LERNEN IM DIALOG – INTERNATIONALE BEGEGNUNGEN UND WEGWEISENDE ERFAHRUNGEN

Die Erfahrungen meines Mannes beim Aufbau internationaler Beziehungen für das Haus Bertelsmann hatten ihn gelehrt, dass der persönliche Dialog über mögliche gemeinsame wirtschaftliche und gesellschaftspolitische Interessen der beste Weg ist, um historische, nationale und kulturelle Grenzen zu überwinden. Wie oft haben wir in abendlichen Gesprächen darüber diskutiert! Wer gemeinsame Ziele ins Auge fasst, gewinnt den Mut, die Möglichkeiten der Verständigung zu erproben. Dabei sollte der Dialog der Kulturen niemals aus dem Gefühl einer einseitigen Überlegenheit heraus entstehen, sondern immer aus einer Haltung gegenseitiger Offenheit und dem Respekt gegenüber anderen Lebensformen und verschiedenen historischen Erfahrungen.

Wir hatten beide das Drama des Zweiten Weltkriegs aus unterschiedlichen Perspektiven erlebt. Er als junger Soldat an der Front, der nach und nach erkennen musste, dass seine Generation ihre Jugend einem verbrecherischen System geopfert hatte, und ich als kleines Kind, das die Angst und die Verzweiflung der Erwachsenen auf lähmende Weise zu spüren bekam.

Wir waren uns immer einig, dass wir alles in unserer Macht Stehende tun wollten, um den Dialog zwischen den Nationen und den Austausch zwischen den Kulturen zu befördern. Bis heute bin ich zutiefst davon überzeugt, dass dies in einer Welt der unkalkulierbaren militärischen Bedrohung der einzige Weg zur Friedenssicherung sein kann: Zum Dialog gibt es keine Alternative!

Schon während seiner Zeit als Vorstandsvorsitzender der Bertelsmann AG hatte mein Mann vertrauensvolle Kontakte nach Israel aufgebaut. Eines der ersten Projekte der Bertelsmann Stiftung unter seinem Vorsitz war die Einführung eines Studienprogramms an der Hebräischen Universität in Jerusalem, das 1979 begann und die Qualität des Arbeitslebens aus den Fachbereichen Soziologie und Politische Wissenschaft untersuchen sollte.8

Im Jahr 1987 begleitete ich meinen Mann zu einer Tagung, die dem Thema »Die Zukunft des Verlagswesens angesichts von Sprachbarrieren« gewidmet war und in Jerusalem stattfand.9 Es gab lebhafte Diskussionen, die mich sehr berührten. Vor allem aber wollte ich Teddy Kollek, den legendären Bürgermeister von Jerusalem, kennenlernen, von dem ich so viel gehört hatte. Wir trafen uns zum Frühstück.

Schon unser erstes Gespräch beeindruckte mich zutiefst. Dieser stattliche Mann war ein charismatischer Menschenfänger, ein leidenschaftlicher Kämpfer für seine Stadt und ihre Menschen. Erst später erfuhr ich, dass er normalerweise jeden Morgen fünf Frühstücke absolvierte, bei denen er die verschiedensten Menschen traf und die unterschiedlichsten Projekte diskutierte – zuerst bei sich zu Hause, danach in den verschiedenen Hotels der Stadt. Später habe ich dann auch seine Frau Tamar kennengelernt, ebenfalls eine starke Persönlichkeit, die ihren Mann in jeder Hinsicht begleitete und unterstützte.

Teddy Kollek hat damals viel für Jerusalem erreichen können, indem er das Zusammenleben der Religionen durch verschiedene Sozial- und Kulturprojekte förderte. Er hat sowohl für die jüdische wie auch für die arabische Bevölkerung Schulen, Bibliotheken und Altenheime errichten lassen, in denen ihre religiösen Interessen gewahrt und ihren Eigenarten Respekt entgegengebracht wurde. Die Einzigen, die seine Geduld oft heftig strapazierten, waren die Orthodoxen, weil ihre Lebensform in vielem nicht in die moderne israelische Gesellschaft zu integrieren war. Er ließ spezielle Krankenhäuser bauen, damit sowohl die muslimischen Frauen als auch die Frauen der orthodoxen Juden Brustuntersuchungen vornehmen lassen können. Brustkrebs war damals weit verbreitet in Israel, und die Gründe dafür lagen in der religiösen Barriere gegen die Vorsorgeuntersuchungen. So etwas machte Teddy Kollek rasend, und ich bewunderte ihn sehr für seinen Einsatz und seinen Mut in diesen heiklen Fragen.

Zwischen meinem Mann und mir, Teddy Kollek und seiner Frau Tamar ist mit den Jahren eine echte Freundschaft gewachsen. Beide haben uns in Deutschland besucht. Aus unserem freundschaftlichen Austausch entstand im Lauf der Jahre eine ganze Reihe von europäisch-israelischen Projekten. Dazu gehört das 1986 eröffnete Zentrum für Computerstudien an der René-Cassin-Oberschule in Straßburg, das von der Everyman’s Universität in Jerusalem geleitet wurde und aus dem sich weitere Projekte zur Computerausbildung entwickelten.10 Das 1984 gegründete Adam-Jugendinstitut für Demokratische Studien in Jerusalem wurde von der Bertelsmann Stiftung von 1988 bis 2004 unterstützt und gehört damit zu den von uns am längsten geförderten Projekten.11 Das Institut hat sich zum Ziel gesetzt, Schülern zwischen zwölf und fünfzehn Jahren Werte wie Demokratie und Frieden vor dem Hintergrund der spezifischen Situation Israels zu vermitteln und darüber hinaus angemessene Erziehungs- und Untersuchungsmethoden zu entwickeln. Im Jahr 1989 wurde die von Teddy Kollek und meinem Mann gemeinsam geplante Journalistenschule gegründet: Koteret, das israelische Institut für Journalismus und Kommunikation in Tel Aviv.12

Auf meine Anregung hin hat die Bertelsmann Stiftung in den neunziger Jahren ihren Fokus von der Förderung einzelner Institutionen auf den persönlichen Austausch zwischen beiden Ländern und Kulturen hin verlagert. Aus der 1992 initiierten Förderung des Europäischen Instituts der Hebräischen Universität von Jerusalem13 erwuchsen viele Konferenzen und Tagungen. Daraus entstand 1997 das Europäisch-Israelische Netzwerk an israelischen Hochschulen.

Eines der bedeutsamsten Projekte, das meinem Mann und mir immer sehr am Herzen lag, war der erstmals 1992 durchgeführte Deutsch-Jüdische Dialog. 14 Dieses Gesprächsforum hat mit bedeutenden Entscheidungsträgern aus der Bundesrepublik und Repräsentanten des jüdischen Lebens weltweit große Resonanz erfahren. Im Rahmen der 1992 aufgenommenen Förderung der Universität in Tel Aviv hat die Bertelsmann Stiftung das Zentrum für Holocaust-Studien viele Jahre lang gefördert.15 Hier werden die Auswirkungen des Holocaust auf die heutigen Gesellschaften erforscht. So, wie wir dem schweren Erbe unserer historischen Vergangenheit gerecht werden müssen, so müssen wir unsere Anstrengungen auch auf eine gemeinsame Zukunft richten. Aus diesem Grund hat die Bertelsmann Stiftung im Jahr 2000 den Deutsch-Israelischen Young-Leaders-Austausch initiiert, der sowohl den beiderseitigen Informationsfluss als auch das gegenseitige Kennenlernen, den Erfahrungsaustausch und die Vernetzung junger deutscher und israelischer Führungskräfte befördern sollte.16

Auch die Zukunft Europas sah sich angesichts immenser Veränderungen in der politischen Landschaft vor neue Herausforderungen gestellt. In diesem Grundverständnis initiierte die Bertelsmann Stiftung im Herbst 1987 das Projekt »Strategien und Optionen für die Zukunft Europas «.17 Die Zukunft verlangt auch von den Europäern eine engere Kooperation, eine effizientere Politik und eine schnellere Evolution der gesellschaftlichen Strukturen. Dabei gilt es, sowohl das aus der europäischen Tradition erwachsene freiheitliche Gesellschaftsbild zu wahren als auch die Identität der unterschiedlichen nationalen und regionalen Kulturen zu respektieren.

Das Hauptanliegen dieses bedeutsamen Stiftungsprojekts bestand darin, nach dem politisch Notwendigen zu fragen und sich nicht am politisch machbar Erscheinenden zu orientieren. Vor allem die Dynamik der politischen Entwicklungen in Mittel- und Osteuropa warf strategische Fragen und gesellschaftspolitische Überlegungen auf, die eine weitere Arbeitsgruppe zum Thema »Europas Rolle in der Welt« erarbeiten sollte.18

Einen ersten Höhepunkt der Projektentwicklung bildete die von der Bertelsmann Stiftung organisierte Konferenz »Die Zukunft Europas – Kultur und Verfassung des Kontinents« im Oktober 1990 in Rom. Ein internationaler Teilnehmerkreis war eingeladen worden. Ziel des hochkarätigen Gedankenaustausches war ein Memorandum zur künftigen politischen und kulturellen Verfassung Europas. Seit der Entwicklung der Projektkonzeption hatte sich die politische Lage Europas entscheidend gewandelt. In den letzten Monaten vor der Tagung hatten diese Veränderungen in Ost- und Mitteleuropa revolutionären Charakter angenommen und ließen tief greifende Auswirkungen auf die Zukunft des Kontinents erahnen. Dieser Herausforderung musste sich die Tagung stellen. Im Zentrum der Debatten standen unter anderem die neuen Rahmenbedingungen Gesamteuropas und die damit verbundenen Fragen nach Modernisierung und Innovation, nach politischem Wandel und der Zukunft der Integration, nach der Rolle der Sicherheitsstrukturen und nach der Identität der Europäer.19

Ein weiteres Ereignis der zweiten Phase des Projekts »Strategien und Optionen für die Zukunft Europas« war die Konferenz »Herausforderung Mittelmeer – die europäische Antwort«, die auf Einladung und in Zusammenwirken mit dem katalanischen Ministerpräsidenten Dr. Jordi Pujol i Soley im Oktober 1991 in Barcelona stattfand und die mir durch eine Reihe persönlicher Begegnungen noch besonders in Erinnerung ist. Etwa hundertzwanzig Teilnehmer aus fast allen europäischen und außereuropäischen Anrainerstaaten des Mittelmeers, dem übrigen Europa, Russland und den USA nahmen an der Veranstaltung teil. Als Redner konnten wir unter anderem den italienischen Außenminister Gianni De Michelis, den Staatssekretär im niederländischen Außenministerium, Pieter Dankert, den ehemaligen Außenminister der Türkei, Vahit Halefoglu, Kronprinz El Hassan Bin Talal von Jordanien und den Theologen Professor Hans Küng gewinnen. Bundespräsident Dr. Richard von Weizsäcker und Seine Majestät, Juan Carlos I., König von Spanien, übernahmen die Schirmherrschaft, Felipe, Prinz von Asturien, repräsentierte das Königshaus.

Auf dieser Konferenz baten zwei ägyptische Teilnehmer meinen Mann um Rat bei der Bildungsförderung in ihrer arabischen Heimat, denn sie hatten von seinem Engagement in Israel gehört. Aus den Erfahrungen unseres internationalen Medienhauses sowie grundlegenden Initiativen der Bertelsmann Stiftung beim Bibliotheksbau heraus entstand die Idee zur Einrichtung einer Bibliothek in Kairo. Im Vorfeld ließen wir die Nutzungsbedingungen einer solchen Einrichtung prüfen, und es stellte sich heraus: Mehr als 60 Prozent der Ägypter waren Analphabeten! Doch gerade diese katastrophale Quote gab für uns den Ausschlag, das Projekt in die Wege zu leiten. Eine grundlegende Bildung gehört zu den wichtigsten Voraussetzungen für Frieden und Freiheit in der Welt. Nur wer den Weg aus der hoffnungslosen Spirale von Armut und Gewalt findet, kann ein verantwortungsvoller Bürger seines Staates sein. Mein Mann und ich waren immer davon überzeugt, dass die Hilfe zur Selbsthilfe der sinnvollste Weg ist, die Bedürftigen zu unterstützen.

Die ägyptische Regierung stellte uns eine alte Villa am Nil zur Verfügung, die einst dem ehemaligen Vizepräsidenten Abd-Hakim Amer gehört hatte. Die Bertelsmann Stiftung finanzierte den Umbau und half beim Aufbau des Managements und des Marketings. Die Einweihung der »Giza Public Library« am 21. März 1995 in Kairo20 war unser erstes großes Projekt, das sich zu einem lebendigen Kulturmittelpunkt entwickelte. Später eröffneten wir weitere Zweigstellen an weniger repräsentativen Orten, kleine Bibliotheken, die in den armen Vierteln der Stadt lagen. Der Zuspruch war und ist enorm! Viele Bücher sind innerhalb von wenigen Jahren so zerlesen, dass sie regelmäßig erneuert werden müssen.

Einer Gesprächspartnerin aus der arabischen Welt fühle ich mich bis heute besonders verbunden: Königin Noor von Jordanien. Wir waren uns erstmals kurz nach dem Tod ihres Mannes 1998 bei einer Veranstaltung der United World Colleges in Berlin begegnet, deren Präsidentschaft sie innehat. Schon unser erstes Gespräch war von ungewöhnlicher Intensität. Sie sprach viel von der besonderen Beziehung zu ihrem verstorbenen Mann König Hussein, und sie lud mich ein, sie bald in Jordanien zu besuchen. Als ich Königin Noor ein halbes Jahr später im Rahmen einer Nahostreise mit meinem Mann im Oktober 1999 in Amman wieder traf, spürte ich, wie stark sie noch unter dem Verlust ihres Mannes litt. Es war eine schwierige Zeit für sie, doch ihre Gastfreundschaft und Warmherzigkeit waren ungebrochen. Sie hatte ein kleines privates Dinner in ihrem Palast in Amman vorbereiten lassen und für mich in der Bibliothek eingedeckt, um mir, die ich mit Bertelsmann ein Verlagshaus repräsentierte, eine besondere Freude zu machen. Jede noch so kleine Geste war durchdacht und alles bis ins Kleinste sehr liebevoll arrangiert. Ihr ganzes Leben hatte sich durch den Tod ihres Mannes mit einem Schlag verändert, doch ihre menschliche Haltung, ihre Klugheit und ihre Warmherzigkeit werden mir immer unvergesslich sein. Die Grundwerte der völkerverbindenden Toleranz und des kulturellen Austauschs, die mich bewegten, lagen auch ihr am Herzen. Wir verabredeten eine Reihe von Initiativen zum Erlernen von Toleranz und Strategien zur Konfliktlösung.

In der arabischen Welt habe ich im Lauf der Jahre noch viele weitere bedeutsame Gesprächspartner und Verbündete in meinem Bemühen um einen verstärkten kulturellen Austausch gefunden. Ein hoch geschätzter und besonderer Freund ist mir dabei Scheich Nahyan Bin Mubarak al Nahyan aus Abu Dhabi geworden. Der weltoffene und sehr gebildete Scheich hat in Oxford studiert. Er verbindet seine Wirtschaftskontakte in Europa stets mit der Suche nach Bildungsinitiativen, die ihm für sein durch die Ölquellen zwar reich gewordenes, aber durchaus noch entwicklungsbedürftiges Land geeignet erscheinen.

Im Rahmen dieser Überlegungen interessierte er sich besonders für die Bibliothek in unserer Heimatstadt, die die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit der Stadt Gütersloh als Pilotprojekt entwickelt hatte .21 Unser Konzept beruht darauf, dass die Stadtbibliothek von Gütersloh zugleich bürgernahe Begegnungsstätte wie auch interaktives Informations- und Medienzentrum ist. In Ausstattung, Organisation und Wirtschaftlichkeit ist hier eine Modellbibliothek entstanden, die national wie international Vorbildcharakter hat. Der Scheich suchte nach Wegen, wie er die Bibliotheken und Universitäten seines Landes in beispielhafter Weise vernetzen könnte. Auch in der Konzeption der dortigen Universitäten ging er neue Wege. Kleine Lerneinheiten und die gezielte Projektbindung an Experten aus aller Welt zeigten uns innovative Alternativen zu unseren Massenuniversitäten auf. Mich hat dabei besonders berührt, dass in Bahrein, Katar, Kuweit und den Vereinigten Arabischen Emiraten zwei Drittel oder mehr Studierende Frauen sind, auch in Oman und in Saudi-Arabien liegt der Frauenanteil bei mehr als 50 Prozent. Frauenuniversitäten wie die Zayed Universität in Abu Dhabi und Dubai expandieren massiv. Zweifelsohne ist der hohe Frauenanteil an den Hochschulen Ausdruck eines veränderten Rollenverständnisses und einer enormen Leistungsbereitschaft der Frauen am Golf. All diese Frauen hoffen darauf, dass sich im Zuge ihrer Bildungsleistung auch der Arbeitsmarkt für sie öffnen wird.

Doch nicht nur in den Fragen der Bildungsentwicklung, auch im persönlichen Gespräch ist Scheich Nahyan ein beeindruckender Mann. Wann immer ich in Abu Dhabi eintreffe, überrascht er mich stets aufs Neue mit Gesten einer überwältigenden Gastfreundschaft, die mir ungeahnte und tiefe Einblicke in die arabische Kultur ermöglicht haben.

Auf meinen zahlreichen Reisen und vor allem in Diskussionen mit jungen Leuten habe ich immer wieder feststellen müssen, wie wichtig es für Menschen aus verschiedenen Ländern und unterschiedlichen Kulturen ist, ihre Ideen auszutauschen und einander kennenzulernen. Angesichts der sich seit den achtziger Jahren immer deutlicher abzeichnenden Globalisierung drängten sich mir eine Menge Fragen auf. Wie würden sich unsere Gesellschaften durch die Globalisierung verändern? War der seit Mitte der neunziger Jahre diskutierte »Kampf der Kulturen «22 tatsächlich unumgänglich? Welche Herausforderungen stehen uns bevor, und wie können wir ihnen begegnen? Ist es möglich, den Weg zunehmender Globalisierung zu gehen und trotzdem die kulturelle Identität der Regionen zu bewahren? Ich musste erkennen, dass keiner der führenden Regierungschefs, keiner der internationalen Wirtschaftslenker auf diese Fragen verlässliche Antworten geben konnte.

Jeder, der heute Verantwortung trägt, steht mitten in einem gewaltigen Lernprozess. Wir müssen alle lernen, mit diesen Herausforderungen umzugehen. Dabei sollten neue Wege der friedlichen Koexistenz verschiedener Kulturen genauso gefunden werden, wie das Verständnis von gegenseitigem Respekt und Toleranz gefördert werden muss.

Seit den neunziger Jahren ist die ganze Welt dank der neuen Medien innerhalb von Sekunden verbunden. Was bedeutet das für unsere politischen Systeme? Wie können wir diese Informationsflut bewältigen? Wie verändern sich dadurch das Denken und das politische Bewusstsein unserer Jugend? Sind wir uns unserer Verantwortung bewusst? Auf welche gesellschaftlichen Ziele werden sich die Menschen in der Zukunft verständigen können?

Diese und andere Themen lassen mir bis heute keine Ruhe. Im Austausch mit meinem Mann waren sie Gegenstand unzähliger Diskussionen. Und es war für uns ein ermutigendes Zeichen, wenn wir bei unseren internationalen Begegnungen auf Gleichgesinnte trafen, Menschen, die von ähnlichen Fragen bewegt waren. Aus solchen Begegnungen erwuchs der Impuls, die persönliche Debatte auf ein größeres Forum auszuweiten, Experten dazuzubitten und den grundlegenden Fragen des internationalen Kulturdialogs einen professionellen Rahmen zu geben. Immer wieder bestätigt sich für mich, dass sich kulturelle Unterschiede zwischen Menschen durch persönliche Begegnungen am ehesten überwinden lassen. Nur im Dialog lernen wir die Sichtweisen des anderen kennen und verstehen. Aus diesem Geist heraus ist 2001 auch das Deutsch-Ägyptische Kulturforum in Kairo entstanden, das zu einem wegweisenden Beispiel für viele weitere internationale Kulturforen und Tagungen der Bertelsmann Stiftung werden sollte.23

Im Rahmen eines internationalen Kulturdialogs habe ich gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung die Reihe »Corporate Cultures in Global Interaction« ins Leben gerufen, die im Lauf der Jahre ein viel beachtetes internationales Forum für Kultur- und Wirtschaftsfragen wurde .24 Unser besonderes Augenmerk galt dabei dem Dialog mit den asiatischen Ländern, deren enorme wirtschaftliche Dynamik die politische Landkarte grundlegend verändern würde. Die Karten des globalen Miteinanders wurden neu gemischt, die einseitige Führungsrolle des Westens unter der Vorherrschaft Amerikas konnte nicht länger allein die wirtschaftlichen und kulturellen Spielregeln bestimmen.

Ein erster bedeutender Austausch fand dazu im Rahmen des Deutsch-Japanischen Dialogs im April 2001 in Tokio statt. Das Motto der Tagung war »The Impact of Globalization on Cultural Identity in Business«.25 In den Workshops »Global Business Culture« in Gütersloh 2002 oder »Experiences in Business« in Berlin 200426 wurden sowohl die Konsequenzen der Globalisierung für Deutschland diskutiert als auch die Herausforderungen für Führungskräfte kritisch beleuchtet. Die Erfahrungen des Hauses Bertelsmann mit der von meinem Mann entwickelten Unternehmenskultur, die auf der Delegation von Verantwortung, gelebter Partnerschaft zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer sowie der Motivation und Identifikation der Arbeitnehmer mit den Unternehmenszielen beruht, erwiesen sich gerade im Hinblick auf die Fragen der Globalisierung als unschätzbar wertvoll.

Voneinander lernen und miteinander arbeiten war das Motto der Tagung in Beijing im Mai 2004 – ein deutschchinesischer Dialog über kulturelle Unterschiede. Mich persönlich haben die enormen wirtschaftlichen Aufbauleistungen in China, die kulturelle Tradition des Landes und seine hohe organisatorische Effizienz, aber auch die dort stattfindenden menschlichen Begegnungen tief beeindruckt. Rund hundertzwanzig führende Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft und Kultur konnten wir bei unserem Forum in Beijing zusammenführen. Den Abschluss bildete ein Galakonzert im Rahmen des Beijing Music Festivals mit Darbietungen chinesischer und europäischer Teilnehmer unseres Wettbewerbs »Neue Stimmen«.

Bei diesem Anlass traf ich den früheren chinesischen Kulturminister Sun Jiazheng wieder, den ich 2002 kennengelernt hatte und mit dem mich bis heute ein freundschaftlicher Kontakt verbindet. Seine außerordentliche Gastfreundschaft und persönliche Herzlichkeit habe ich auch während der Olympischen Spiele im Sommer 2008 erlebt, wo er sich für unsere Begegnung mehr als zwei Stunden Zeit nahm, was im Rahmen seines äußerst eng getakteten Empfangsrahmens als einer der Gastgeber eines internationalen Großereignisses sehr viel war. Wieder einmal habe ich erfahren dürfen, dass persönliche Offenheit und tiefer Respekt vor den Leistungen des anderen einen fruchtbaren Austausch befördern können, der im nicht immer leichten Dialog zwischen China und Europa wichtige Türen öffnen kann. In einem Dialog so verschiedenartiger Kulturen müssen die unterschiedlichen Perspektiven der Gesprächspartner offen zur Sprache kommen. Nur so lernen wir, die Werte und Traditionen der anderen Seite zu verstehen, und können daraus neue und bahnbrechende Einsichten in die Möglichkeiten der Kooperation gewinnen. Offenheit, Toleranz und die Bereitschaft zu lernen sind dabei die Voraussetzungen, um gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und tief gehende Missverständnisse im Dialog zu vermeiden.27

Eine weitere asiatische Wirtschaftsmacht stand im Mittelpunkt unseres Internationalen Kulturforums im Jahr 2005: Indien.28 In Neu-Delhi diskutierten wir über die besonderen Voraussetzungen des indisch-europäischen Dialogs und das Aufeinandertreffen europäischer und indischer Perspektiven angesichts der globalen Herausforderungen in wirtschaftlicher, politischer und kultureller Hinsicht. Das Forum entstand in enger Zusammenarbeit der Bertelsmann Stiftung mit der Rajiv Gandhi Foundation sowie der Nand & Jeet Khemka Foundation. Auch dieses Projekt des interkulturellen Austauschs verbanden wir mit einem Konzert der Teilnehmer unseres Gesangswettbewerbs »Neue Stimmen«. Auf vielfältige Weise sind bei diesem Forum Brücken zwischen den Kulturen Indiens und Europas gebaut worden, die sich in einer Vielzahl weiterer Projekte fortentwickeln.

Auch dieses Forum hat mir mit dem Zusammentreffen hochkarätiger Persönlichkeiten aus Kultur, Wissenschaft und Politik unvergessliche Momente beschert. Einer davon ist mir jedoch ganz besonders in Erinnerung geblieben. Ursprünglich war ein Treffen mit Sonia Gandhi geplant, das dann kurzfristig abgesagt wurde: Frau Gandhi sei leider außerstande, an dem vorgesehenen Tag Termine wahrzunehmen. Ich habe das sehr bedauert und mein Programm an diesem Tag anderweitig fortgeführt. Als ich nachmittags zum Gespräch mit einigen Tagungsteilnehmern auf der Terrasse meines Hotels zusammentraf, stand plötzlich der Botschafter vor mir. Frau Gandhi habe nun doch zugesagt, allerdings für den morgigen Tag um siebzehn Uhr. Zwanzig Minuten Sprechzeit seien vorgesehen. Natürlich nahm ich diesen Vorschlag an.

Am nächsten Tag wurde ich um die vereinbarte Zeit abgeholt und mit mehreren Fahrzeugen, die ich immer wieder wechseln musste, zu Frau Gandhis Anwesen gebracht. Der Bau zeichnete sich durch eine für indische Herrschaftshäuser höchst ungewöhnliche Bescheidenheit aus. Auch hier musste ich in mehreren Empfangsräumen warten, bis ich dann in einer Bibliothek mit ihr zusammentreffen durfte. Sie saß an einem langen Tisch, ihre Gestalt im Gegenlicht. Der Augenblick, als sie sich erhob, ist mir unvergesslich. Meine indischen Gesprächspartner hatten mich vor dieser Begegnung gewarnt, das Sprechen mit Frau Gandhi sei oft mühsam, der Austausch spröde. Und so begann ich, ihr von der Geschichte des Hauses Bertelsmann zu erzählen, von der Arbeit unseres Unternehmens, dem Aufbau der Stiftung, unserem Einsatz für die Reformen der Gesellschaft, von meiner Arbeit. Wir sprachen sehr offen über Menschen, bei denen wir Rat suchten, unterhielten uns über die Kriterien für Fachleute, die wir in Gremien beriefen, und sie erzählte mir, dass sie sich nur von Wissenschaftlern beraten lasse. »Nehmen Sie auch Unternehmer«, riet ich ihr. »Aber die dürfen nicht korrupt sein«, entgegnete sie. Es sei nicht einfach für sie, in Indien die Richtigen auszuwählen.

Wir sprachen lange über die Kriterien, nach denen wir Menschen einschätzten, es war ein sehr offenes, bewegendes Gespräch. Als wir zum Ende kamen, waren gut anderthalb Stunden vergangen. Sie führte mich zu einem Ölgemälde des indischen Staatsgründers Nehru, sprach über das Schicksal politischer Dynastien und erzählte mir von ihrem Sohn, der sich inzwischen auch im indischen Parlament engagierte. Unter dem Bildnis Jawaharlal Nehrus stand die kleine Plastik einer Mutter mit ihrem Kind, die ich bewunderte. Sonia Gandhi nahm sie und drückte sie mir in die Hand. »Die möchte ich Ihnen schenken«, sagte sie spontan. »Das kann ich nicht annehmen«, erwiderte ich. »Doch, das können Sie. Ich finde etwas anderes für diesen Platz.«

Es war für mich ein berührender Moment. Die kleine Plastik steht heute in meinem Büro unter einem Porträt meines Mannes. Wann immer ich sie betrachte, steht mir dieser indische Nachmittag vor Augen. Er ist mir zum Sinnbild geworden, was menschliche Begegnung vermag. Zwei Fremde treffen aufeinander, das eine oder andere Vorurteil beeinflusst ihre Wahrnehmung. Doch dann entdecken sie etwas, das sie verbindet. Sie erkennen, dass sie sich ähnliche Fragen stellen, von Gedanken bewegt sind, die sie teilen können. Eine Brücke entsteht, der Austausch wird leicht und mühelos. Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass es diese Begegnungen sind, die uns Hoffnung geben, dass wir in einer Welt widerstreitender Interessen noch nicht verloren sind.

Im Lauf der Jahrzehnte habe ich auch Michail Gorbatschow, den früheren Präsidenten der UdSSR, schätzen gelernt. Mein Mann und ich haben das Ehepaar Gorbatschow im Frühjahr 1992 erstmals getroffen.29 Der Anlass war die geplante Veröffentlichung eines Buches von Michail Gorbatschow in unserem Verlagshaus, und schon unsere erste Begegnung war von überwältigender Herzlichkeit. Sein leidenschaftlicher Kampf für die Demokratisierung Russlands und das Zusammenwachsen Europas durch den Fall der Mauer haben mich tief beeindruckt. Auch ihm stand eine starke Frau zur Seite, die von mir sehr geschätzte Philosophieprofessorin Raissa Gorbatschowa, deren viel zu früher Tod meinen Mann und mich mit tiefer Trauer erfüllte.

Zu unseren Initiativen in Asien und im Nahen Osten gehören natürlich auch unzählige Reisen und persönliche Begegnungen mit politischen Freunden und Geschäftspartnern in Europa und den USA. Vor allem mit Spanien verbindet das Haus Bertelsmann eine nahezu fünfzigjährige Geschichte. Nach ersten Kontakten hatte mein Mann 1962 in Barcelona die Buchgemeinschaft Círculo de Lectores gegründet, die heute noch zu den größten und ältesten Buchclubs der spanischsprachigen Welt zählt. Für Bertelsmann bedeutete dies die erste Firmengründung im außerdeutschen Sprachraum. Der Círculo de Lectores kann zu Recht als Wiege unserer internationalen Aktivitäten betrachtet werden. Doch nicht nur wirtschaftlich war diese Gründung von enormer Bedeutung. Die mit der Gründung des Buchclubs einhergehende Bildungsförderung hat sich für die kulturelle Entwicklung Spaniens als sehr bedeutsam erwiesen und gilt bis heute als eine der wichtigsten Pionierleistungen unseres Hauses.30

Spanien hat immer einen besonderen Platz in unserem Herzen eingenommen, seit Jahrzehnten verbringen wir regelmäßig unsere Ferien auf Mallorca. Wie schon in seiner Heimatstadt Gütersloh hat mein Mann dort 1990 auch eine Stadtbibliothek, die Biblioteca Can Torró, gegründet, die sich binnen weniger Jahre zu einem kulturellen Magneten für die Bevölkerung, aber auch für Bibliothekare, Bildungsbeauftragte und Experten aus ganz Spanien entwickelte. Diese überwältigende Erfahrung ermutigte uns 1995 zur Errichtung einer eigenen spanischen Stiftung mit dem Namen Fundación Bertelsmann. Sie hat ihren Sitz in Barcelona und widmet sich von dort aus der landesweiten Einführung fortschrittlicher Bibliotheken, Bildungskooperationen zwischen Schulen und Bibliotheken und der publizistischen Leseförderung.31

Doch auch über das Bibliothekswesen hinaus hat die »Fundación Bertelsmann« zahlreiche gesellschaftliche Reformprojekte initiiert, um die tief greifenden Veränderungen in der spanischen wie in der europäischen Gesellschaft in den Zeiten der Globalisierung zu unterstützen und zu begleiten. Die spanische Königsfamilie hat dieses Engagement wiederholt in besonderer Weise gewürdigt, und wir können auf Jahrzehnte eines intensiven und bereichernden Dialogs zurückblicken.32

Die Bedeutung der Bertelsmann Stiftung für Spanien hat weit nach Südamerika ausgestrahlt und uns auch hier zahlreiche befruchtende Begegnungen geschenkt. Ein besonderer Freund ist uns Roberto Costa de Abreu Sodré geworden, der ehemalige Gouverneur von São Paulo und spätere Außenminister Brasiliens. Seine warmherzige Aufmerksamkeit und seine überwältigend großzügige Gastfreundschaft werden mir unvergesslich bleiben.

Die Kultur eines Landes lernt man nie allein bei offiziellen Besuchen kennen. Es sind immer die persönlichen Begegnungen mit den Menschen, ihren Eigenarten, Gesten und Haltungen, die uns mehr erzählen, als es ganze Bücher vermögen. In den Begegnungen werden Traditionen vergegenwärtigt, verbinden sich Geschichte und Gegenwart eines Landes zu einprägsamen Augenblicken, die die Kultur erst lebendig werden lassen.

Auch mit den Vereinigten Staaten verband meinen Mann und mich eine jahrzehntelange Freundschaft und Zusammenarbeit. Als junger Kriegsgefangener im amerikanischen Lager Concordia im Bundesstaat Kansas durfte mein Mann zum ersten Mal erleben, was Demokratie und bürgernahes demokratisches Engagement wirklich bedeuten.33 Er hat diese Erfahrung nie vergessen, sie hat sein Leben und seine Entwicklung als Unternehmer und Stifter nachhaltig beeinflusst. Menschlichkeit und Freiheit erwachsen aus der Verantwortung für das Miteinander, aus dem bewussten Blick auf Vergangenheit und Zukunft. Und so ist meinem Mann und mir immer bewusst gewesen, dass das Bemühen der Bertelsmann Stiftung um internationale Verständigung in besonderer Weise einen Beitrag zur Aussöhnung mit Israel leisten, aber auch die Brücke zur transatlantischen Partnerschaft mit den USA ausbauen wollte.

Auf zahlreichen Reisen, die ich mit meinem Mann für die Stiftung unternahm, konnten wir in über zwanzig Jahren zahlreiche transatlantische Initiativen mitbegründen und gestalten. Ein Höhepunkt unserer Bemühungen war im Jahr 2008 die Eröffnung der Repräsentanz der Bertelsmann Stiftung in Washington.34 Die Bertelsmann Foundation North America ist eine selbstständige Stiftung nach US-amerikanischem Recht, die mit ausgewählten Projekten und Tagungen die internationale Debatte um Chancen und Risiken der Globalisierung befördern und die lange Tradition der transatlantischen Freundschaft in die Zukunft führen soll. Ein besonderer Freund und Weggefährte ist mir dabei immer Henry Kissinger gewesen. 35 Der Gedankenaustausch mit ihm ist unglaublich inspirierend, seine reiche Erfahrung und sein tiefer Blick auf Menschen machen jedes Gespräch mit ihm zu einem besonderen Erlebnis. Auch mit Kofi Annan habe ich gern zusammengearbeitet. Kofi ist ein Meister des diplomatischen Dialogs, in jeder seiner Unternehmungen spürt man seine Leidenschaft, Menschen zusammenzuführen und auch in scheinbar ausweglosen Situationen den kleinsten gemeinsamen Nenner aufzuspüren. Als Mittler zwischen den verschiedenen Kulturen und Religionen ist er für mich stets ein Vorbild.

Die Globalisierungsprozesse der letzten Jahre stellen uns alle vor große Herausforderungen, an denen sich zeigen wird, ob die Verteilungskämpfe und Konflikte unterschiedlicher Kulturen die Welt in Gewalt und Chaos stürzen oder ob uns eine friedvolle Kooperation der Kulturen gelingen kann. Und so ist es mir auch besonders wichtig, für die nächste Generation von Führungspersönlichkeiten den Austausch zwischen Europa und den USA zu befördern. Jede Generation muss aufs Neue beweisen, dass ihr der Dialog gelingt. Sie muss sicherstellen, dass der Brückenbau, den die Nachkriegsgeneration diesseits und jenseits des Atlantik begonnen hat, sich auch in der Zukunft als stabil erweist und dass es für unser Bekenntnis zu Menschlichkeit und demokratischem Handeln keine Alternative gibt.36