sperrys. Die Dinge, die er liebte, die er zu brauchen meinte. Sie waren verschwunden.

Das tat weh. Es tat so weh, dass sie am liebsten eine Flasche Smirnoff herausgeholt und sich einen Sea Breeze gemixt hätte.