Nina hielt ihre Familie Woche für Woche mit den Einnahmen des Restaurants über Wasser, immer mit dem Gefühl, nur eine unvorhergesehene Panne von einer totalen Katastrophe entfernt zu sein. Drei Jahre lang lebten sie so dahin.
Drei Weihnachtsfeste, in denen sie trotzdem versuchten, sich irgendwie Geschenke zu besorgen. Drei Jahre mit Geburtstagen, an denen sie ihren jeweiligen Lieblingskuchen aus dem Gedächtnis nachbackten, weil June die Rezepte nie aufgeschrieben hatte. Drei erste Schultage, drei letzte Schultage, für alle Geschwister, nur nicht für Nina.
Als ein süßer Typ, der im Restaurant einen Hamburger kaufte, sie eines Nachmittags zu einem Date einlud, erstarrte Nina, als hätte ihr Gehirn einen Kurzschluss erlitten. »Äh …«, sagte sie verblüfft, weil dieser Typ dachte, sie wäre normal, sie könnte normal sein.
»Ich meine nur …«, sagte der junge Mann und wich zurück. Er war groß und blond und hatte ein zurückhaltendes Lächeln. »Dass du vielleicht das hübscheste Mädchen bist, das ich je in meinem ganzen Leben gesehen habe, und ich dachte, falls du Single bist und freihast, könnten wir vielleicht … ich weiß nicht. Einen Film ansehen.«
Bevor ihre Mutter starb, hatte sie zwei Freunde gehabt. Danach hatte sie sogar manchmal ein oder zwei Freunde angerufen, wenn sie sich besonders einsam fühlte. Aber eine Verabredung? Dieser Typ wollte mit ihr etwas unternehmen … zum Spaß?
»Nein danke«, sagte sie. Sie atmete mit einem Seufzer aus und hörte sich an wie ein Heliumballon. »Ich kann nicht«, fügte sie hinzu, fand aber keine Worte, um es ihm weiter zu erklären. Und so ging sie zum nächsten Gast und versuchte wie jeden Tag, mehr Pommes frites und Limonaden zu verkaufen als am Tag zuvor.
Am Ende ging es immer nur um das eine: Geld. Sie konnte den deutschen Schokoladenkuchen ihrer Mutter ungefähr nachbacken. Sie konnte Hud dieselben Dinge sagen, die June ihr gesagt hatte, wenn sie einen schlechten Tag hatte. Ihr reichten drei Stunden Nachtschlaf, wenn sie Kits Projekt für die Wissenschaftsausstellung retten musste. Aber Geld war das Einzige, was sie nicht herbeizaubern konnte.
Sie musste das Auto so oft auf Reserve fahren, dass sie zweimal ohne Benzin liegen blieb. Sie begann, Schecks nachzudatieren, Kreditkarten zu belasten, ohne es ausgleichen zu können, und sie schaltete, um Strom zu sparen, alle Lichter im Haus aus, wenn keiner da war.
Als Jays Weisheitszähne gezogen werden mussten, telefonierte Nina drei Wochen lang mit Versicherungsgesellschaften, um über das Restaurant eine Zahnversicherung abzuschließen. Als Hud vom Autodach rutschte und sich dabei das Handgelenk brach, weigerte er sich, ins Krankenhaus zu gehen, weil er wusste, dass sie es sich nicht leisten konnten. Und so musste Nina ihn überreden, trotz der Kosten zu gehen, auch wenn die Summe ihr tatsächlich das Genick brechen konnte. Sie handelte einen Preis für die Behandlung aus, den sie nicht bezahlen konnte, und lag wochenlang jeden Abend mit zusammengebissenen Zähnen im Bett, weil sie sich davor fürchtete, was passieren würde, wenn sich die Säumniszuschläge summierten.
Wenn sie June vermissten, briet Nina ihnen Zitronenhähnchen. Sie blieb lange auf und sah mit Kit fern, obwohl sie am nächsten Morgen früh aufstehen musste. Nina ermutigte Jay und Hud, sich in die Wellen zu stürzen und zu üben, auch wenn das bedeutete, dass die Bäder nicht geputzt wurden oder sie sich selbst um die Wäsche kümmern musste.
Und jedes Mal, wenn Hud oder Jay anboten, ebenfalls die Schule abzubrechen, um im Restaurant mitzuarbeiten und sie finanziell zu unterstützen, winkte Nina ab. »Auf keinen Fall«, sagte sie mit einer Ernsthaftigkeit, die die beiden jedes Mal entwaffnete. »Wenn ihr die Schule schmeißt, werfe ich euch aus dem Haus.«
Alle wussten, dass sie das niemals tun würde. Aber wenn es ihr so ernst war, dass sie damit bluffte, dann blieb ihnen keine andere Wahl, als sich zu fügen.
Im Frühjahr 1978 saßen Nina und Kit Seite an Seite in den hinteren Reihen, als Hud und Jay die Bühne betraten und ihre Abschlusszeugnisse entgegennahmen.
Kit johlte und brüllte. Nina klatschte so heftig, dass ihre Handflächen brannten.
Als Jay und Hud die Quasten an ihren Kappen von einer Seite auf die andere zogen, wusste Nina, dass der Krieg noch nicht vorbei war. Aber sie freute sich für einen kurzen Moment, denn eine Schlacht war immerhin gewonnen.
Nach seinem Abschluss arbeitete Jay bei Riva’s Seafood und in einem örtlichen Surfshop. Hud bekam etwas Geld zusammen, das es ihm ermöglichte, am nahe gelegenen Loyola Marymount College zu studieren, indem er zusätzlich einige Nebenjobs annahm und sich von Nina unterstützen ließ.
An den freien Wochenenden fuhren Jay und Hud die Küste hinauf und jagten den Wellen nach. Hud hatte sich inzwischen bereits eine gebrauchte Kamera gekauft, denn die beiden meinten, wenn Hud Fotos von Jay machte, würde es ihnen weiterhelfen.
Und so waren oft nur Nina und Kit im Haus. Kit, fast sechzehn, wollte nicht unter der Fuchtel ihrer Schwester stehen. Sie wollte sich nicht vorschreiben lassen, was sie zu tun hatte oder wann sie sich zurückhalten musste. Sie wollte nicht mehr zur Vorsicht ermahnt werden.
Statt zu Hause abzuhängen, besuchte Kit lieber Vanessa. Kit ging auf Partys und schloss sich einer Gruppe Mädchen an, die gern in den frühen Morgenstunden vor der Schule surften. Sie suchte sich einen Job als Gehilfin eines Fassadenmalers in Ventura und bettelte bei ihren Kollegen, damit sie zu den Baustellen und wieder zurück bei ihnen mitfahren durfte.
All das führte dazu, dass es Ende 1978 endlich Momente gab, in denen Nina nach zwölf Stunden Arbeit nach Hause kam und sich um niemanden kümmern musste.
Diese stillen Abende im Haus, wenn sie nur das Rauschen der Wellen unter sich und den Wind an den Fenstern hörte, beunruhigten sie. Sie setzte sich und ging das Scheckbuch durch, zog nervös jeden Betrag ab und stellte jedes Mal fest, dass das Konto immer noch überzogen war. Sie ging Kits Zeugnishefte durch und versuchte eine Lösung zu finden, wie sie sich trotz allem eine Nachhilfe leisten konnte.
In den seltenen Momenten, in denen sie wirklich nichts zu tun hatte, las Nina manchmal die alten Comics von Jay und Hud und versuchte, nicht an ihre Mutter zu denken.
Und dann, eines Tages, im Februar 1979, dreieinhalb Jahre nach Junes Tod, saß Nina allein auf den Felsen an der Küste vor ihrem Haus und atmete durch.
Es war kurz vor Sonnenaufgang, die Luft war kühl, der Wind blies auflandig. Die kalten Wellen folgten schnell aufeinander, immer mehr Schaum bedeckte den trockenen Sand.
Nina trug einen Neoprenanzug, ihr langes Haar flatterte in der Brise. Die Sonne lugte gerade über den Horizont. Sie war zum Surfen hinuntergegangen, bevor der Tag hereinbrach.
Doch als sie auf das Wasser blickte, sah sie eine Delfinfamilie. Zuerst schien es so, als würde nur ein Delfin springen. Dann noch einer. Dann zwei weitere und schließlich noch einer. Und bald waren sie zu fünft.
Nina setzte sich und begann zu weinen. Sie weinte nicht aus Stress, Verzweiflung oder Angst, obwohl sie all das auch belastete. Sie weinte, weil sie ihre Mutter vermisste. Sie vermisste ihr Parfum, ihren Hackbraten, vermisste die Art, wie sie Unmögliches möglich gemacht hatte. Nina vermisste es, in den Armen ihrer Mutter auf dem Sofa zu liegen und spätabends fernzusehen, sie vermisste, wie die Mutter ihr immer versicherte, dass alles gut werden würde, und wie ihre Mutter alles zum Guten wenden konnte.
Sie trauerte um die Dinge, die nie geschehen würden. Die Hochzeiten, bei denen ihre Mutter nicht dabei sein konnte, die Mahlzeiten, die ihre Mutter nie mehr zubereiten, und die Sonnenuntergänge, die ihre Mutter niemals sehen würde.
Und einen Moment lang dachte sie, dass sie sich vielleicht auch erlauben könnte, wütend auf ihre Mutter zu sein. Wütend wegen der angebrannten Abendessen und brennenden Zigaretten, wegen der Sea Breezes und Cape Codders. Wütend, weil sie überhaupt in diese Badewanne gestiegen war.
Aber das schaffte sie nicht ganz.
An jenem frühen Morgen am Strand beobachtete Nina die winzigen Krebse, die sich tiefer in den Sand gruben, sie beobachtete die violetten Seeigel und die Seesterne, die in ihren Prielen verharrten, und sie ließ ihren Tränen freien Lauf. Sie trauerte um jede Kleinigkeit – jeden Lockenwickler, jedes Hauskleid, jedes Lächeln, jedes Versprechen. Sie wollte sich vom Kummer befreien, eine Aufgabe, die zugleich möglich und unmöglich war. Und als Nina tief in ihren Kummer eintauchte und ihn herausschaufelte, als würde sie bis auf den Grund eines Lochs graben, stellte sie fest, dass der Schmerz, der ihr endlos vorgekommen war, tatsächlich ein vorläufiges Ende erreicht hatte.
Manchmal kam es Nina vor, als sei ihre Seele zehnmal schneller gealtert als ihr Körper. Kit musste noch ihren Abschluss machen. Es gab noch Rechnungen, die Nina vielleicht nie würde begleichen können. Sie hatte immer noch keinen Highschool-Abschluss. Aber in diesem Moment fühlte sie irgendwie eine neue Kraft. Und so wischte sie sich über die Augen und tat das, wozu sie eigentlich an den Strand gegangen war.
Sie schnappte sich ihr Board, paddelte an der Brandung vorbei und ging auf Position.
In jenem April wurde Nina von dem Redakteur eines Magazins, der dort seinen Urlaub verbrachte, am First Point beim Surfen entdeckt. Es war heißer, als sie erwartet hatte, darum hatte sie ihren Neoprenanzug geöffnet, unter dem ihr gelbes Bikinioberteil zum Vorschein kam. Die Wellen waren höher als sonst, und Nina hatte einen jener Tage, an denen man ganz da ist, an denen einem alles leichtfällt. Sie nahm eine Welle nach der anderen, glich deren Geschwindigkeit aus, indem sie tief in die Hocke ging, und surfte in ausgedehnten Passagen fast bis zum Pier.
Der Redakteur des Magazins – etwas rundlich, mit grauem Haar und einem kurzärmeligen Chambray-Hemd, das er flott bis zur Brust aufgeknöpft hatte – hatte sie vom Pier aus gesehen und war zum Strand hinuntergegangen. Als sie aus dem Wasser kam, stellte er sich vor, kaum dass ihre Füße den Sand berührten.
»Miss«, sagte er und ging eifrig auf sie zu.
Nina schätzte ihn auf etwa fünfzig und fürchtete, dass er sie um eine Verabredung bitten könnte.
»Sie sind eine wahre Augenweide«, sagte er zu ihr, aber Nina bemerkte, dass er dabei kein bisschen anzüglich klang. Er sprach lediglich aus, was ihm als offensichtliche Tatsache erschien. »Ich möchte Sie einem Freund von mir vorstellen. Er ist Fotograf und möchte eine Surf-Reportage machen.«
Nina trocknete sich mit dem Handtuch das Haar und blinzelte leicht.
»Es ist für die Zeitschrift Vivant «, sagte der Mann und reichte ihr eine Visitenkarte. Kaum war sie in Ninas Hand, war sie auch schon feucht. »Sagen Sie ihm, dass ich Sie geschickt habe.«
»Ich kenne Sie doch gar nicht«, antwortete Nina.
Der Mann betrachtete sie. »Sie sind eine schöne Frau, die wunderbar mit einem Surfbrett umgehen kann«, sagte er. »Damit sollten Sie Geld verdienen.«
Kurz darauf ging er, und während Nina ihm nachsah, stellte sie überrascht fest, wie mühelos er ihre Aufmerksamkeit gewonnen hatte.
Als sie nach Hause kam, setzte sie sich ans Telefon und drehte die Karte zwischen Daumen und Zeigefinger. Geld , dachte sie immer wieder. Wie viel Geld?
Nina gefiel der Gedanke nicht, für Fotos zu posieren, aber welche anderen Möglichkeiten hatte sie sonst? Das Restaurant schrieb nach einem schlechten Winter rote Zahlen. Sie wusste genau, dass es bei einer Prüfung durchs Gesundheitsamt durchfallen würde. Huds Schulgeld für das nächste Jahr wurde erhöht. Kit musste zum Zahnarzt und brauchte Füllungen. Das Dach war wieder undicht geworden.
Sie rief die Nummer auf der Karte an.
Der Fotograf und sein Assistent bestanden darauf, dass sie beim Shooting am Zuma Beach äußerst knappe Bikinis trug. Sie machten stundenlang Aufnahmen von ihr, wie sie ins Wasser ging und wieder herauskam, wie sie sich im Sand wälzte. Die lüsternen Blicke der Männer hinter der Kamera waren ihr unangenehm.
Doch dann sah sie die Fotos. Als sie die Negative mit der Fotografenlupe betrachtete, wurde etwas in ihr entfacht.
Sie war wunderschön.
Irgendwie hatte sie schon ihr ganzes Leben lang gewusst, dass sie hübsch war. Sie merkte es daran, wie die Augen mancher Leute bei ihrem Anblick aufleuchteten, so wie sie es vor all den Jahren auch bei ihrer Mutter beobachtet hatte.
Aber wirkte sie tatsächlich so auf andere Menschen, wenn sie im Wasser war? So hinreißend? So sorglos? So cool?
Es war verblüffend, aber auch sehr schön, sich so zu sehen.
Im Juni 1979 erschien ein Foto von ihr in Vivant – das Gesicht von der Sonne gebräunt, das Haar vom Wasser glatt nach hinten gestrichen – daneben der Text: CALIFORNIA COOL: DIE NEUEN STRANDGAMMLER.
Als sich herumsprach, dass sie die Tochter von Mick Riva war, stand das Telefon nicht mehr still. Wo hatte sich dieser berühmte Spross versteckt? Ihr Ruhm verbreitete sich wie ein Lauffeuer.
Eine Surfzeitschrift, zwei Männerzeitschriften, Anzeigen für zwei verschiedene Bademodefirmen und einen Laden für Neoprenanzüge sowie eine Surfshop-Werbung später war Nina Riva das Gesicht, das die Frauen im Surfsport repräsentierte.
Sie wollte an Surfwettbewerben teilnehmen, um herauszufinden, ob sie sich einen Namen als Wassersportlerin machen konnte. Aber ihre neuen Agenten rieten ihr davon ab.
»Es interessiert niemanden, ob du Wettbewerbe gewinnst«, hatte ihr Model-Agent Chris Travertine gesagt. »Es ist sogar besser, es nicht auszuprobieren. Im Moment bist du für alle die Nummer eins. Das sollten wir nicht riskieren.«
»Aber ich will wirklich surfen«, sagte Nina. »Nicht nur für Fotos Modell stehen.«
»Du surfst doch. Du bist eine Surferin. Die Fotos beweisen es«, sagte er verzweifelt. »Nina, du bist die bekannteste Surferin der Welt. Was willst du mehr?«
Bevor das Jahr zu Ende war, wurde ihr ein Kalender angeboten. Zwölf Aufnahmen nur von ihr.
Als sie mit ihrem Team einige der besten Surfspots in SoCal besuchte, nahm sie Jay, Hud und Kit mit. Sie surfte die wilden Wellen von Rincon, die perfekten Wellen am überfüllten Surfrider Beach, an den einsamen, schroffen Klippen von Torrey Pines, die hohen Wellen am Black’s Beach, die weit entfernten Reef-Breaks an den Sunset Cliffs und alle Spots dazwischen.
Als Kit Nina surfen sah, wusste sie, dass Surferinnen eine Zukunft hatten.
Und die Gespräche mit Ninas Fotografen während der Pausen brachten Hud dazu, sich ernsthaft mit der Surf-Fotografie zu beschäftigen.
Der Umstand, dass Nina noch vor ihm für das Surfen bezahlt wurde, machte Jay außerdem klar, dass er weitaus mehr dafür tun musste, Profi zu werden.
In »SoCal Babe: Nina Riva wird nass« war Nina in immer wieder anderen bunten Bikinis zu sehen, wie sie von Ventura bis San Diego die Wellen eroberte.
Als der Kalender fertig war, blätterte Nina durch den letzten Andruck. Sie in Trestles, wie sie in einem roten Bandeau-Bikini rittlings auf einem Lance-Collins-Single-Fin saß. Sie am Surfrider Beach bei einem Hang-Five, während sieben Surfer versuchen, eine Welle hinter ihr zu erwischen.
Aber das spektakulärste Foto war mitten im Sommer platziert, im Juli. Nina ritt auf einer Welle in Rincon. Das Meer war klar, das Wasser indigoblau.
Sie trug einen weißen String-Bikini auf einem pinkfarbenen Surfbrett. Man sah von der Seite, wie sie lächelte, während sie sich ins Wasser stürzte, und man konnte auch ihre vom Bikini kaum verhüllte Pobacke von der Seite sehen, und ihre Brust, die aus dem Oberteil hervorlugte.
Als sie das Foto betrachtete, stellte sie fest, dass der Bikini nicht so blickdicht war, wie man ihr hatte weismachen wollen. Der nasse weiße Stoff ließ nur sehr wenig Raum für Fantasie. Ihre Brustwarze und die Konturen ihres Pos waren darunter schwach zu erkennen.
Jedes Mal, wenn Nina das Bild ansah, fühlte sie sich unwohl. Es war keine gute Welle, ihre Haltung war nicht besonders, und sie wusste, dass sie Sekunden später vom Board gefallen war. Sie war eine bessere Surferin, als dieses Foto vermuten ließ. Sie war zu so viel mehr fähig.
Aber natürlich wurde dieses Foto zur Sensation. Das Foto, auf dem man ihren ungewollt entblößten Körper sehen konnte.
Jenes Foto war der Auslöser für ihre Karriere. Es wurde zu Postern vergrößert, die jahrelang in den Schlafzimmern, Schränken und Schließfächern von Jungs im Teenageralter hängen sollten. Alle fanden das Foto phänomenal, bis auf die Frau, die darauf abgebildet war.
Nina hatte genug Traumata durchlebt, um zu wissen, dass es Schlimmeres gab. Anstatt sich darüber aufzuregen, wollte sie jede Nacht, wenn sie ins Bett ging, dankbar für das Geld sein.
Das Geld, das Geld, das Geld.
Das Geld, das es ihr ermöglichte, Ramon als Geschäftsführer von Riva’s Seafood einzusetzen. Das Geld, das es ihr ermöglichte, endlich das Hausdach zu erneuern, Huds Studiengebühren zu bezahlen, Kits Zahnarztrechnung und ihre Arztrechnungen. Jays Startgebühr für den ersten Wettbewerb. Die Renovierung der Restaurantküche.
Das Foto von Ninas Hintern brachte den Rivas zum ersten Mal in ihrem Leben Sicherheit.
Nachdem alle Rechnungen bezahlt waren, setzte sich Nina auf die Veranda, starrte auf ihr Scheckbuch und staunte über den Kontostand. Es war nicht viel. Aber es war auch nicht nichts.
Und so sagte Nina Ende August, als Jay, Hud und Kit zu Hause waren und Burger grillten, etwas, das sie ihr niemals zugetraut hätten.
»Hey, Leute?«, fragte sie spontan und voller Tatendrang, während sie Chips und Salsa auf den Tisch stellte. »Wie wäre es, wenn wir eine Party schmeißen?«
Jay und Hud waren auf dem Rückweg vom Spirituosengeschäft und hatten zwölf Flaschen Seagram’s, zehn Flaschen Southern Comfort und neun Flaschen Captain Morgan auf die Ladefläche von Huds Pick-up geladen. Ebenfalls auf der Ladefläche: der Kassierer aus dem Spirituosengeschäft.
Der Mann hatte sie um die Adresse der Party angefleht. Und dann hatte er von ihnen eine Mitfahrgelegenheit erbettelt. Jay sagte Nein. Hud Ja. Und so saß Tommy Wegman nun auf dem Rücksitz des Trucks. Er rauchte eine Zigarette, spürte den Fahrtwind im Gesicht, freute sich darauf, auf die Riva-Party zu gehen, und stellte sich vor, dass er vielleicht Demi Moore oder Tuesday Hendricks anbaggern würde.
»Du bist so ein Weichei«, sagte Jay auf dem Beifahrersitz und beobachtete Tommy durch den Seitenspiegel. »Ein echtes Weichei.«
»Es gibt Schlimmeres, als ein Weichei zu sein«, entgegnete Hud. »Ich könnte zum Beispiel ein Arschloch sein.«
Jay wandte sich lächelnd zu Hud um. »Gutes Argument.«
In der Fahrerkabine war es still, abgesehen vom Brummen des Motors und dem Geräusch der Reifen auf der Straße. Und das schien Hud der richtige Zeitpunkt zu sein, um Jay zu gestehen, was er getan hatte.
Sofort bildete sich auf seiner Stirn und der Oberlippe ein Schweißfilm. Das passierte Hud manchmal. Normalerweise, wenn er zu viel von etwas gegessen hatte, auf das er leicht allergisch reagierte, wie Essig. Aber es geschah auch in solchen Situationen. Wenn er zu nervös war, begann er zu schwit-
zen.
»Hey, ich wollte da mit dir über etwas reden«, sagte Hud.
»Okay …«
Hud atmete tief ein und bereitete sich darauf vor, ihren Namen auszusprechen. »Ashley«, sagte er schließlich.
Dass Hud seine Ex-Freundin erwähnte, überraschte Jay. Er fühlte sich immer noch unwohl, wenn er an sie dachte.
»Was ist mit ihr?«, fragte er. Er bekam nicht jede Frau, die er wollte, das gelang keinem. Aber normalerweise konnte er die seltenen Zurückweisungen kommen sehen. Ashley hatte ihn aus heiterem Himmel abserviert.
Hud hörte den leicht gereizten Ton in der Stimme seines Bruders und begann, sich Sorgen zu machen. Was, wenn Jay ihm seinen Segen nicht geben würde? Was sollte Hud dann tun?
Er hatte sich einen ausgeklügelten Plan zurechtgelegt, einen genauen Ablauf, was er, jeweils abhängig von Jays Reaktion, sagen wollte. Doch in dieser Sekunde löste sich das alles schlagartig in Luft auf. Ihm fiel nur ein, dass er mit seiner Ex-Freundin schlief. Und dann erzählte Hud Jay in Panik eine Lüge. »Ich wollte sie um ein Date bitten. Ich wollte nur wissen, ob du etwas dagegen hast.«
Augenblicke nachdem die Worte seinen Mund verlassen hatten, war Hud ruhiger. Das konnte funktionieren.
Jay riss den Kopf herum und sah seinen Bruder an. »Ist das dein verdammter Ernst?«, fragte er.
Hud hatte schon fast vergessen, dass seine Frage eigentlich eine Lüge war. »Ja, ist das so schlimm? Ich hätte nicht gedacht, dass es dich interessiert.«
»Natürlich interessiert es mich.«
Es ging nicht um Ashley an sich. In Wahrheit war Ashley für Jay nicht wichtig gewesen. Sie konnte nichts dafür, für ihn war keine Frau wichtig gewesen, bis er Lara traf. Jetzt, da er die Richtige getroffen hatte, erkannte Jay, dass die Frauen vor ihr … nun ja, nicht die Richtigen gewesen waren. Unwichtig. Ashley war unbedeutend gewesen.
Aber Jay stellte sich wieder vor, wie Ashley mit Hud ausging. Er stellte sich vor, wie sie die Annäherungsversuche seines Bruders erwiderte. Und da schaltete sein Gehirn ab.
»Tut mir leid, Mann, aber ich halte das für keine gute Idee. Ist einfach so.«
Hud erstarrte. »In Ordnung«, sagte er, als Jay in Ninas Einfahrt abbog.
»Cool«, sagte Jay und zog den Schlüssel aus dem Zündschloss.
Jay stieg aus dem Wagen, aber Hud blieb noch eine unmerkliche Sekunde länger sitzen, um die Tatsache zu verarbeiten, dass er – gelinde gesagt – völlig am Arsch war.
Es läutete an der Tür.
Nina bürstete sich im Badezimmer das Haar und sah auf die Uhr: 18:51 Uhr. So ungeduldig , dachte sie. Aber die Menschen sind eben verschieden, und manche kommen schon zu einer Party, bevor sie überhaupt angefangen hat.
Nina öffnete ihre Schlafzimmertür und sah, wie Kit sich im Flur im Spiegel betrachtete und Jay die Treppe heraufkam.
Jay war schockiert, seine kleine Schwester in einem bauchfreien Shirt zu sehen, aber nach dem Kleid heute Morgen hielt er besser den Mund.
»Kannst du die Tür öffnen?«, fragte Nina sowohl Kit als auch Jay, ohne einen von ihnen direkt anzusprechen.
»Ja, klar«, sagte Jay und kehrte wieder um.
Hud stapelte den zusätzlichen Alkohol in der Speisekammer. Anschließend kam er in den Flur, um die Tür zu öffnen, als Jay gerade den Fuß der Treppe erreichte. Und so öffneten sie gemeinsam, was etwas peinlich war.
Dort stand in Dockers und einem leichten gestreiften Pullover über einem Poloshirt Brandon Randall mit seinen Zottelhaaren.
Jay, der sich mit einer Hand an der Tür festhielt, hätte sie ihm am liebsten vor der Nase zugeschlagen. Hud, die Hand am inneren Türgriff, war geneigt, sie weiter zu öffnen, um zu sehen, was zum Teufel Brandon wollte. Und so blieb die Tür, wo sie war.
»Hallo«, sagte Brandon.
»Brandon?«, ertönte eine Stimme hinter ihnen. Nina hatte den Fuß der Treppe erreicht und war fassungslos über den Anblick.
»Hi, Neen«, sagte Brandon und trat ins Haus.
»Was machst du denn hier?« Nina vermutete, dass er gekommen war, um ein paar Klamotten zu holen oder etwas aus dem Safe. Doch als sie Brandons sanften, hoffnungsvollen Gesichtsausdruck sah, spürte sie ein flaues Gefühl im Magen, denn sie fürchtete, er könnte sagen …
»Können wir reden?«
Unbewusst atmete sie tief ein. »Äh …«, sagte sie. »Klar. Komm mit nach oben.«
Jay und Hud beobachteten, wie Brandon Nina in die erste Etage folgte. Kit erstarrte und blieb mit ungläubiger Miene auf dem Treppenabsatz stehen, als Nina und Brandon an ihr vorbeigingen. Nachdem sie endlich außer Sichtweite waren, sah Kit Jay und Hud an und fragte rundheraus: »Was zum Teufel?«
Nina ging ins Schlafzimmer – ihr Schlafzimmer? ihr gemeinsames Schlafzimmer? – und bedeutete Brandon, ihr zu folgen. Sie wusste nicht, was sie sagen oder was sie überhaupt von seiner Anwesenheit halten sollte.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Ich liebe dich, Nina«, sagte Brandon. »Ich will nach Hause kommen.«