INTUITION ALS CHANCE

In den zurückliegenden Jahrzehnten bin ich unzähligen Menschen begegnet. Dabei hat mich immer besonders interessiert, wie sich die Begabungen, Talente und Fähigkeiten des Einzelnen zusammensetzen und woran wir sie erkennen. Vor allem aber, wie wir das erkennen können, was nicht auf Anhieb sichtbar ist. Mit Menschen zusammenzuarbeiten ist bis heute meine Leidenschaft geblieben. Ob bei der Auswahl von Nachwuchskräften bei Bertelsmann oder bei Begegnungen mit jungen Menschen auf der ganzen Welt, immer interessiert mich vor allem eines: Was macht einen Menschen zu einer unverwechselbaren Persönlichkeit? Was gibt ihm innere Kraft? Was ermutigt ihn, Herausforderungen nicht nur anzunehmen, sondern auch an ihnen zu wachsen? Und last, but not least: Was ist notwendig, damit ein Mensch Führungsqualitäten entwickeln kann? Ich meine damit nicht nur bestimmte Positionen in einem Unternehmen. Führung heißt Vorbild sein. Das gilt auch für die Arbeit in einem Ehrenamt, für die Projektleitung in sozialen, kulturellen und anderen Bereichen. Natürlich ist Fachkenntnis unerlässlich. Für herausragende Positionen benötigt man heute eine gute Ausbildung und eine fundierte fachliche Kompetenz. Doch das ist es nicht allein. Ich habe viele außergewöhnlich begabte und hervorragend ausgebildete Menschen getroffen, die sich im Umgang mit anderen unsicher zeigten, kontroversen Diskussionen aus dem Wege gingen und es vermieden, persönliche Haltungen erkennen zu lassen. Kurzum, sich da zurückzogen, wo es gerade auf sie ankam. Menschen, die ihren eigenen Gefühlen nicht vertrauten und eine persönliche Haltung vermissen ließen. Analytische Fähigkeiten und erwiesene Fachkompetenz sind nicht alles. Die Hirnforschung weiß heute, dass wir im Unbewussten ungleich mehr Informationen verarbeiten können, als dies unser rational gesteuerter Verstand vermag.1 Anders, als es uns unsere abendländische Kultur seit Generationen vermittelt hat, sind Gefühle keine Gegenspieler unserer Intelligenz, sondern stellen selbst eine Form der Intelligenz dar.

In meiner Generation war es bis vor wenigen Jahren verpönt, über Gefühle als Entscheidungshilfen zu sprechen. Wer emotional war, galt als minderbegabt. War es noch dazu eine Frau, die auf ihre intuitive Einschätzung verwies, wurde sie im Familien- und Freundeskreis belächelt und von den Kollegen nicht ernst genommen. Denn Bezeichnungen wie »emotionale Intelligenz« oder »intuitive Einschätzung« galten lange als weiblich. Von Managern traditionellen Typs wurden sie nur belächelt.

Das hat sich inzwischen grundlegend geändert, und die Frauen meiner Generation haben diesen Wandel besonders stark erlebt. Heute sind es gerade diese Eigenschaften, die zu den wichtigsten Führungsqualitäten gehören. Wer seiner Intuition vertraut, erweitert seine Persönlichkeit. Wir öffnen unser Handeln und können abseits bereits erprobter Pfade neue Wege beschreiten, neue Ideen entwickeln und neue Projekte initiieren. Wir können Menschen zusammenbringen, die einander sonst nie begegnet wären, und damit ungeahnte Potenziale erschließen. Der Kraft der eigenen Intuition zu vertrauen, ist deshalb eine große Chance. Ich habe unzählige Beispiele dafür erlebt.

Natürlich ist Intuition nicht alles. Das emotionale Wissen benötigt die Korrektur durch unseren Verstand, den Einbezug von Expertenwissen und analytischem Denken, wie umgekehrt der Verstand ohne die Intuition an seine Grenzen stößt. Ratio und Intuition zusammen aber sind ein unschlagbares Team. In dem Maße, wie ich gelernt habe, meiner Intuition zu vertrauen, sind mir ungeahnte Kräfte zugewachsen. Plötzlich ließen sich Projekte realisieren, von denen ich vorher kaum zu träumen wagte. Von dieser Chance möchte ich erzählen. Sie ist der Schlüssel zu einer Vielzahl meiner Projekte und Initiativen. Oft war da nur ein erstes Gefühl, dass etwas getan werden müsse, welches mich zum Telefonhörer greifen ließ. Eine erste Idee entstand, der weitere folgten. Aus meiner spontanen Initiative erwuchs allmählich ein Netzwerk, für das sich immer mehr Menschen engagierten. Aus einer intuitiven Entscheidung erwuchsen ungeahnte kreative Kräfte. Was klein anfing, wurde groß. Und doch ist es bis heute so, dass die kreativen Kräfte in unseren Schulen im Verhältnis zu den rationalen kaum gefördert werden.

Wer in unserer Gesellschaft etwas bewegen will, muss die ausgetretenen Pfade verlassen. Wir müssen Neues wagen, wir müssen scheinbar Vertrautes auch kreuz und quer denken dürfen, um sicher zu sein, dass wir auf dem richtigen Weg sind. Wir müssen Fehler machen dürfen. Und wir sollten alle wieder neugierig genug werden, um lebenslang lernen zu wollen.