NACH MEINEM BESUCH im Zarizyno-Park erlaubte mir der Lehrer, mit meinen Wachen nach Hause zu fahren, während er den Besuch in der Zitadelle vorbereitete. Ich bot ihm zwar großzügig meine Hilfe an, doch er winkte nur achtlos ab und bat mich, ihm und den Wachen, die er anderswo einsetzen wollte, keine weiteren Schwierigkeiten zu bereiten, und mich an meiner Puppe zu erfreuen, bis er mich anrufen würde. Genau das tat ich dann auch.
Der Rest des Tages verging wie im Flug, da ich mich in der Liebe und Fürsorge meiner zärtlichen Freundin sonnte. Sie begrüßte mich freudig, ließ mir ein Bad ein und bot mir ein Getränk an. Mein Hunger nach Essen und Sex wurde gestillt, und das alles ohne Gezeter wegen meines plötzlichen Abgangs mitten in der Nacht. Einfach großartig!
Im Halbschlaf lag ich in meinem bequemen Bett, spielte mit einer Haarsträhne von Helen und dachte über das Glück nach. Hätte mir das Spiel damals einen Tausch angeboten — ein ruhiges Leben als NPC mit Helen anstelle dessen, was ich zu diesem Zeitpunkt hatte –, ich hätte sofort getauscht. Es war so ein Moment, in dem man merkte, dass Unwissenheit Glück bedeutete. Ich wollte nichts über Neustarts, Epochen, Merlins und all das wissen.
Bei dem Gedanken, wie mein Leben mit Helen aussehen könnte, schlief ich ein. Ich schlief tief und fest, ohne zu träumen, und deshalb wachte ich auch nicht mit dem ersten Klingeln auf. Als ich schließlich die Augen aufbekam, zeigte meine Uhr 2 Uhr morgens. Jemand klingelte hartnäckig an der Tür.
Ich zwang meine Füße, zur Tür zu schlurfen, aber mein Gehirn weigerte sich, aufzuwachen.
„Was - deine offizielle Unterkunft, die dir das Spiel zur Verfügung gestellt hat, war nicht nach deinem Geschmack?“ Archibald stand grinsend in der Tür meiner komfortablen Wohnung der Oberklasse. „Du, mein Schüler, bist in Ungnade gefallen und solltest den nächsten — und letzten — Monat deines Lebens in Gesellschaft von anderem Abschaum Schimmel atmen. Aber stattdessen mietest du dich im Ritz ein!“
Ohne darauf zu warten, dass ich ihn hereinbat, betrat der Catorianer die Wohnung, woraufhin ich mich nur sarkastisch bei ihm bedankte.
„Na, wenigstens hast du dich nicht direkt ins Schlafzimmer teleportiert.“
„Erspar mir den Unsinn. Es ist eine totale Perversion, seinen Schüler beim Kopulieren zu beobachten. Da mache ich es lieber auf die altmodische Art.“ Archibald zog eine Grimasse und starrte auf sein Ebenbild in dem großen Spiegel in der Eingangshalle. Seine ehemals neue Rüstung war jetzt rostig und sah aus, als hätte er eine Schlacht hinter sich.
„Du hättest mich über mein Kommunikationsgerät anrufen können.“ Ich schaute Archibald verwirrt an.
„Das hätte ich tun können, aber es hätte nicht denselben Effekt gehabt. Wach auf! Es ist Zeit für uns, auf die Jagd zu gehen. Ich habe den Köder bereits ausgelegt. Wir warten hier bei dir, bis sie den Köder schlucken, und dann brechen wir auf.“
Überwältigt von dieser Nachricht eilte ich ins Bad, um richtig wach zu werden und mich frisch zu machen. Archibald hatte es geschafft, alles furchtbar schnell vorzubereiten. Ich hatte es kaum geschafft, mich von meinem nächtlichen Abenteuer zu erholen, das sich allmählich in ein Scharmützel am Tage verwandelt hatte, und er zeigte nicht einmal Anzeichen von Müdigkeit. Offenbar war das die Fähigkeit des Jägers, die er in all den Jahrhunderten geschärft hatte.
„Yari, warum bittest du den Gast nicht herein? Du hast ihm nicht einmal Kaffee angeboten.“
In all der Aufregung hatte ich nicht daran gedacht, dass Helen aufwachen würde. Die Tatsache, dass wir mitten in der Nacht Gäste hatten, störte sie nicht im Geringsten.
Ich erinnerte mich noch sehr gut daran, wie andere Spieler Puppen behandelten, also versuchte ich, Helen so weit wie möglich von dem Catorianer fernzuhalten, und führte sie zurück zum Schlafzimmer.
„Er mag keinen Kaffee, und er ist in Eile.“ Das Mädchen reckte den Hals und warf einen neugierigen Blick auf den seltsamen Gast: Meine Puppe war der Meinung, dass jeder Kaffee mochte! Wie könnte es anders sein, wenn doch Yaropolk Kaffee so sehr liebte?
„Ich mag Kaffee wirklich sehr gerne, Süße. Aber ich mag Yari nicht ganz so gern. Er ist sehr langweilig“, schnurrte der pelzige Bastard direkt hinter meinem Rücken. Wie hatte er es nur geschafft, sich so leise anzuschleichen?
Helen strahlte, warf mir einen vorwurfsvollen Blick zu und verschwand in der Küche.
„Sie ist süß.“ Archibald betrachtete die Figur meiner Puppe mit einem taxierenden Blick. Ich spürte einen Anflug von Eifersucht. „Es wird schwer sein, sich von ihr zu trennen.“
„Ich werde mich nicht von ihr trennen.“ Ich runzelte die Stirn. „Ich mag alles an ihr.“
„Ach was! Es wäre auch unmöglich, dass du sie nicht magst.“ Archibald schnaubte und verdrehte die Augen. „Sie ist das Ideal, das dir das Spiel aus dem Kopf gezogen hat. Aber auch Ideale haben ihre Nachteile. Puppen können zum Beispiel keine Kinder bekommen.“
„Das ist so ziemlich das Letzte, was ich im Sinn habe.“ Auch ich verdrehte die Augen, um den Lehrer zu verspotten. „Ich bin kurz davor, ausgelöscht zu werden. Wozu also Kinder? Hast du dich deshalb zum Kaffee eingeladen, um mir das Zusammenleben mit meiner Puppe madig zu machen und mich zurechtzuweisen?“
„Du kannst von mir aus mit einer fettärschigen, herrschsüchtigen Opossumratte zusammenleben, wenn dir das lieber ist — als ob mich das interessieren würde! Bevor wir gehen, müssen wir über weitere Pläne sprechen. Hier bin ich sicher. Meine Jäger haben berichtet, dass es seit meinem Erscheinen keine Bedrohungen mehr gibt. Das ist gut zu wissen.“
Ich hörte das Klirren von Geschirr in der Küche, gefolgt von Helens Stimme: „Yaropolk, es ist alles bereit. Bitte den Gast, sich die Hände zu waschen, und bringe ihn zu Tisch.“
„Was ist nur aus dieser Welt geworden?“ Archibald konnte sich einen Seitenhieb nicht verkneifen. „Mein Schüler lässt sich von seinem eigenen Eigentum herumkommandieren!“
Die erste Tasse Kaffee sickerte nur so in mich hinein und machte meinen schläfrigen Körper munter. Die zweite konnte ich genießen, denn ich konnte die Welt um mich herum wieder klar wahrnehmen. Als Archibald die errötende Helen zum dritten Mal als „Blüte“ bezeichnete, schickte ich sie aus der Küche. Ihr vom Schlaf zerzaustes Haar stand um ihren Kopf wie der Heiligenschein einer Pusteblume, aber ich war trotzdem der Meinung, dass der Flirt meines Lehrers mit ihr nicht akzeptabel war.
Doch darauf hatte Archibald offenbar nur gewartet.
„Was hat es mit dem Befehlsrecht des Koordinators auf sich, und wozu brauchst du das Anti-Grav?“
Ich holte weit aus. „Bernard betrachtet mich als seinen geistigen Sklaven.“
„Und du...“, regte der Lehrer mich zum Fortfahren an.
„… und das bin ich nicht. Auf dem Landgut Lecleur hat Bernard mir Lumpens Tagebuch geschenkt, aber es hat sich herausgestellt, dass dieses Geschenk einen faden Beigeschmack hatte. Hätte ich es aktiviert, wäre ich zusätzlich zu Level 100 der Dunkelheit auch noch vollständig mental versklavt worden.“
„Du hast es wirklich nicht aktiviert?“ Archibald vergewisserte sich, indem er mich genau ansah, und ich schüttelte betont den Kopf. „Wozu brauchst du dann das Anti-Grav?“
„Damit Bernard denkt, dass ich das Tagebuch aktiviert habe“, antwortete ich und verdrehte selbstbewusst die Tatsachen. Ich hatte keine Lust, Archibald zu erklären, wie ich ohne das Tagebuch Level 100 der Dunkelheit erhalten hatte.
„Für den äußeren Anschein.“ Archibald bemerkte nicht, dass ich bluffte, und befragte mich weiter. „Dann würde Bernard also davon ausgehen, dass du einen Weg gefunden hast, seine Befehle zu ignorieren... Gut, soll er ruhig abgelenkt sein. Das ist ein Vorteil für uns. Was hast du mit dem Tagebuch gemacht?“
„Ich habe es dem Tempel des Wissens übergegeben.“ Das enthielt ich ihm nicht vor.
„Ich hoffe, dass du im Gegenzug etwas Wertvolles verlangt hast.“ Der Catorianer hob eine Augenbraue.
„Natürlich“, beruhigte ich ihn und war stolz auf mich. „Das wertvollste Gut in diesem Spiel sind Informationen.“
Der Lehrer war ziemlich skeptisch über meine Aussage, und damit ich nicht zu lange zögerte, bat er mich, ihm das Video unserer Verhandlung zu zeigen. Nun, „bat“ wäre etwas übertrieben. Er ordnete es an, um genau zu sein. Da er wusste, dass ich die Details nicht so einfach preisgeben würde, schwor er beim Spiel, dass er mich auf der Stelle töten und zum Respawn auf Bernards Anwesen schicken würde, damit ich dort Hallo sagen könnte. Mein Lehrer war so lustig... Es wurde nie langweilig mit ihm.
„Also, was ist das Ergebnis der Datenverarbeitung?“ Der Katzenmann grinste, nachdem er von der Liste der Spieler erfahren hatte, die ich erhalten hatte. Das einzig Erfreuliche war, dass es mir gelungen war, mein Geheimnis zu wahren — den wahren Grund, warum ich diese Liste angefordert hatte. Für Archibald hatte ich schon längst eine plausible Erklärung gefunden.
„Zur Kategorie ‚Wahnsinnige Menge an Wissen‘ gehören zwölf Spieler. Das sind Kreaturen aus der ersten Epoche. Zur Kategorie ‚Verrückte Menge an Wissen‘ gehören 320 Spieler. Sie stammen aus der zweiten Epoche. ‚Ungeheure Menge an Wissen‘ trifft auf 20.000 zu. Die dritte Epoche. An die vierte Epoche habe ich gar nicht gedacht, aus dieser Epoche gibt es jede Menge Spieler. Wenn ich es schaffe, am Leben zu bleiben, werde ich versuchen, mit jemandem in Kontakt zu treten, der den Status ‚Wahnsinnige Menge an Wissen‘ hat, um mein Artefakt hochzuleveln. Ihm wäre es egal — die erste Epoche ist ja Schnee von gestern –, während es für mich nützlich wäre, mehr über das Spiel herauszufinden.“
„Hahaha!“ Das aufrichtige Lachen des Catorianers schallte durch die Luft. „Du hast Lumpens Tagebuch gegen irgendeinen faulen Mist aus dem Tempel des Wissens eingetauscht? Mein Schüler, deine Naivität verblüfft mich immer wieder aufs Neue! Glaubst du wirklich, dass die Kreaturen, die, wie du sagst, eine ‚wahnsinnige Menge an Wissen‘ besitzen, sich überhaupt herablassen würden, mit dir zu sprechen?“
„Na ja, du offenbar schon.“ Zufrieden blickte ich in das plötzlich lange Gesicht des Catorianers. „Es wird sicher noch andere geben.“
„Aha, also hast du die Daten bereits analysiert. Äußerst lobenswert.“ Der Catorianer schmunzelte, aber seine Freude war spurlos verschwunden. „Darauf werden wir später zurückkommen. Jetzt müssen wir uns mit dem Überleben beschäftigen. Die erste Priorität ist, die Spur von Merlins Tagebuch in der Zitadelle zu finden.“
„Darfst du die Zitadelle besuchen?“, fragte ich erstaunt.
„Nicht durch das Portal, nein. Wir werden die Burg mit unseren eigenen Pfoten stürmen müssen. Warum das traurige Gesicht, mein fauler Schüler? Hast du vergessen, wie du deine Gliedmaßen bewegen kannst? Wir müssen nur den Teleporter benutzen, um so nah wie möglich heranzukommen, und dann laufen wir, wie echte Pilger. Keine Angst: Es ist nicht das und wahrscheinlich auch nicht das letzte Mal, dass die Große mich meiner Klasse und meines Ranges beraubt hat. Ich weiß also, was ich tue. Das scheint bei jeder Inkarnation zu ihrem Pflichtprogramm zu gehören: Die Sklaven sollen sich an ihren Platz erinnern und wissen, wer die Herrin ist. Vorhersehbar und langweilig!“
„Und doch hat sie dir ihr Bewusstsein anvertraut, als ihrer einzigen Vertrauensperson.“ Ich glaubte ihm nicht.
„Das ist etwas anderes. Sie war nicht diejenige, die mich gebeten hat...“ Archibald hob seine Klaue und ließ den Satz bedeutungsvoll offen. „Lass uns zu Merlin zurückkehren. Es ist nicht schwer, die Zitadelle zu betreten. Das Schwierige wird es sein, in den geheimen Bereich der Bibliothek zu gelangen. Ich habe alles durchdacht. Wir haben nur eine Chance.“
„Gerhard hat versprochen zu helfen...“, begann ich, aber dann sah ich das Grinsen des Catorianers.
„Da ich hier bin, solltest du davon ausgehen, dass er das bereits getan hat. Jetzt warten wir darauf, dass unsere langohrige Chance den Köder schluckt, und dann werden wir anfangen, eng mit ihm zusammenzuarbeiten, während wir im Lesesaal sehr leise sind“, sagte der Catorianer und blickte auf ein kleines Gerät mit einem Bildschirm, das er in den Händen hielt.
„Ich hatte auf konkretere Hilfe gehofft“, brummte ich. „Wenn Garlion deine Chance ist, sieht es nicht gut aus. Ich habe dir noch gar nicht erzählt, was bei unserem letzten Treffen passiert ist.“
„Ich bin sicher, dass die Atmosphäre alles andere als freundlich war, aber dieser langohrige Trottel wird für alles bezahlen. Erzähl es mir jetzt.“ Der Catorianer verlor den Gesprächsfaden nicht, auch wenn er besorgt auf seinen Bildschirm blickte.
Ich war nicht in der Lage, den Elfen zu verraten, denn genau in diesem Moment klingelte mein Handy. Archibald gab mir ein Zeichen, dass ich abnehmen sollte. Major Vesnin war am Apparat. Ich nahm den Anruf entgegen und erfuhr bei der Begrüßung weitere schlechte Nachrichten. Es schien, als hätte ich vergessen, wie gute Nachrichten überhaupt klangen.
„Wir haben neue Opfer. Acht Leichen. Kolomenskoje Park, Haupteingang. Ich werde jemanden schicken, der dich abholt.“
Das Gespräch mit Archibald war auf der Stelle beendet. Nach diesen neuen Informationen steckte der Catorianer sein kleines Gerät in sein persönliches Inventar und bereitete sich sofort auf einen Portalsprung vor. Ich folgte ihm und verließ mich auf mein Glück und meinen Lehrer. Vielleicht würde der neue Tatort dem Catorianer einige Anhaltspunkte liefern, die ihm halfen, die Person zu entlarven, die Merlin war. Ich war mir sicher, dass dieser neue Fall sein Werk war.
Das Portal brachte uns direkt zur Polizeistation. Die kühle Nachtluft wirkte auf mich wie ein weiterer doppelter Espresso, aber anscheinend hatte sie nicht die gleiche Wirkung auf die örtliche Polizei. Die verschlafenen Beamten schlenderten verzagt unter den Straßenlaternen umher, gähnten ununterbrochen, ohne sich die Mühe zu machen, sich den Mund zuzuhalten, und schenkten uns keinerlei Beachtung. Dieses Verhalten konnte nicht einmal als Nachlässigkeit gewertet werden: Es war unwahrscheinlich, dass jemand am Tatort auftauchen würde. Für anständige Bürger war es zu spät, und für unanständige war der Tumult zu groß.
Der Wachtmeister, an den ich mich erinnerte, sah uns schnell im schwachen Licht der Straßenlaternen und eilte uns entgegen. Wir wurden mit dem Dienstfahrzeug direkt zum Tatort gebracht. Diesmal wies uns unser Führer einfach die Richtung, gab an, wohin wir gehen sollten, drehte um und fuhr los. Nachdem wir etwa fünf Minuten im Dunkeln gelaufen waren, landeten wir am Flussufer, wo Major Vesnin am Wasser stand und sich regelmäßig die Brille hochschob, die ihm immer wieder die Nase herunterrutschte.
„General Archibald.“ Der Catorianer zeigte dem Major eine leere Hand, woraufhin dieser stramm stand. Es war schließlich egal, welchem Dienst der General angehörte. Wichtig war nur, dass er ein hervorragender und nützlicher Mensch war. Ich konnte Major Vesnin also gut verstehen: Es konnte nicht schaden, für jemanden wie ihn strammzustehen, zumal der FSB immer dafür bekannt war, über umfangreiche Befugnisse und Möglichkeiten zu verfügen.
„Major Vesnin, leitender Ermittler der Polizeibehörde von Zarizyno. Derzeit leite ich die Ermittlungen im Fall eines Serienmörders. Dieses Verbrechen und das in Zarizyno sind bereits zu einem einzigen Fall zusammengefasst worden. Alle charakteristischen Merkmale sind vorhanden.“
Nach so einem flotten Bericht hielt ich etwas weniger von Vesnin. Er schaute Archibald ein bisschen zu unterwürfig an. Steve stimmte mir zu und machte einige Vorschläge, um das unterwürfige Verhalten des Majors zu erklären. Sicherlich hoffte der Ermittler, meine vorteilhafte Bekanntschaft für seine eigenen Zwecke zu nutzen, sei es beruflich oder privat. Die Zeit würde es zeigen.
„Wo sind die Leichen?“, fragte Archibald. Wie es sich für hochrangige Personen gehörte, warf er Vesnin nur einen flüchtigen Blick zu und kam sofort zur Sache.
Der Major richtete den Strahl seiner Taschenlampe auf eine nahegelegene Stelle. „Hier, direkt am Wasser. Das ist ein toter Winkel für die externen Überwachungskameras. Meine Leute sind bereits dabei, die Aufzeichnungen zu analysieren, um festzustellen, wie die Opfer hierhergekommen sind. Es gab keine Zeugen. Die Leichen wurden von einem Pärchen entdeckt, das einen abgelegenen Ort suchte, um... nun ja, sie hofften, hier intim werden zu können. Sie befinden sich derzeit im Krankenhaus und werden wegen eines Schocks behandelt. Der Psychologe des Personals ist bereits vor Ort und wartet darauf, mit ihnen arbeiten zu können.“
Vesnin berichtete dies alles Archibald, der aber wegging. Er bewegte sich selbstbewusst auf die Leichen zu, obwohl es stockdunkel war. Vesnin versuchte, dem Catorianer ein wenig Licht zu spenden, aber dieser befahl ihm in einem gereizten Ton, das Licht wegzunehmen. Im Gegensatz zu Vesnin und mir brauchte mein Lehrer keine zusätzlichen Lichtquellen. Ich ging mit dem Major hinter ihm her. Unsere Füße verhedderten sich immer wieder im hohen Ufergras, was ich nicht einmal mit der Taschenlampe beheben konnte, auch wenn der Major mir freundlicherweise eine zur Verfügung stellte.
„Alle sollen so weit wie möglich zurücktreten“, befahl Archibald über seine Schulter hinweg und beugte sich über das Siegel.
Vesnin drehte sich sofort um, leuchtete sich den Weg und seufzte traurig. Der Major bedauerte die verpasste Gelegenheit, einen echten FSB-General im Einsatz zu sehen — und nicht irgendeinen Schreiberling! Dennoch wagte er es nicht, sich einem direkten Befehl zu widersetzen.
Ich stand neben dem Catorianer. Das neue Siegel sah ähnlich aus wie das vorherige: derselbe Blick auf die verdrehten Körper in einem schaurig-schönen Muster. Archibald ließ einen Blutstropfen auf den nächstgelegenen Körper fallen, und wieder schwebte der abscheuliche Buchstabe „M“ über den Opfern. Das war es, was wir bestätigt haben wollten.
Als Vesnin zurückkehrte, war es bereits vorbei. Der Catorianer zeigte auf die Leiche, an der sein Blut klebte, und sagte in einer Weise, die keinen Widerspruch duldete: „Ich nehme diese Leiche mit, und mein Kollege wird sich um die anderen kümmern. Irgendwelche Fragen?“
Der Major nickte nur unterwürfig, ohne den Grund für die Mitnahme der Leiche zu hinterfragen.
Vesnins Unterwürfigkeit und sein Mangel an Neugierde erstaunten mich immer mehr. Wäre ich mir nicht sicher gewesen, dass der Ermittler ein immunes Wesen war, hätte ich es für eine nützliche Fähigkeit Archibalds gehalten. Eine von denen, die ich auf der Akademie dank seiner anderen Schülerin Dolgunata kennengelernt hatte. Möge ihr Bewusstsein in Frieden ruhen, begraben unter dem von Madonna.
Mein Lehrer wandte sich mir zu. „Der nächste Opfermord findet morgen statt. Es werden 16 Leichen sein. Wir müssen den Ort herausfinden. Merlin tut nie etwas ohne Grund. Hol deine Nekromanten her. Ihr müsst an der Standardversion arbeiten, die einen Dämon impliziert, und es eurer Leitung melden.“
Mit diesen Worten verschwand der Catorianer zwischen den Bäumen in der Dunkelheit der Nacht. Er tat dies so geschickt, dass der Dämonologe und der Nekromant, die ich über den Oberrichter herbeirief, ihn nicht einmal bemerkten.
Der inzwischen erfahrene Dämonologe teilte mir mit, dass das Siegel eine Fälschung sei und es nicht möglich gewesen wäre, damit einen Dämon zu beschwören. Der Nekromant versuchte, eine Leiche zu erwecken, und ging zum Respawn, wobei er uns zuvor noch wissen ließ, dass ein Höherer Dämon dort gewesen war. Als der Dämonologe das hörte, kratzte er sich am Kopf, murmelte etwas in der Art, dass es sich um einen seltsamen Irrtum handeln müsste, und entfernte sich.
Als ich mit Vesnin allein zurückblieb, fragte ich ihn nach Kaffee, wobei ich nicht wirklich zuversichtlich war, welchen zu bekommen. Wie vorauszusehen war, war die Antwort negativ. Der Major berichtete über die Ergebnisse der Arbeit seines Teams — die Wachen hielten sich vom Tatort fern, genau wie beim letzten Mal.
„Sie haben alle Obdachlosen in der Umgebung überprüft, nur für den Fall, dass jemand etwas gesehen hat.“ Der Tonfall des Ermittlers war wieder ruhig und sachlich. „Aber alles ist unauffällig. Sowohl hier als auch in Zarizyno. Es ist, als wären die Leichen von selbst aufgetaucht. Es ist ein wahres Rätsel. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, wie sie in den Parks aufgetaucht sind. Es gibt Kameras an allen Eingängen und an den Parkrändern. Die Aufzeichnungen von hier sind noch nicht ausgewertet worden, aber in Zarizyno wurde nichts gefunden.“
„Richtig, nur kann man aus einem Mysterium keinen Fall machen“, pflichtete ich dem Major bei.
Vesnins Beschwerden, zusammen mit seiner unterwürfigen Haltung gegenüber dem FSB-General, ließen gewisse Schlüsse zu. Natürlich kannte ich den Ermittler erst seit Kurzem, aber seine Unfähigkeit von Anfang an zuzugeben, war ungefähr so, als würde man zugeben, dass das Innenministerium, für das man ein paar Jahrzehnte lang gearbeitet hatte, völlig inkompetent war. Normalerweise zeigten Institutionen, die in eng verwandten Bereichen arbeiteten, nie viel Sympathie oder Respekt füreinander, sondern legten stattdessen einen eher ungesunden Wettbewerb an den Tag. Vesnin dagegen war aus irgendeinem Grund anders. Ich wurde sogar neugierig, was den dicken Ermittler störte.
„Mein Chef hat mich angerufen. Sie nehmen mir den Fall weg. Zu viele Leichen und keine Fortschritte.“
Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich dazu sagen sollte.
„Ich würde diesen Bastard gerne schnappen, aber sie haben mir jetzt die Flügel gestutzt. Ich bin seit fast zwei Tagen auf den Beinen, mit der Nase auf dem Boden, und trotzdem...“
„Gönnen Sie Ihrer Nase was Angenehmeres und überlassen Sie den Boden den Schweinen, wie es ihrer Natur entspricht. Morgen früh werden Sie für eine Woche unbezahlten Urlaub nehmen und mit meinem Untergebenen hier arbeiten.“ Archibalds Stimme kam von hinten und wandte sich an den Major. „Übergeben Sie jetzt die Schicht und gehen Sie schlafen. Drei Uhr morgens ist keine Zeit, um konstruktiv und effizient zu sein. Morgen früh wird der Colonel Ihnen Ihre neuen Ziele erläutern. Die Stadtverwaltung kann einen Scheiß tun. Das ist eine Nummer zu groß für sie.“
Auf das freudige „Jawohl, Herr General!“ nickte Archibald mir zu, um mir zu signalisieren, dass ich ihm folgen sollte, und machte sich mit breiten, selbstbewussten Schritten wieder auf den Weg ins Dickicht. Vesnin blieb stehen, wo er war. Die Freude in seinem Gesicht war so aufrichtig, dass es schien, als würde er sich aufrichten und plötzlich größer und schlanker wirken. Wie ein Jagdhund, der die Fährte einer Beute aufgenommen hatte. Oder wie ein normaler Mensch, der von einer Gelegenheit begeistert war, auf die er vielleicht sein ganzes Leben lang gewartet hatte.
Auf dem ganzen Weg zum Dickicht stellte ich dem „General“ keine Fragen, aber als wir die Sicht- und Hörweite verließen, hustete ich sofort sehr ausdrucksvoll und forderte den Catorianer auf, zu erklären, wozu er diesen NPC brauchte.
Statt einer Antwort hörte ich: „Morgen wirst du den Major anrufen und ihm befehlen, sein Haus nicht zu verlassen. Unter keinen Umständen.“
Da ich die Logik meines Lehrers nicht verstand, stellte ich die wichtigste Frage, die jeder vernünftige Mensch stellen würde: „Wozu?“
Zu dieser Art von Nachfrage hatte ich eine besondere Beziehung, seit ich zum ersten Mal die Zeittasche besucht hatte. Ich war generell der Meinung, dass diese Frage der Eckpfeiler im Leben eines jeden intelligenten Wesens sein sollte. Eine rechtzeitige Frage nach dem „Wozu“ würde die meisten Probleme der Welt lösen, da es keine komplizierten Ausreden mehr gäbe, und sie würde viele Menschen vor unbedachten Handlungen bewahren. Außerdem wäre es viel einfacher, Idioten von normalen Menschen zu unterscheiden, wenn man jeden dazu zwingen könnte, diese Frage ehrlich zu beantworten und Erklärungen zu liefern.
„Schaffen wir uns einen Hund an!“
„Wozu?“
„Er wird auf den Rasen scheißen und mir das Vergnügen bereiten, zu beobachten, wie jemand hineintritt.“
„Nun, das ist ein Argument.“
„Ich werde für das Amt des Gouverneurs kandidieren!“
„Wozu?“
„Ich will mit den Schmier- und Bestechungsgeldern mein eigenes kleines Unternehmen gründen!“
„Ein tolles Lebensziel!“
„Lass uns heute Abend einen trinken gehen!“
„Wozu?“
„Um uns zu betrinken, natürlich!“
„Klingt nach einem guten Grund!“
Da alle Wesen daran gewöhnt waren, sich selbst aus einem äußerst positiven Blickwinkel zu betrachten, würden ihnen solche Gedanken gar nicht erst in den Sinn kommen. Natürlich: „Ich bin nicht so!“ Es war schade, dass sie in Wirklichkeit mit verschiedenen Argumenten kamen, die sie viel würdevoller aussehen lassen sollten.
„Ein Hund ist wie ein weiteres Mitglied der Familie. Er wird mir helfen, mich weniger einsam zu fühlen.“
„Schon als Kind wollte ich den Menschen dienen!“
„Ich betrinke mich, um meine Probleme zu vergessen: Hypothek, blöde Arbeit, dumme, langweilige Frau... Du weißt das alles, warum muss ich das ausführen?“
Die Fähigkeit, sich diese Frage zu stellen und sie ehrlich zu beantworten, unterschied einen vernünftigen Menschen von all den hohlköpfigen Spinnern.
Bei diesen utopischen Gedanken hörte ich meinen Lehrer mit einer weiteren Frage antworten, anstatt eine Antwort zu geben.
„Ist deine Videoaufzeichnung aktiviert?“
„Ja.“ Der Grund für sein diesbezügliches Interesse war mir nicht klar.
„Ausgezeichnet. Du kannst das jetzt für dich selbst aufzeichnen, aber achte darauf, es später zu löschen. Ich werde es überprüfen“, sagte der Catorianer, ohne mich anzusehen. Archibalds Augen wanderten durch die Dunkelheit und suchten nach Hinweisen, die nur für ihn sichtbar waren. „Du hattest recht und ich nicht. Vesnin ist wirklich immun. Hast du das aufgezeichnet? Das ist gut für dich. Du kannst es dir ein paarmal ansehen, um dein krankes Gefühl der Selbstüberschätzung zu steigern. Ich erlaube es dir. Vesnin hingegen muss zu Hause eingesperrt werden, damit er von allen isoliert ist. Du verstehst das, oder? Warum ist gerade jetzt ein Immuner aufgetaucht?“
„Merlin sucht sein Tagebuch, um es zu aktivieren und zu reinkarnieren.“ Man musste kein Nostradamus sein, um die Handlungen dieses mysteriösen Wesens vorherzusagen. „Vesnin wird als Opfer gebraucht.“
„Ja. Er wird auf jeden Fall sterben.“ Archibald beendete den Gedanken. „Entweder durch Merlins Hand oder durch unsere, je nachdem, wer das Tagebuch zuerst findet. Es ist unmöglich, ein Tagebuch zu zerstören, das noch nicht aktiviert wurde. Ich habe es überprüft. Bei einem aktivierten hingegen ist es möglich.“
Ich seufzte schwer. Alles schien logisch und gerechtfertigt zu sein und dem gesunden Menschenverstand zu entsprechen. Ich hatte eine ehrliche Antwort auf die Frage nach dem Warum bekommen, aber die Sache lastete dennoch schwer auf meiner Seele.
„Yaropolk, du wirst sentimental. Ist das der Einfluss, den deine Puppe auf dich hat?“, fragte mein Lehrer mit plötzlich recht freundlicher Stimme. „Denk dran — kein Mitleid oder Mitgefühl für NPCs. Ihr Leben ist kürzer, aber sie bringen mehr Probleme mit sich.“
„Hast du einen Weg gefunden, in die Bibliothek zu kommen?“, fragte ich und wechselte absichtlich das Thema. Erstaunlich, aber Archibalds Mentorenstimme hatte auf mich eine noch unangenehmere Wirkung als sein gewohnter Sarkasmus.
„Apropos Bibliothek: Du wolltest mir eine interessante Geschichte erzählen. Das wirst du auf dem Weg dorthin tun“, sagte der Catorianer und öffnete das Portal.
Während ich von dem Vorfall in der Zitadelle erzählte, sprangen wir durch ein Portal nach dem anderen, wie springende Pferde bei den Royal-Ascot-Pferderennen. Archibald suchte immer wieder etwas auf dem Bildschirm seines Navigators und murmelte manchmal etwas in einer Sprache, die ich nicht kannte, aber an den entsprechenden Stellen meiner Geschichte gab er Laute von sich, die mir zeigten, dass er immer noch zuhörte. Erst als ich fertig war, erinnerte ich mich an Shardas Worte, die ich Archibald übermitteln sollte. Nachdem ich das getan hatte, nahm ich genug Mut zusammen, um zu fragen, was diese Worte bedeuteten.
„Sie bedeuten wortwörtlich, dass dein Gegner sich in seiner Schlussfolgerung irrt. Das wird dem besagten Gegner auf sehr emotionale Weise klargemacht“, klärte mein Lehrer mich auf.
Der Catorianer hielt an einer Art Friedhof an. Ich hatte diese Gegend noch nicht erkundet, und so zeigte die Karte nichts als Dunkelheit. Steve projizierte die Koordinaten auf den bekannten Globus und stellte mit Gewissheit fest, dass wir uns in Südamerika befanden, genauer gesagt auf dem Friedhof La Recoleta in Buenos Aires, falls es ihn in dieser Version der Spielwelt gab. Moskau lag irgendwo auf der anderen Seite des Globus.
„Was soll das heißen? Er hat mich gebeten, dich zu verfluchen?“ Ich kam zu einer interessanten Schlussfolgerung.
„Ja“, stimmte Archibald leichthin zu. „Unser guter alter Sharda war ziemlich verärgert. Aber im Großen und Ganzen stimme ich ihm zu. Auf mein Zeichen folgst du mir und bleibst nicht zurück. Kapiert?“
„Klar. Worauf warten wir?“
„Ofelia del Plata... Diese Langohren sind so schelmisch.“ Mein Lehrer grinste in seine Schnurrhaare.
Ich nutzte die Pause, um im lokalen Internet eine Stichwortsuche nach „Recoleta“ und „Ofelia del Plata“ durchzuführen. Während Archibald auf die Türme der einzigartigen Grabstätte starrte, erfuhr ich die melodramatische Geschichte der unglücklichen Braut. Doch bevor sie mir Tränen in die Augen treiben konnte, erhob Archibald sich schnell und eilte in einen Gang zwischen den Krypten, wobei er mir ein Zeichen gab, mich zu verstecken. Etwa 20 Meter entfernt tauchte kurz etwas Weißes auf, das einer weiblichen Silhouette in einem Kleid ähnelte. Die traurige Gestalt glitt sanft durch die Straßen des Friedhofs, geradewegs auf den Ausgang zu. Wir folgten ihr, kamen aber zu spät. Als „Ofelia“ hinter dem Tor verschwand, rannten wir mit voller Geschwindigkeit hinterher, fanden die Straße hinter dem Tor aber leer vor. Archibald näherte sich der Straße und suchte sorgfältig ein Auto für uns aus. Ich war entrüstet darüber, dass er in dieser Situation so wählerisch war — wenn wir hinter dieser „Ofelia“ her waren, mussten wir uns beeilen! Schließlich tauchte in der Ferne ein Bentley auf. Mein Lehrer sprang leise auf das Dach und verschwand im Wagen. Weniger als eine Minute später wendete der Bentley und die Beifahrertür öffnete sich vor mir:
„Worauf wartest du denn? Wenn wir es deinetwegen nicht schaffen...“ Ich sprang auf den Sitz und bemerkte kurz die Leiche des ehemaligen Besitzers des Wagens auf dem Rücksitz. Ein weiteres zufälliges NPC-Opfer.
Wir rasten mit über 160 Kilometern pro Stunde die Straße hinunter. Das Auto reagierte empfindlich auf die plötzlichen Manöver meines Lehrers — wir hinterließen Streifen aus verbranntem Gummi auf dem Asphalt, und ich war gezwungen, mich an meinem Sicherheitsgurt festzuhalten. Die Alarme auf dem Armaturenbrett piepten kläglich, der Notblinker wurde aktiviert, das Auto geriet fast ins Schleudern, aber der Computer hielt es bislang in der Spur. Archibald trat auf die Bremse, öffnete unsanft die Tür, ohne zu warten, bis der Wagen zum Stehen gekommen war, und stieg aus, als ob die Fliehkräfte bei ihm außer Kraft gesetzt wären. Ich drehte mich schnell um, in der Hoffnung, die Katze dabei zu beobachten, wie sie auf dem Bürgersteig Purzelbäume schlug, aber das war nicht der Fall. Archibald stand unbeirrt auf seinen eigenen Füßen und blickte ins Leere, während die Tür des luxuriösen Bentleys offensichtlich die volle Fliehkraft zu spüren bekam und in Übereinstimmung mit der Newtonschen Physik reagierte. Die Tür blockierte, und als der Wagen zum Stehen kam, ragte sie heraus wie ein gebrochener Flügel.
Ich stürzte auf meinen Lehrer zu, wurde aber von einem weiteren Anfall von Unmut begrüßt. „Du bewegst dich lahmarschig wie eine Schnecke! Sagt man das so auf der Erde?“
Ich ignorierte seine Sticheleien und stellte mich schweigend neben ihn. Na ja, ein paar Meter entfernt, nur für den Fall. Auf jeden Fall war es unmöglich, den Catorianer umzustimmen, denn sein gewichtiges Argument „Ich habe vier Epochen erlebt“ würde sich nie ändern, und es gab nichts, was ich dagegen hätte sagen können. Auch wenn Archibald das nie laut ausgesprochen hatte — sein ganzes Verhalten in der Rolle des Lehrers schrie es geradezu heraus.
„Gehen wir“, sagte der Katzenmann zufrieden und ging langsam vorwärts. Ich folgte ihm in geringem Abstand.
Nachdem wir ein paar Häuserblocks durch die engen Straßen der Stadt zurückgelegt hatten, hielten wir vor einem kompakten dreistöckigen Gebäude an.
„Ein kleines Transitportal für die wenigen Auserwählten. Die Langohren dachten immer, sie wären die Auserwählten.“ Archibald nickte dem Gebäude zu. „Warte hier auf mich.“
Der Catorianer verschwand in der Dämmerung, und so sehr sich Steve auch bemühte, ihn zu finden, schlugen alle seine Versuche fehl. Die Verheimlichung von Informationen war ein Kernattribut meines Lehrers. Die Eingangstür dieses seltsamen Gebäudes öffnete sich kurz und schloss sich sofort wieder ohne ein Geräusch. Ich war mir sicher, dass Archibald gerade hineingegangen war, aber auch nach mehrmaligem Ansehen des Videos konnte ich ihn nicht sehen. Der Lehrer, der zehn Minuten später zurückkam, fand mich genau so vor. Ein schlaffer Körper in einem langen, weiten weißen Gewand war über die Schultern des Catorianers drapiert. Es stellte sich heraus, dass es Garlion war. Der Elf war bewusstlos.
„Das ist unser Passierschein für die Bibliothek.“
Archibald warf mir den Körper meines langohrigen Feindes vor die Füße und bedeutete mir mit einem Wink seiner Hand, dass ich jetzt das Lasttier spielen sollte. Also hievte ich die leblose Gestalt des Elfen auf meinen Schultern. Ich konnte einen charakteristischen süßen Geruch vernehmen, der darauf hindeutete, dass diese leise schnüffelnde Kreatur eher ein chemisches Schlafmittel als einen kräftigen Schlag auf den Kopf bekommen hatte. Frustriert fluchte ich, schlug Garlion auf den Kopf und drehte sein Gesicht von mir weg.
Archibald grinste nur und öffnete das nächste Portal. Ohne viel Aufhebens schleuderte ich den Körper des Elfen direkt in das Portal. Nach allem, was er mir in der Zitadelle angetan hatte, würde ich ihn nicht sanft behandeln. Sollte er mir ruhig als Übungsmaterial dienen. Ich sprang hinter ihm her in das Portal. Der Katzenmann bildete die Nachhut, denn er wollte sichergehen, dass sich keine „freundlichen“ Nekromanten in der Nähe aufhielten.
„Mach es dir bequem.“ Archibald erschien direkt hinter uns.
Ich schaute mich interessiert um. Der Ort, an dem wir gelandet waren, war eine einfache Wohnung in einer Stadt. Leider war sie zu gewöhnlich, um anzunehmen, dass sie irgendeine persönliche Bedeutung für meinen Lehrer haben könnte. Hinter dem Fenster war ein Panorama einer fremden Großstadt zu sehen, die sich deutlich von Moskau unterschied.
„Was - ist der Entdecker in dir aufgewacht?“ Archibald war mein Interesse an der Wohnung nicht entgangen. „Da muss ich dich gleich enttäuschen: Das ist nur ein Zwischenstopp. Nur, um nach ungebetenen Verfolgern Ausschau zu halten und eine Verschnaufpause einzulegen.“
„Die Wahrscheinlichkeit liegt bei 90 Prozent, dass niemand in dieser Wohnung lebt.“ Steve bestätigte die Worte, nachdem er die verfügbaren Daten analysiert hatte. „Zu viel Staub.“
Es stimmte. Ein flüchtiger Blick auf die spärliche Einrichtung zeigte, dass die Bemerkung berechtigt war: Eine dicke Staubschicht hatte sich auf alles gelegt. Und ich hatte nie den Eindruck gehabt, dass Archibald unordentlich war.
„Du solltest unseren Bibliothekskrieger mit etwas mehr Sorgfalt behandeln. Sonst geht er zum Respawn, bevor er die Chance hat, uns alles zu erzählen.“ Der Elf war in der Tat unsanft in einem Sessel gelandet, kopfüber, sodass die Füße in der Luft baumelten. Sein Gesicht war verschmiert — offenbar war es durch den Staub gerutscht und hatte seinen Sturz gebremst. Seine rechte Hand war zudem unnatürlich verdreht. Das Gewand war hochgerutscht und zeigte seine langen Beine in einer Lederhose.
„Ihm wird nichts passieren“, murmelte ich, nahm aber seine Füße vom Sessel und setzte seinen Körper vorsichtig auf den Boden. „Was war das für eine Maskerade, die er auf dem Friedhof veranstaltet hat?“
Mein Lehrer ließ sich in den anderen Sessel plumpsen, nachdem er ihn zuvor vom Staub befreit hatte.
„Ist dir nicht aufgefallen, wie viele Elfen es hier gibt?“ Ich nickte - es wäre schwer, das nicht zu bemerken. „Elfen haben sehr enge Familienbande. Sie bewahren die Aufzeichnungen ihrer Genealogie aus der Zeit eines jeden Neustarts. In jeder Welt gründen sie ihre Gemeinschaften. Elfen sind die am weitesten verbreitete Rasse auf der Erde, deshalb geben sie sich bei einigen Dingen sehr viel Mühe. Sie bauen Gruften für sich selbst. Denkmäler. Sie versuchen, die Erinnerung an diejenigen zu bewahren, die unwiderruflich ausgelöscht wurden. Es sind seltsame Kreaturen. Ich habe Garlion mit der Andeutung gefüttert, ich hätte seine Familiengruft zerstört. Zur Hölle mit all seinen Vorfahren! Er hat sofort überprüft, ob das stimmt. Diese langohrigen Trottel benutzen Roben, um NPCs und neugierige Spieler zu verscheuchen. Aufgrund ihres Körperbaus sehen sie in solchen Gewändern eher wie Frauen aus, und so sind viele Legenden entstanden.“
Trotz seiner ruhigen Stimme und seines scheinbar entspannten Gesichts war Archibalds Haltung immer noch angespannt.
„Glaubst du, dass uns jemand folgen wird?“
Archibald zuckte mit den Schultern. „Lass uns ein paar Minuten warten. Ein Portal auf die andere Seite der Welt ist teuer. Wenn uns tatsächlich jemand verfolgen würde, müsste er zumindest dafür bezahlen. Und du, Schüler, nimm das zur Kenntnis: Es ist nützlich, eine Reihe von Zwischenstationen auf der ganzen Welt zu haben. Das macht es viel schwieriger, dich aufzuspüren.“
„Das nützt nichts, wenn ich Peilsender an mir habe.“ Ich konnte nicht garantieren, dass weder Gromana noch einer der Nekromanten, die Archibald getötet hatte, so etwas an mir angebracht hatte.
„Deshalb habe ich schon vor einiger Zeit dafür gesorgt, dass alle Spuren beseitigt werden“, erwiderte der Catorianer. „Wenn wir an unserem Ziel angekommen sind, werde ich dir beibringen, das selbst zu tun. Iven hatte recht — es ist nicht gut, wenn deine Schüler wie ein Tannenbaum für die ganze Spielwelt leuchten. Das lässt mich schrecklich aussehen... Gut, gehen wir weiter. Du wirst Garlion tragen.“
Das nächste Portal brachte uns in ein warmes Iglu inmitten der weißen Wüste der Antarktis. Es folgte eine tatsächliche brütend heiße Wüste und dann, zu meiner kindlichen Freude, eine Luftblase, die irgendwo in den Tiefen eines Ozeans schwebte. Archibald achtete äußerst sorgfältig darauf, dass uns niemand auf unserem Weg begleiten konnte.
In der Blase beschloss der Catorianer schließlich, sich daran zu erinnern, dass er ein Lehrer war. Doch zuvor legte er eine Kuppel der Stille über uns.
„In unserer Branche“, vermutlich sprach er von Killern, „verlassen sich nur die Faulen zu sehr auf Ausrüstung und Peilsender. Ein Spieler sollte sich in dem Gebiet, in dem das Portal geöffnet ist, wirklich den Arsch aufreißen, um seiner Beute zu folgen. Auf der Erde gibt es keine Jäger, die in der Lage wären, mich aufzuspüren, aber Lumpen oder Bernard könnten die besten von anderen Welten anheuern. Doch egal, wie gut sie sind, sie haben ihre Schwächen. Meistens hat das mit der Umgebung zu tun, die sie brauchen. Einige vertragen keine Kälte, während für andere Hitze oder Wasser tödlich wären. Wenn sie sich an einen gefährlichen Ort teleportieren, aktivieren sie instinktiv alle ihnen zur Verfügung stehenden Schutzmaßnahmen. Das führt zu einer Störung der Umgebungsenergie. Das ist der Moment, in dem wir …“
Das Schwert des Catorianers zischte aus der Scheide und durchstieß die Luft über seinem Kopf. Mein Lehrer zog die Waffe zu sich heran, und es war ein unangenehmes Quieken zu hören, als ein braunes, pelziges Wesen auf den Boden der Kuppel fiel. Ich konnte weder Augen noch Mund erkennen. Auch Gliedmaßen waren nicht zu sehen. Es sah aus wie ein Fellknäuel, oder wie ein Zierkissen. Archibald kickte ein Fläschchen mit einem Heiltrank weg, das wie aus dem Nichts aufgetaucht war: Das Kissen hatte seine Energie wiederherstellen wollen.
Der Katzenmann beugte sich über seinen Feind und sagte mit der ihm eigenen Höflichkeit: „Darlangir, sag deinem Besitzer, dass ich ihm jederzeit zur Verfügung stehe, wenn er mir seine Aufwartung machen will. Er weiß, wie man die Erde erreicht.“
Ein Zittern ging über die Oberfläche des pelzigen Balls, und Archibald erledigte die Kreatur mit seinem Dolch. Der Körper schimmerte, als er zum Respawn ging.
Damit war die angenehme Einlage als „Fürsorglicher Lehrer“ beendet — er machte sich nicht die Mühe, mir zu erklären, was da gerade passiert war. Stattdessen öffnete der das nächste Portal und holte eine Zeitbombe aus seinem Inventar. Dieser Ort war kompromittiert und musste zerstört werden.
„Das ist wohl eher die Höhle eines alten Hasen des Spiels“, meinte ich mit Blick auf den neuen Ort. Das Portal hatte uns in einen dunklen, steinernen Raum geführt, der wie ein hochmodernes Labor eines verrückten Wissenschaftlers eingerichtet war. Meine Karte spielte verrückt, als ich versuchte, unseren Standort herauszufinden. Dunkle Gebiete auf verschiedenen Kontinenten blitzten nacheinander auf, ohne dass ich mich auf einen bestimmten festlegen konnte.
„Rechne nicht mit großer Gastfreundschaft. Das ist nicht gerade meine Stärke, wie du weißt.“ Verärgert erschien Archibald neben mir und deaktivierte das Portal, das ihn hereingebracht hatte. „Bleib dicht bei mir und sei vorsichtig mit Garlion, sonst schafft er es nicht bis zur Endstation.“
Ich machte mir nicht die Mühe, meinen enttäuschten Seufzer zu verbergen, denn eigentlich wollte ich alles erkunden, mir jeden Winkel ansehen und die Gastfreundschaft meines Gastgebers tatsächlich zu gutem Nutzen bringen. Mit einem säuerlichen Blick zog ich den Elfen näher zu meinem Lehrer. Der Catorianer schnippte mit der Pfote, und eine schimmernde Plattform senkte sich von der Decke. Es stellte sich heraus, dass das ein Aufzug war. Die sanfte Bewegung und die Abwesenheit von Fliehkräften machten die Fahrt nach unten zu einer sehr angenehmen Sache. Wir fuhren durch Öffnungen in den Trennwänden zwischen den Stockwerken, aber sobald wir uns unter einer Decke befanden, schlossen sie sich wieder.
Nachdem wir drei oder vier Stockwerke passiert hatten, hielt die Plattform an und verschwand, sodass wir auf dem Boden standen. Ich sah mich um und schluckte nervös: Wir befanden uns in einer echten Folterkammer. Archibald ging zum nächstgelegenen Tisch, als wäre er hier zu Hause, und zeigte mir mit einer Handbewegung, wo ich unseren immer noch bewusstlosen Elfen abladen sollte. Ich beobachtete die routinierten Bewegungen meines Lehrers, als er den Körper festband. Es war klar, dass dies für ihn ein alltägliches Ereignis war, über das er sich nicht grämen würde.
Archibald schüttete dem Elfen etwas grüne Flüssigkeit in den Mund und ließ sich auf der Tischkante nieder.
Erstaunlicherweise kam der Elf sofort zu sich und wurde sich ebenso schnell der Veränderungen in der Realität um sich herum bewusst.
„Die Pest über dich, Catorianer!“, bescherte Garlion sich lautstark.
Bescheidenheit war noch nie seine Stärke gewesen, und so ruckelte er zunächst leise herum, aber dadurch zogen sich die Gurte nur noch fester. Als er erschöpft war, fing der wütende Elf an, irgendwelche Kräfte herbeizurufen, um meinem Lehrer alles Mögliche an Ungemach auf den Kopf regnen zu lassen. Die jahrelange Arbeit in der Bibliothek hatte ihn zu einem erstaunlich kreativen Flucher gemacht — er hielt nur ab und zu inne, um Luft zu holen. Aber Archibald war von den Bemühungen des Elfen nicht beeindruckt.
„Es gibt zwei mögliche Szenarien. Erstens: Du gibst mir sofort den Zugangsschlüssel zum geschlossenen Bereich und sagst mir, wo Arthurs Aufzeichnungen aufbewahrt werden. Aus Dankbarkeit schicke ich dich dann zum Respawn.“
„Schieb dir deine Dankbarkeit in den Arsch.“ Garlion schaffte es tatsächlich, in Richtung meines Lehrers zu spucken. „Du weißt ganz genau, dass das Spiel mich selbst auslöschen wird, wenn ich meine Pflichten verletze!“
„Dann habe ich keine andere Wahl.“ Archibald grinste. „Bevor du mir den Schlüssel und die Informationen gibst, werde ich alle mir bekannten Foltermethoden ausprobieren. Glaube mir - ich kenne einige Dinge, die deinen neugierigen Bibliothekarsgeist überraschen werden. Ich bin mir sicher, dass du manches davon nicht in deinen Büchern gefunden hast. Danach wird dich das Spiel sowieso auslöschen.“
„Die Kraft von Elrads ist mit mir! Du wirst nichts mit mir anstellen können!“ Garlion lachte hysterisch, aber Schweißperlen auf seinem Gesicht verrieten seine Zweifel.
„Oh doch“, sagte Archibald ohne unnötige Emotionen. „Ich habe das Recht dazu.“
„Du bist nicht das Oberhaupt!“ Garlions Stimme verwandelte sich in ein Quieken.
„Das bin ich nicht, aber aufgrund gewisser Umstände wird mich die Kraft Elrads nicht daran hindern.“ Archibald erhob sich bedrohlich über den Elfen, der versuchte, zurückzuweichen. „Du gehörst mir, Garlion. Mir allein. Willkommen im legendären Avalon!“
Das Gesicht des Elfen verzog sich, als hätte er etwas Schreckliches gehört. Steve und mir dagegen verhalfen diese Informationen nicht dazu, den genauen Ort herauszufinden. Ich hatte noch nie etwas von Avalon oder der Stärke Elrad gehört. Während ich versuchte, die Bedeutung des Dialogs zwischen dem Elfen und dem Catorianer zu verstehen, machte Garlion einen Versuch zu verschwinden. Bei dieser Anstrengung lief ihm der Schweiß über das Gesicht, seine Nase begann zu bluten, sein Körper schimmerte und begann zu verblassen, doch er verschwand nicht vollständig. Offenbar war das die Kraft Elrads. Mit einem Seufzer und einem Stöhnen krachte der Elf bewusstlos zurück auf den Tisch. Ein weiterer Augenblick, und sein Körper nahm wieder feste Form an.
Archibald schüttete Garlion einen weitern Heiltrank in die Kehle, wartete, bis er wieder zu sich kam, und fuhr fort: „Nun, da wir beide die Situation verstehen, wie sie ist, stelle ich dich erneut vor eine Wahl.“
„Ich kann nicht.“ Der Elf sah wehleidig aus. Tränen kullerten über das Gesicht des Hochgeborenen. „Das Spiel macht mir mehr Angst.“
„Und das ist dein Fehler.“ Archibald schlug dem Elfen mit dem Schwanz ins Gesicht und zückte eine Handsäge. „Nichts Persönliches, Garlion. Du stehst nur zufällig zwischen mir und meinem Ziel...“
Garlion ergab sich eine halbe Stunde später. Mir hatten schon ein paar Minuten gereicht. Der Catorianer stand zu seinem Wort. Ohne unnötige Sentimentalität war er wie ein großer Musiker, der Garlions Körper wie ein selbst erfundenes Musikinstrument benutzte, um immer neue Töne von Schreien und Gnadengesuchen hervorzubringen. Ich hatte nicht den Mut gehabt, mich ganz abzuwenden — das hätte mir der Katzenmann nie verziehen –, also hatte ich auf den Boden gestarrt und versucht, mich von dem, was da vor sich ging, loszulösen. Es war einfacher, jemanden zu foltern, als der Folter zuzusehen. Bei Ersterem fand man unweigerlich die richtige Einstellung, und die bleierne Einsicht, dass die Folter notwendig war, konnte sogar ein gewisses Vergnügen hervorrufen. Aber dieses Mal war ich dankbar, dass Archibald mich nicht gezwungen hatte, ihm zu helfen, und dass er seine Rolle des strengen Lehrers vergessen hatte. Er zog es vor, seine Erfahrungen auf diesem Gebiet nicht mit mir zu teilen, und ich beschloss leichten Herzens, dass ich, da der Neustart kurz bevorstand, nicht wirklich wissen musste, wie man lebenden Spielern die Haare abbrannte oder wie man einen Schlangensauger dazu brachte, ihnen die Augen auszufressen.
Während ich in dem fruchtlosen Versuch, die Geräusche auszublenden, an der Tür gestanden hatte, hatte ich trotz meiner früheren Erfahrungen mit ihm Respekt vor Garlion empfunden. 30 Minuten waren eine sehr lange Zeit, wenn jede Sekunde davon mit unermesslichen Qualen ausgefüllt war. Er hatte bis zum Schluss versucht, stark zu bleiben, war immer wieder fast an seinen eigenen Schreien, Erbrochenem und Blut erstickt, während er den nächsten Teil des Schlüssels für den gesperrten Bereich geflüstert hatte. Und jedes Mal hatte Archibald ihn schwören lassen, dass er die Wahrheit sagte - vom ersten Mal an, als er kein einziges Passwort hatte nennen wollen. Ich wusste nicht, was der arme Kerl sich erhofft hatte, aber das Spiel hatte ihn verraten und in einen schwarzen Nebel gehüllt, der eine neue Welle von Schmerz und Leid brachte. Allein das Zuhören war schon eine Qual für sich.
„Genug... Hör auf... Ich habe dir fast alles gesagt...“ Aus dem ehemaligen Mund kam nur noch ein heiseres Flüstern. Garlion hatte seine Stimme schon vor einer Weile verloren. Der Elf gab auf und rief krächzend das Spiel an, um zu bezeugen, dass er dieses Mal die Wahrheit sagte. Das schneeweiße Glühen bestätigte seine Worte. Die Tat war vollbracht. Der Kopf des Elfen baumelte apathisch umher, aber Archibald ließ sein Opfer nicht in Ruhe. Jede vergessene Kleinigkeit konnte den gesamten Plan gefährden.
Ein weiterer Heiltrank brachte Garlion wieder zu sich, und der Catorianer fuhr mit seinem Verhör fort.
„Wie viel Zeit haben wir, bis der Schutz aktiviert wird?“
„30 Sekunden“, antwortete der Elf mit dem gebrochenen Herzen apathisch, und das weiße Licht bestätigte auch das.
„Wo sind Arthurs Aufzeichnungen?“
„Das Stück, das du suchst, befindet sich in Abteilung 25, der achte Eintrag von rechts.“ Das Gedächtnis des Bibliothekars war perfekt, und er konnte sich auch ohne Kataloge und dergleichen in der Bibliothek zurechtfinden. „Aber es sind nicht Arthurs Aufzeichnungen. Sie wurden bei dem Angriff der Dämonen zerstört. Weißt du noch? Du suchst nach Merlins Tagebuch. Das Dokument, das ich erwähnt habe, wird dich zum Tagebuch führen. Ich schwöre es beim Spiel!“
Wieder blitzte weißes Licht auf. Ich zwang mich, aufzublicken. Der verstümmelte Körper des Elfen lag immer noch an der gleichen Stelle. Es war das erste Mal, dass ich eine Kreatur ohne Tränen weinen sah, denn sie hatte keine Augen und keine Tränenkanäle mehr. Nur ein Durcheinander von Knochen, Fleisch und Blut.
„Siehst du, wir haben gerade so viel Zeit verloren... und du dein hübsches Gesicht.“ Archibald fasste die Situation zusammen und berührte eine elektronische Tafel an der Wand neben sich.
Der Tisch, auf dem Garlion lag, begann in ein Becken zu rutschen, das sich darunter öffnete. Ich spürte einen kalten Luftzug, und ein frostiger Nebel umhüllte den Körper, als er untergetaucht wurde.
„Du hast versprochen, mich zum Respawn zu schicken“, flüsterte der Elf.
„Ja, das habe ich, aber ich habe meine Meinung geändert. Das hat zu lange gedauert. Es ist unklug, Feinde zurückzulassen, insbesondere solche, die einen Groll gegen meine Schüler hegen. Süße Träume, Elf.“
„Verflucht seist du...“ Garlions Schrei ging in der rauchenden Flüssigkeit unter.
Steve analysierte, was wir sahen, und kam zu dem Schluss, dass der Elf stabilisiert und in flüssigen Stickstoff gelegt worden war, damit der Spieler nicht respawnen würde.
„Komm mit. Ich werde dir einen Gefallen tun und dir etwas Interessantes zeigen“, sagte mein Lehrer knapp.
Er verfrachtete Garlions gefrorenen Körper mit Leichtigkeit in einen Transportwagen und rief den Aufzug, den wir zuvor benutzt hatten. Nachdem wir den Wagen auf die Plattform gestellt hatten, fuhren wir ein paar Stockwerke nach unten und erreichten eine riesige gefrorene Höhle. Ich sah mich um, konnte aber nichts besonders Interessantes entdecken. Die Sicht war durch mit Frost bedeckte Säulen und einige Steine verdeckt, die auf den ersten Blick nach nichts Besonderem aussahen.
„Mister Archibalds Eismuseum.“ Der Catorianer schob den Wagen grob an, und der gefrorene Garlion rollte mit einem Klirren zu Boden. Ich war mir nicht ganz sicher, wovon er sprach, und warf einen genaueren Blick auf die nächstgelegene Säule, wo sich die Umrisse einer humanoiden Gestalt vage durch den Frost abzeichneten. Ein paar Kratzer auf der eisigen Oberfläche überzeugten mich davon, dass ich mich nicht irrte. Alle diese Säulen und Felsen waren auf die gleiche Weise gefroren wie Garlion. Es war eine ganz schöne Truppe, die er da versammelt hatte.
„302!“ Steve konnte viel schneller zählen als ich. Mein Unterbewusstsein war schockiert über das Ausmaß des persönlichen Friedhofs des Katzenmannes. „302 gefrorene Spieler! Der Catorianer ist ein Ungeheuer!“
Ich stimmte sowohl ihm als auch Archibald voll und ganz zu. Man musste sich seine Feinde nahe halten. Was lag da näher als das eigene Zuhause? Er war ein verdammtes Genie, das auf einer Gruft voller hoffnungslos eingefrorener Feinde lebte. Das war weitaus besser, als wenn sie respawnen und sich auf einen neuen Kampf vorbereiten würden, nachdem sie ihre Erfahrung und ihre Fähigkeiten verbessert hätten.
Bewundernd schlenderte ich zwischen den Leichen umher, die als Monumente für sich selbst dienten. Steve untersuchte die Statuen und markierte zwei von ihnen, damit ich ihnen besondere Aufmerksamkeit schenkte. Die erste war die Statue von Don Fabio. Seine Anwesenheit überraschte mich nicht: Der Nekromant verdiente ein weitaus schlimmeres Schicksal für all seine Missetaten. Wenn ich Archibald gewesen wäre, hätte ich ihn einfach ausgelöscht. Die andere Statue verwirrte mich. Wie konnte es passieren, dass Dolgunatas Bruder in der Gesellschaft von Idioten, Bastarden und den Feinden des Catorianers gelandet war? Im Gegensatz zu den anderen „Bewohnern“ waren Sakhrays Gesicht und seine Haltung ruhig, als hätte er freiwillig zugestimmt, eingefroren zu werden.
„Du solltest mir dankbar sein, Garlion. Ich habe dich in die Nähe der Großen gestellt.“ Archibald war dabei, den Elfen zu platzieren, und hob die dröhnende Stille durch sein Gespräch mit dem neuen Ausstellungsstück auf.
„Du wolltest sagen, dass du ihn den Großen zu Füßen gelegt hast?“, antwortete ich und dachte an die zerschmetterten Gliedmaßen des Elfen.
Mein Lehrer schnaubte hinter meinem Rücken. „Für ihn ist es sogar eine Ehre, zu den Füßen solcher Spieler zu liegen. Er genießt die Aussicht!“
„Womit hat Sakhray eine solche Freude verdient?“ Ich nickte in Richtung der Statue und sah Archibald an. Einige Ideen schossen mir durch den Kopf, und ich deutete offen die realistischste an. „Pech mit der Verwandtschaft?“
„Du hast es richtig erraten. Er ist der Anker, der Dolgunatas Geist in ihren Körper bringen kann“, bestätigte Archibald. „Madonna ist auf der Suche nach ihm, und wenn er bei Bewusstsein wäre, hätte sie ihn bereits ausgelöscht. In Anbetracht seiner Fähigkeit, sich zu verstecken... haben wir so alle weniger Sorgen.“
„Es wäre dumm zu fragen, wie bald du Sakhray wieder brauchen wirst, nicht wahr?“ Ich versuchte, vorsichtig herauszufinden, was Archibalds Pläne in Bezug auf Dolgunata waren. Es schien, als hätte ich die Druidin vorschnell abgetan: Archibald hatte in seinem Spiel gegen die Große noch ein paar Asse im Ärmel.
Der Lehrer machte sich nicht einmal die Mühe, mir zu antworten, drehte sich um und ging in Richtung des verlassenen Wagens. Ich folgte ihm und wechselte vorsichtshalber zu einem Thema, das mich genauso interessierte.
„Meine Navigationskarte spielt immer noch verrückt, weil sie unseren Standort nicht herausfinden kann. Wird der größte aller Lehrer seinen dummen Schüler über seinen geheimnisvollen Unterschlupf in Avalon aufklären? Komm schon, sei nicht gemein, Archibald. Ich versuche nicht, in meinem Unterricht nach vorne zu springen, und ich bin gehorsam. Selbst Garlion wusste mehr darüber als ich! Ich habe mein Artefakt durchforstet — Avalon wird nirgends erwähnt!“
„Ich stimme zu, dass das ein Versäumnis meinerseits war. Aber wie du gesehen hast, war es nicht einfach, Zugang zu den gesperrten Bereichen zu bekommen, sodass ich auch dort Informationen über mein Versteck löschen musste.“ Archibald grinste. „Frag mich etwas anderes.“
Der Catorianer deutete mit der Pfote auf den Wagen und befahl mir so, meinen Trägerjob wieder aufzunehmen. Dann rief er den Aufzug.
„Du hast hier so viele interessante Dinge. Dieser Aufzug stammt offensichtlich nicht aus unserer Zeit, und doch benutzt du ihn ohne Probleme, und du machst dir keine Sorgen, dass das Spiel ihn zerstören könnte. Ist Avalon wie die Akademie? Wie ein Gebiet außerhalb von Zeit und Raum?“
„Du lässt mich wohl niemals in Ruhe, was?“ Archibald war langsam gereizt. Die Anspannung der letzten Stunden forderte ihren Tribut.
„Darf ich mir wenigstens die Bibliothek ansehen?“, fragte ich bestürzt, denn mir war klar, dass ich nichts über Avalon herausfinden würde. „Oder ist Archibalds Sammlung nichts für Dummköpfe?“
„Was für ein kluger kleiner Junge.“ Das böse Lächeln des Katzenmannes sprach Bände, also zuckte ich nur mit den Schultern und tat so, als würde mich das Schloss um uns herum gar nicht interessieren. Steve würde auf jeden Fall alles aufzeichnen und nach Kategorien sortieren. In der Zwischenzeit hatte ich nicht vor, Archibald zu belustigen, indem ich versuchte, die Neugier zu verbergen, die in mir aufkeimte. Aber ich war verletzt.
Diesmal war unsere letzte Station Archibalds persönliches Büro. Das Feuer im Kamin, die weichen Ledermöbel, der antike Schreibtisch und andere Dinge wiesen den Lehrer als jemanden aus, der den bequemen britischen Stil bevorzugte. Anspruchs- und geschmackvoll, wie alles an Archibald.
„Willkommen. Aber fühl dich nicht wie zu Hause“, sagte der Lehrer knapp und ließ sich auf einem Stuhl neben dem Kamin nieder. Während ich den Catorianer beobachtete, wie er grunzte und vorsichtig seine Füße in die weiche Decke kuschelte, fand ich nicht sofort einen Platz für mich, an dem ich sitzen konnte. Das Sofa war zu weit weg, die Stühle an der Wand waren für ein vertrauensvolles Gespräch nicht geeignet... also wählte ich schließlich den anderen Sessel, mit der gleichen Decke wie der des Gastgebers. Nach einigem Nachdenken legte ich den Überwurf beiseite. Schließlich hatte man mir sehr direkt gesagt, ich sollte die Grenzen der Gastfreundschaft nicht überschreiten.
„Also, oh mein Schüler, dem plötzlich ein Gehirn gewachsen ist“, begann Archibald nach einer längeren Pause, immer noch mit Blick auf das Feuer. „Ich schlage vor, dass du mein Vasall wirst und deinen Ankerpunkt nach Avalon verlegst.“
„Ich akzeptiere“, stimmte ich sofort zu, denn mir war klar, dass ich vielleicht nie wieder eine solche Chance bekommen würde. Ich hatte keine Zeit, zu überlegen, ob das eine Falle sein könnte - ich musste meinen Ankerpunkt so schnell wie möglich wechseln. Nur war die Auswahl nicht gerade groß... die Zitadelle oder Avalon. Aber ich würde Letzteres tausend Zitadellen vorziehen!
„Gut. Sprich mir nach.“ Archibald sprach die Worte des Vasallenschwurs und machte sich nicht einmal die Mühe, vom Stuhl aufzustehen. Er machte sich auch nicht die Mühe, sich überhaupt zu bewegen — als ob das alles nur eine Kleinigkeit wäre –, während meine Handflächen vor Sorge schwitzten. Sobald ein Blitz zwischen uns aufleuchtete und die Vereinbarung bestätigte, ließ sich ein mechanischer Manipulator von der Decke herab und tätowierte mir schnell das Emblem meines neuen Herrn auf die Schulter. Ein silberner Hammer vor einem goldenen Schild. Ich hatte kaum Zeit, die neue Tätowierung zu betrachten, als der Manipulator die Zeichnung verdeckte und die Stelle die gleiche Farbe wie meine Rüstung erhielt. Ich war etwas verwirrt.
„Es ist keine gute Idee, jemandem von deinem neuen Status zu erzählen“, stellte Archibald klar. Kam es mir nur so vor, oder hatte seine Stimme tatsächlich einen kaum hörbaren Hauch von Wärme angenommen? Zumindest hörte ich darin nicht mehr seinen früheren Sarkasmus. „Leg deine Hand dorthin, um den Ankerpunkt zu wechseln.“
Ein weiterer mechanischer Arm kam von der Decke herunter, scannte meine Netzhaut und nahm meine Fingerabdrücke. Die Maschine summte eine Weile, dann klickte es, und ich spürte einen leichten Stich. Ein Blutstropfen fiel auf das Touchpad, und während er aufgesogen wurde, blinkte vor meinen Augen eine Nachricht auf, die mich über die Änderung meines Ankerpunkts informierte. Ich war erstaunt über diese automatische Änderung des Respawn-Punktes und fragte meinen Lehrer, was das alles sei.
„Das ist ein Mechanismus aus der dritten Epoche“, erklärte Archibald, erfreut über die Wirkung, die er auf mich hatte. „Der Imperator hat mir freundlicherweise erlaubt, drei Gegenstände aus jeder Epoche, einschließlich der ersten, für den persönlichen Gebrauch zu behalten.“
Mein innerer Entdecker entwickelte sofort eine Besessenheit, die sich in meinem Gesicht widerspiegeln musste.
„Nein, mein ungeduldiger Schüler, denk nicht einmal im Traum daran. Vielleicht irgendwann einmal... für einige herausragende... nun, eigentlich nur Nein. Aber ich verspreche dir, dich bis zum Neustart ab und zu mit kleinen Leckereien zu verwöhnen. Kommen wir also zur Sache! Reden wir über die wirklich wichtigen Dinge.“
Ein kleiner Metallgegenstand wurde nach mir geworfen, und es kostete mich einige Mühe, ihn aufzufangen. Als ich ihn in der Hand hatte, erkannte ich, dass es sich um einen massiven Kasten mit einer mechanischen Zeitschaltuhr handelte.
„Lokaler Leuchtspurreiniger“, kommentierte der Catorianer. „Ich habe jetzt keine Zeit, dich zu unterrichten. Dreh die Zeitschaltuhr um einen vollen Kreis. Dieses Gerät wird dich einmal pro Stunde automatisch von den Peilsendern der anderen befreien. Das ist genug, um relative Sicherheit zu gewährleisten.“
„Abgesehen von deinen Sendern natürlich“, wollte ich hinzufügen, aber ich hielt mich nicht mit solchen leeren Aussagen auf. Das war sowieso klar. Der Catorianer erklärte mir, wie ich die Gerätesteuerung in mein Interface einbetten und dafür sorgen konnte, dass sie vor anderen verborgen war, damit „informierte“ Kreaturen sie nicht bemerken und mir wegnehmen konnten. In dieser Hinsicht kannte Archibald seinesgleichen. Er hatte sich mein Outfit und meine Verbesserungen genau angeschaut. Dann befahl der unzufriedene Katzenmann mir, alle Amulette wegzuwerfen. Nicht um sie zu versteigern, sondern um sie komplett zu vernichten. Denn so einen ekligen Müll wie den, den ich von Bernard bekommen hatte, bekäme man selten zu sehen. Das Einzige, was Archibald gefiel, waren meine Juwelen, die ich aus dem Dungeon mitgebracht hatte und die zehn Level brachten. Nach kurzer Überlegung trug er mir jedoch auf, sie ebenfalls von meiner Rüstung zu entfernen. Im Anblick meines fragenden Gesichtsausdrucks bemerkte er, dass solche Edelsteine für mich wirklich cool sein könnten, aber weit unter seinem Niveau für seinen Vasallen. Laut Archibald sollte sein Vasall solche Dinge nicht tragen — oder vielleicht höchstens als Dekoration. Er durchwühlte seine eigenen Bestände. Dann warf der Catorianer mir großzügig einen Haufen von 20 funkelnden Steinen in den Schoß. Mein Lehrer war nicht geizig. Die Eigenschaften jedes dieser Edelsteine waren dem Level all meiner eigenen dürftigen Schätze zusammengenommen um mehrere Größenordnungen überlegen. Und all diese Reichtümer wurden ohne die Beteiligung von NPCs oder anderen Spielern installiert! Anscheinend hatte Archibald für jede Aktivität einen speziellen Roboter oder ein mechanisches Gerät. Die komplette Überholung meiner Rüstung war ein angenehmer zusätzlicher Bonus. Das letzte Mal, dass ich zum Respawn gegangen war, war vor der Reinkarnation von Madonna passiert, also hatte der Schaden, den meine Rüstung auf dem Lecleur-Anwesen erlitten hatte, meine Rüstung noch beschädigt. Die Metallarbeiter in der Zitadelle hatten sie einfach geflickt und den Schutz wiederhergestellt, aber ihr Aussehen war wirklich beschissen. Ich war nie ein eitler Pfau gewesen, aber mit diesem geflickten Krempel herumzulaufen, war trotzdem nicht gerade ein Spaß.
„Nun komm her. Wir machen ein bisschen Körperkunst - oder besser gesagt Rüstungskunst“, fuhr Archibald fort, nachdem er nun zufrieden damit war, wie er mich ausgestattet hatte. Um seine Idee umzusetzen, holte er einen eleganten Stift aus seinem Inventar und begann, Stromleitungen direkt auf meine Rüstung zu zeichnen. Archibald benutzte seine eigene Energie des Lichts, um die Linien aufzutragen und mein Daro-Set in die Legendäre Variante zu verwandeln, und ich war unendlich froh darüber. Wirklich, als ein Wesen, das überhaupt nicht daran gewöhnt war, etwas umsonst zu bekommen, hatte ich gerade zusätzlich zu all dem oben Genannten ein Anti-Grav erhalten, das es mir ermöglichen würde, wie ein Vogel auf eine Höhe von bis zu einem Kilometer aufzusteigen, sowie einen Dreifachgeschwindigkeitsbeschleuniger. Ich war tatsächlich bereit, meinen Lehrer anzubeten für dieses unvergleichliche Gefühl, allmächtig zu sein! Es war, als würde man in den Club der Gottheiten im Olymp aufgenommen!
Die blauen Linien auf der Rüstung funkelten und knisterten weiter von der enormen Menge an Energie, die gerade in sie geflossen war, bevor sie verblassten und kaum wahrnehmbare Spuren auf dem Metall hinterließen. Jetzt musste ich nur noch herausfinden, worin die verbesserten Eigenschaften bestanden.
„Verteidigung und Angriff“, erklärte Archibald. „Wenn jetzt eine Gromana beschließt, sich ohne meine Erlaubnis mit dir zu unterhalten, wird sie ihre Meinung schnell ändern.“ Der Catorianer trat einen Schritt zurück, um das Ergebnis seiner Arbeit zu begutachten. „Du wirst sie nicht tot umfallen lassen, aber du wirst jetzt ernsthaften Biss haben. Vor allem aber wirst du überleben können. Und schließlich, liebes Aschenputtel, brauchst du Übung, um zu lernen, wie man das alles einsetzt. Sonst verwandelst du dich in einen Kürbis. Ich glaube mich zu erinnern, dass ich dir einen Trainingsplatz versprochen habe...“
Ich wusste nicht, wie es mir gelang, den Impuls zu unterdrücken, den freundlichen Catorianer in eine Umarmung zu verwickeln und durch den Raum zu tanzen. Vielleicht hielt mich der Gedanke davon ab, dass er einen solchen Ausbruch nicht zu schätzen wüsste und alle Geschenke zurücknehmen würde. Also stand ich einfach da, lächelte von einem Ohr zum anderen und strahlte vor unwirklicher Freude. Nur ein Gedanke schwirrte mir im Kopf herum: Ich hoffte, dass das nicht alles nur eine Halluzination war, entstanden durch das, was ich in der Folterkammer hatte sehen müssen. Aber nein, der Katzenmann schnaubte in seine Schnurrhaare und holte mich demonstrativ von meinen Irrfahrten auf den Boden der Tatsachen zurück, indem er versuchte, mir schnell zu erklären, wie dieses magische Gerät funktionierte. Schließlich hatte er es satt, meine Welpenaugen anzustarren, und schickte mich für sechs Monate in die Ausbildung.
Sechs Monate lang testete ich mein neues Outfit, lernte, meine neue Rüstung sowohl für die Verteidigung als auch für den Angriff zu nutzen und dachte über Gott und die Welt nach. Genauer gesagt über die Beweggründe meines Lehrers und seine unerwartete Vorliebe für meine Puppe.
Zuerst fühlte ich mich nur niedergeschlagen und glaubte, dass ich nur deshalb so oft an Helen dachte, weil ich einsam war. Aber je mehr Zeit verging, desto mehr wurde mir klar, dass ich in Selbsttäuschung versank. Allmählich war aus meiner leichten Verliebtheit eine veritable Abhängigkeit geworden. Diese Erkenntnis machte mich richtig wütend auf mich selbst, immerhin stand der Neustart kurz bevor! Die Zeit war einfach völlig falsch für diesen Schnickschnack. All das stand mir nur im Weg. Was für ein Idiot ich doch war! Ich musste mich auf das Geschäftliche konzentrieren!
Ich dachte über vieles nach und bewertete noch mehr neu. Die Hauptfrage, die mich beschäftigte, war: Warum musste Archibald seine Madonna aufziehen, sie zur Schlüsselmeisterin machen und ihr dann das Bewusstsein ihrer alten Inkarnationen einpflanzen? Mir schien, dass der Grund das gesamte Spiel von Archibald bestimmte.
Als ich praktisch zum gleichen Zeitpunkt zurückkehrte, zu dem ich gegangen war, fiel mir nichts Besseres ein, als die Frage, die mich beunruhigte, direkt an den Urheber dieses mehrstufigen Plans zu stellen. Archibald beeilte sich nicht zu antworten, als ob er überlegte, welchen Teil der Wahrheit er mir sagen sollte.
„Um das zu erklären, muss ich dir eine lange Geschichte erzählen. Bist du bereit zuzuhören?“ Ich nickte einfach und machte mich bereit, die Informationen aufzunehmen. „Bis zum ersten Neustart war die Welt wunderbar. Stell dir vor: Die gesamte Milchstraße war von intelligenten Wesen bevölkert. Alle lebten in relativem Frieden und Wohlstand. Das Gleichgewicht wurde von ihnen selbst aufrechterhalten, ohne jegliche Kontrolle von außen. Es gab einen ganz gewöhnlichen Spieler, der ruhig lebte, keine überragende Kraft oder Intelligenz zeigte und seine Puppe liebte. Der Spieler liebte seine Puppe so sehr, dass er beschloss, ihr die Freiheit zu gewähren und sie ebenfalls in einen Spieler zu verwandeln. So entstand die spätere Madonna. Nach ihrer Geburt verlor sie, wie jede extrem verwöhnte Frau, allmählich alle Eigenschaften, die der Spieler an Frauen am meisten geschätzt hatte. Die Liebe zwischen den beiden gehörte der Vergangenheit an, und irgendwann beschloss Madonna, dass sie etwas Besseres verdiente. Sie verließ den besagten Spieler und suchte nach einem stärkeren Lehrer und Mentor.
Während sie auf der Suche war, nahm ihre Persönlichkeitsveränderung drastische Ausmaße an. Ihr Ruhm wurde überall bekannt — sie wurde als aggressive und grausame Kriegerin dargestellt, und eine ehrgeizige obendrein. Wäre sie eine normale Frau gewesen, hätte der zukünftige Merlin sie wohl nie bemerkt. Sie war auf der Suche nach dem Stärksten, und sie fand ihn. Ein verrückter Lehrer und seine blutrünstige Schülerin. Sie spiegelte seine Neigungen wider, teilte seine Vorliebe für Gräueltaten und Experimente. Gemeinsam hassten sie die Welt und einander, aber ihre Allianz ermöglichte es ihnen, nie dagewesene Höhen zu erreichen. Absolute Macht und Blutgier taten, was sie sollten: Galaxien gingen unter ihren Händen zugrunde, aber das Spiel nahm alles hin. Ich glaube, dass ein Attentat auf den Imperator schließlich der Tropfen war, der das Fass zum Überlaufen brachte. Dieses Paar brachte das Spiel zum Einsturz — sie lösten den ersten Neustart aus.
Als er erfuhr, was ihnen bevorstand, schloss Merlin irgendwie einen Deal mit dem Spiel ab. Er würde sich, seine Schülerin und einen weiteren Spieler freiwillig für die neue Welt opfern, und dafür würde das Spiel Merlin und Madonna erlauben, die Liste der Auserwählten zu erstellen, die in die nächste Epoche übergehen durften. Dem Spiel war es egal, wie die Auswahl erfolgte — es ging ihm nur darum, das Machtgleichgewicht aufrechtzuerhalten und sicherzustellen, dass die drei Spieler über das enorme Energiepotenzial verfügten, das beim Neustart benötigt wurde. Merlin drängte darauf, dass er und seine Schülerin sowieso sterben würden und er deshalb an der Erschaffung der neuen Welt teilnehmen wollte. Merlin und Madonna, die mit sich selbst zufrieden waren, überzeugten den erwähnten Spieler, sich ihnen anzuschließen. Das war leicht, denn er fühlte sich für Madonnas Taten schuldig. So wurden also die ersten Teilnehmer des Neustarts festgelegt. Danach hatten Merlin und Madonna eine Rechtfertigung, mit den Säuberungen zu beginnen.“
„War das nötig? Beim Neustart würde das Spiel die Spieler, die es nicht auf die Liste geschafft hatten, zu NPCs machen.“ Ich bat um eine Klarstellung und erhielt ein bestätigendes Nicken.
„Das stimmt jetzt, aber beim ersten Mal waren sie es, die das gemacht haben. Merlin und Madonna hatten das alles mit einem einzigen Ziel vor Augen geplant: mehr als nur Spieler zu werden — ein integraler Bestandteil des Spiels zu werden. Natürlich hatten sie nicht vor, beim Neustart wirklich zu sterben. Bevor er seinen schlauen Plan umgesetzt hat, hat Merlin lange Zeit Experimente durchgeführt. Ich war bei diesen Experimenten dabei und habe geholfen, den Mechanismus für die Übertragung der Persönlichkeitsmatrix zu entwickeln. Die Idee ist einfach: Das Bewusstsein des Spielers wird zu einem bestimmten Zeitpunkt in einer Kristallmatrix gesichert und gespeichert. Nach einem Neustart wird die Matrix aus dem Kristall auf den Körper übertragen und die Persönlichkeit wiederhergestellt. Allerdings kann sich die Person nicht an die Ereignisse zwischen Sicherung und Wiederherstellung erinnern. Das erste Problem, auf das die beiden nach dem Neustart gestoßen sind, war die unvollständige Wiederherstellung der Persönlichkeit. Merlin war es in erster Linie darum gegangen, alle Kenntnisse und Fähigkeiten nach dem Übergang zu bewahren. Die Integrität des Bewusstseins war ihm völlig egal gewesen. Das zweite Problem war, ihre wichtigen Rollen auch in der neuen Epoche zu besetzen. Da tauchten die Tagebücher auf. Sie dienen unter anderem dazu, das notwendige Wissen über den Neustartprozess selbst zu vermitteln. Dies sind die Regeln, die in das Spiel eingebettet sind. Nun durchlaufen die Wesen zwei Phasen der Wiederherstellung: die primäre Initiation, wenn die Persönlichkeitsmatrix in den Körper des Subjekts eingebettet wird, und die Inkarnation, wenn der Spieler das aktivierte Tagebuch erhält.
Und nun die Antwort auf deine Frage: Was von Madonna und Merlin nach all diesen Neustarts noch übrig ist, ist unkontrollierbar und extrem gefährlich. Ihre Macht nimmt mit jedem Neustart zu, ebenso wie die Veränderungen in ihren Köpfen. Sie müssen sterben, sonst ist das Spiel dem Untergang geweiht. Madonna wird zuerst sterben, nachdem sie das Recht auf einen Neustart übertragen hat. Dann werde ich einen Weg finden, auch Merlin zu eliminieren. Dies ist nicht mein erster Versuch, sie zu vernichten. Ich habe viel Mühe auf Dolgunata verwendet. Ich habe sie moralisch und physisch stark gemacht, ihr alles beigebracht, sie zur Schlüsselmeisterin gemacht und das Spiel dazu gebracht, sie zu akzeptieren. Erst danach habe ich die Matrix von Madonna aus dem Kristall übertragen. Die ungeduldige, dumme Kuh brauchte nur meine Befehle zu befolgen. Aber Nata hielt sich für klug und unabhängig, klammerte sich an das Tagebuch und ließ den Geist zu früh aus der Flasche. Sie war noch nicht bereit. Sie war zu emotional, um zu gewinnen. Jetzt verliert sie in einem mentalen Kampf mit einem verrückten und erfahrenen Gegner. Aber Sakhray kann ihr helfen, die Chancen auf einen Sieg zu ihren Gunsten zu beeinflussen, da bin ich mir sicher.“
„Madonna wird hier bestimmt nicht an ihn herankommen?“, fragte ich besorgt, als Archibald stehen blieb.
„Richtig. Nur zwei Wesen haben Zugang zu diesem Ort. Und beide sind gerade hier.“
„Gut. Ich habe noch ein paar Fragen an dich. Warum ist es nicht möglich, die Matrizen von Madonna und Merlin einfach nicht zu aktivieren?“
„Weil es unmöglich ist, gegen einen direkten Befehl zu verstoßen. Außerdem hat Merlin gelernt, das Bewusstsein ohne den Kristall und ohne fremde Hilfe zu übertragen, wenn auch mit einigen Verletzungen.“
„Wer hat dir befohlen, die Matrix zu übertragen?“ Ich stellte eine Frage, auf die ich die Antwort bereits kannte. Ich musste das Ausmaß von Archibalds „Ehrlichkeit“ prüfen, denn es bestand die Möglichkeit, dass all das, was er vorhin gesagt hatte, nur ein hübsches Märchen für ein naives Lamm namens Yaropolk war.
„Der Befehl kam von dem, den du den Namenlosen nennst“, antwortete der Catorianer ohne zu zögern. „Der dritte Teilnehmer des Neustarts. Der Spieler, der seine Puppe verloren hat. Ein Hilfsteil des Mechanismus und der äußere Beobachter.“
Ich nickte und akzeptierte die endgültige Version des Geschehens. Es war an der Zeit, sich den anstehenden Problemen zuzuwenden.
„Wann brechen wir zur Zitadelle auf?“
„Sobald wir dir eine Kletterausrüstung gekauft haben.“ Archibald grinste und sah mich an, als ich das Gesicht verzog.
„Wozu?“ Ich schluckte. Ich hatte mein Leben lang unter Höhenangst gelitten.
„Damit mein Schüler mich auf den Gipfel des Pobeda-Gipfels begleiten kann — dort befindet sich unsere Zitadelle. In einem Umkreis von 100 Kilometern funktionieren keine Portale.“
„Ich hatte nicht erwartet, das zu sagen, aber mit dir würde ich bis ans Ende der Welt gehen“, platzte ich heraus, froh, dass ich nicht allein gehen musste.
„Das Ende der Welt ist wirklich nicht weit von dort, also kaufen wir dir auch eine Stahlkappe für deine Eier. Denn es wird gruselig. Das verspreche ich dir“, verkündete der Katzenmann fröhlich und öffnete das Portal.