Ende 1975. Am Wochenende wollten alle Kinder woanders übernachten. Das hatte es noch nie gegeben.
Nina war siebzehn. Sie wollte auf die Party einer Freundin gehen und dort übernachten. Jay und Hud waren mit der Wasserballmannschaft unterwegs, und Kit schlief bei ihrer Freundin Vanessa.
Bevor Nina an jenem Nachmittag das Haus verließ, fragte sie sich, ob es eine schlechte Idee war, dass sie alle gleichzeitig weg waren. »Ich möchte nicht, dass du hier ganz allein bist«, sagte Nina zu June. Sie stand in der Küche und sah ihre Mutter auf dem Wohnzimmersofa sitzen.
»Schatz, geh mit deinen Freundinnen aus, bitte.«
»Aber was machst du heute Abend?«
»Ich werde mich amüsieren«, sagte June mit einem Lächeln. »Hast du eine Ahnung, wie anstrengend ihr vier seid? Meinst du nicht, dass ich mich nach ein bisschen Zeit für mich allein sehne? Ich werde mir ein Bad einlassen und so lange in der Wanne bleiben, wie ich will. Dann lege ich mich auf die Veranda und schaue den Wellen zu.«
Nina wirkte nicht überzeugt.
»Hey«, sagte June. »Wer ist hier die Mutter? Du oder ich?«
»Du bist die Mom«, sagte Nina amüsiert. Das war ein geflügeltes Wort zwischen ihnen geworden. Die nächste Frage beantwortete sie, bevor sie überhaupt gestellt wurde. »Und ich bin das Kind.«
»Und du bist das Kind. Zumindest noch ein Weilchen.«
»Okay«, sagte Nina. »Wenn du sicher bist.«
June stand von der Couch auf, legte die Hände auf die Arme ihrer Tochter und sah ihr in die Augen. »Geh, Schatz. Hab Spaß. Du hast es dir verdient.«
Und so ging Nina.
June ließ sich wieder auf dem Sofa nieder und schaltete den Fernseher ein. Sie schnappte sich die Fernsehzeitschrift und überlegte, was sie sich ansehen wollte. Und dann tauchte er in den Abendnachrichten auf.
»Nun zur Unterhaltung«, so der Reporter. »Mit seinen zweiundvierzig Jahren hat Mick Riva zum fünften Mal geheiratet. Seine sittsame Braut, Margaux Caron, ein junges Model aus Frankreich, ist vierundzwanzig.«
June zündete sich eine Zigarette an und nippte an ihrem Wodka.
Und dann vergrub sie ihren Kopf in den Händen und weinte sich die Augen aus. Ein Schrei stieg aus ihrem tiefsten Inneren auf, sprudelte in ihr hoch und drang in Form von Keuchen und Kreischen aus ihrer Kehle.
Sie drückte die Zigarette aus und warf sich aufs Sofa, ließ die Schluchzer ihren Körper erschüttern. Mick würde niemals zurückkommen. Sie hätte vor all den Jahren auf ihre Mutter hören sollen. Aber sie war eine Närrin gewesen, seit dem Tag, an dem er aufgetaucht war. Sie war ihr ganzes Leben lang eine Närrin gewesen.
Gott , dachte June, ich muss mein Leben in den Griff kriegen. Für meine Kinder. Sie dachte an Ninas strahlendes Lächeln, an Jays kühne Entschlossenheit und an Huds Sanftmut, wie eng er sie immer umarmte. Sie dachte an Kit, diesen Hitzkopf, der sie eines Tages vielleicht alle in die Tasche stecken könnte.
Ihr war klar, dass sie spürten, wie sie den Verstand verlor. Sie merkte es an der Art, wie sie sie umsorgten, wie sie sich nicht mehr darauf verließen, dass sie sich um ihre Schulsachen kümmerte, wie sie anfingen, in ihrer Gegenwart miteinander zu flüstern.
Aber das könnte sie ändern, indem sie nicht länger darauf wartete, dass dieses Arschloch alles in Ordnung brachte. Wenn sie sich einfach eingestehen würde, dass sie es selbst in Ordnung bringen musste.
Sie atmete tief durch und schenkte sich ein weiteres Glas
ein.
Sie legte eine alte Mick-Riva-Platte auf, sein zweites Album, und hörte immer wieder »Für June«, und jedes Mal, wenn sie den Plattenspieler erneut startete, schenkte sie sich ein weiteres Glas ein. Sie hatte ihm etwas bedeutet. Das konnte er ihr niemals nehmen.
June wandte sich wieder der Wodkaflasche zu und sah, dass sie sie geleert hatte. Sie ging in die Küche, um Nachschub zu holen, und fand eine verstaubte Flasche Tequila.
Sie öffnete sie, dann ließ sie sich ein Bad ein.
Sie beobachtete, wie sich der Dampf ausbreitete, und atmete den Nebel ein. Beruhigend und sicher. Sie band ihren Bademantel auf, schlüpfte aus ihren Kleidern und glitt ins Wasser.
Die Arme auf den Rändern der Wanne abgestützt und den Kopf zurückgelegt, atmete sie die warme Luft ein und schloss die Augen. Sie hatte das Gefühl, ewig in diesem Bad bleiben zu können. Alles würde gut werden.
Das war ihr letzter bewusster Gedanke. Fünfundvierzig Minuten später ertrank sie.
June Riva, die einstige Träumerin mit dem weichen Herzen, war tot.
Als Nina am nächsten Morgen nach Hause kam, fand sie ihre Mutter leblos in der Badewanne.
Sie versuchte hastig, den Körper ihrer Mutter aus dem Wasser zu ziehen und sie zu wecken – die Blässe oder Regungslosigkeit ihrer Mutter bemerkte sie nicht. Die Angst schnürte ihr die Brust zu.
In rasender Geschwindigkeit überlegte sie, wen sie anrufen könnte, kam aber zu keinem Ergebnis. Großeltern (tot), Vater (Versager). Es musste doch jemanden geben, irgendjemanden, der das in Ordnung bringen konnte.
Als Nina dort auf dem Badezimmerboden kniete, hatte sie das Gefühl, endlos zu fallen. Der Schmerz war grenzenlos, ebenso die Angst. Es gab kein Netz, das sie auffangen konnte, nichts, an dem sie abprallen konnte, keinen Boden, der ihren Qualen und ihrem Leid ein Ende bereitete.
In dem Moment, in dem Nina begriff, dass ihre Mutter tot war, begriff sie, dass es niemanden mehr auf der Welt gab, auf den sie zählen, bei dem sie sich anlehnen, dem sie vertrauen und an den sie glauben konnte.
Sie hielt die blasse Hand ihrer Mutter und rief den Notruf. Während die Sanitäter herbeieilten, hielt sie sie noch fester.
Nina beobachtete, wie die Sanitäter ins Haus und zu ihrer Mutter stürzten. Als man ihr sagte, was sie bereits wusste, stand Nina atemlos in der Tür. Ihre Mutter war tot.
Nina sah zu, wie die Leiche ihrer Mutter abtransportiert wurde, und dachte, dass sie bestimmt zurückkommen werde. Auch wenn sie wusste, dass es unmöglich war.
Sie rief bei Vanessa an und nahm all ihre Kraft zusammen, um Vanessas Mutter zu bitten, Kit sofort nach Hause zu schicken. Und dann lief sie unsicher auf und ab, weil sie nicht wusste, wie sie Jay und Hud erreichen konnte.
Als die beiden Jungen kurz darauf zurückkamen, verbot sie ihnen, das Haus zu betreten.
»Was ist passiert?«, fragte Jay panisch. »Verdammt, Nina! Was ist hier los?«
Hud schwieg entsetzt. Irgendwo in seinem Inneren wusste er es bereits. Als Kit wenig später eintraf, führte Nina sie alle an den Strand unter dem Haus.
Sie musste sagen, was gesagt werden musste. Tun, was getan werden musste. Wenn man auf sich allein gestellt ist, kann man sich seine Aufgaben nicht aussuchen. Und man hat auch nicht darüber zu entscheiden, ob man sich einer Sache gewachsen fühlt oder nicht. Es ist kein Platz für Abneigung oder Schwäche. Man muss alles tun. All das Hässliche, das Traurige. Man muss aushalten, an was die meisten Menschen nicht einmal denken können. Man muss zu allem fähig sein.
»Mom ist tot«, sagte Nina, und dann sah sie, wie ihre drei Geschwister auf dem Boden zusammensackten.
Und sie wusste schlagartig, dass sie es schaffen musste, sie aufzufangen. Und sie zu halten, während sie schrien, während das Wasser kam und ihre Socken durchnässte und in ihren Schuhen quietschte.
Also tat sie es.
Wisst ihr, wie schwer ein Körper werden kann, wenn er einem hilflos in die Arme fällt? Davon das Dreifache. Nina hat alles getragen. Das ganze Gewicht, in ihren Armen, auf ihrem Rücken.
Kit versuchte, sich für die Party anzuziehen.
Gerade setzte die Abenddämmerung ein. Der blau-orangefarbene Himmel färbte sich zartviolett. Es war Ebbe, unten am Strand kreischten die Möwen. Durch ihre geöffneten Fenster konnte Kit leise die Brandung hören.
Sie stand in BH und einer verwaschenen Jeans vor dem Spiegel in ihrem Zimmer. Sie wusste nicht, welches Oberteil sie anziehen wollte, und zweifelte bereits an der Hose. Aber der heutige Abend war wichtig.
Sie wollte einen Jungen küssen. Seth würde dort sein. Vielleicht konnte sie sich dazu aufraffen, ihn zu küssen. Oder einen anderen. Hoffentlich einen anderen. Es musste doch wohl mindestens einen Typen auf dieser Party geben … für den sie etwas empfinden konnte. Und falls nicht, musste sie einfach das Pflaster abreißen und es trotzdem tun. Aber gut aussehen sollte sie schon, oder?
Sie wusste nur nicht recht, wie sie das hinkriegen sollte. Wusste nicht, was ihr stand. Sie hatte noch nie ernsthaft versucht, schön auszusehen. Das war die Sache ihrer Mutter gewesen und der Job ihrer Schwester.
Als sie sich im Spiegel betrachtete, dachte sie an die langen Beine ihrer Schwester. Nina trug immer kurze Röcke und Shorts. Sie dachte daran, wie ihre Mutter an guten Tagen manchmal fast eine Stunde gebraucht hatte, um sich fertig zu machen – ihr Haar zu einem Bob zu frisieren, den Lippenstift präzise aufzutragen, genau das richtige Oberteil zu wählen.
Die beiden sahen immer so hübsch aus.
Kit holte ihr Lieblingsoberteil aus dem Schrank und zog es an. Es war ein weißes T-Shirt mit Rundhalsausschnitt für Männer, auf dem in verblassten gelben Buchstaben CALI stand. Sie mochte es, weil es weich war und der Ausschnitt ausgeleiert. Vielleicht nicht die besten Voraussetzungen für ihr Vorhaben.
Und als sie begriff, wie überfordert sie war, schnappte sich Kit die zwei Paar Schuhe, die zur Auswahl standen, und fuhr zum Oberhaupt der Familie, ihrer Schwester, dem Bademodenmodel.