Meine Kindheit war stark vom katholischen Glauben geprägt. Jeden Morgen mussten meine Geschwister und ich noch vor der Schule an der Sieben-Uhr-Andacht in unserer Kirche teilnehmen. Wie oft habe ich da bitterlich gefroren und mir den Schlaf aus den Augen gerieben. An Weihnachten mussten wir sogar schon um fünf Uhr früh im Gottesdienst sein.
Die täglichen Andachten waren meine Sache nicht, ebenso wenig wie das in unserem Hause selbstverständliche Tischgebet. Wir Geschwister mussten es abwechselnd vorsprechen. Wenn ich an der Reihe war, machte ich die Sache kurz: »Für Speis und Trank sag ich Dank. Amen.« Solche immer gleichen Rituale langweilten mich. Was mich jedoch faszinierte, waren die katholischen Kirchenfeste mit ihrer sinnlichen Pracht und ihrem überwältigenden Gemeinschaftsgefühl. Diese Traditionen vermittelten mir ein Gefühl von Geborgenheit und Glück. Wenn ich auf der Fronleichnamsprozession die Blumen streuen durfte, so läutete das in meinem Empfinden den Frühling ein. Die Weihnachtszeit vermittelte mir das besondere Gefühl erwartungsvoller Freude und friedlicher familiärer Geborgenheit. Diese Wärme war keine Frage von Geschenken. Im Krieg lag manchmal auch nur ein Blumenkohl auf dem Gabentisch, es gab ja nichts. Doch meiner Mutter gelang es, aus nichts eine liebevolle Atmosphäre zu schaffen. In dunklen Stunden sang sie mit uns die alten Lieder und sprach mit uns über die Bedeutung dieses christlichen Festes.
Kein Zweifel: Die Gemeinschaft im Glauben und die Verbundenheit in Traditionen kann uns ein hilfreiches Wertegerüst vermitteln. Hier erfahren wir, was Menschlichkeit und Teilhabe an einer Gemeinschaft bedeuten. Solche Gemeinschaftsrituale sind gelebte Geschichte. Dieses Kulturgut wurde über Jahrhunderte hinweg von Generation zu Generation weitergegeben, es hat unsere soziale und persönliche Identität geprägt. Doch die Umwälzungen des 20. Jahrhunderts, die Erfahrungen zweier verheerender Weltkriege und ihrer Folgen haben das christliche Menschenbild in Europa nachhaltig erschüttert.
Je älter ich wurde, umso mehr wuchsen auch bei mir die Zweifel. Mein katholischer Kinderglaube ließ mich in vielen Fragen allein, auf die Herausforderungen meines jungen Erwachsenenlebens konnte er mir keine befriedigenden Antworten vermitteln. Ich erinnere mich noch gut daran, wie verzweifelt ich wegen der schweren Asthmaerkrankung meiner Tochter Brigitte war, die sie beinahe das Leben gekostet hätte. Wie Millionen anderer Menschen auch stellte ich mir die Frage: Warum lässt Gott dieses Leiden zu? Es ist die uralte Frage des biblischen Hiob, die Verzweiflung an Gott, die uns in schweren Lebensstunden überkommt. Es ist eine Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt, eine Frage, die jeder Mensch für sich, mit seinem Glauben und seinen Überzeugungen beantworten muss.
Manches von dem, was die katholische Kirche heute verkörpert, sehe ich kritisch. Die aktuellen Debatten um Verfehlungen der Kirche machen deutlich, dass auch diese Institution der Erneuerung und Weiterentwicklung bedarf. Doch bei aller Kritik an der Institution der Kirche wurde mir mit den Jahren auch immer deutlicher, dass ohne eine geistige Orientierung, ohne ein lebensbestimmendes Wertegerüst eine soziale Gemeinschaft nicht überleben kann. Diese Form von Werteorientierung vermitteln alle Religionen weltweit, jede auf ihre eigene Weise.
Auf meiner ersten Reise nach Israel ist mir der enge Horizont meiner katholischen Erziehung schlagartig bewusst geworden. Wie in keiner anderen Stadt der Welt finden sich in Jerusalem die Wurzeln dreier Weltreligionen. Was wäre wohl aus mir geworden, wenn ich hier geboren worden wäre? Niemand kann sich aussuchen, wo er zur Welt kommt und aufwächst. Wir werden in unser Leben hineingeworfen und müssen das Schicksal seiner religiösen, politischen und sozialen Umstände annehmen. Aber sollte uns nicht genau diese menschliche Bestimmung Anlass genug sein für unbedingte Toleranz in Glaubensfragen?
In Jerusalems früherem Bürgermeister Teddy Kollek und seinem unermüdlichen Bemühen, den Menschen seiner Stadt, unabhängig von ihrer religiösen Bindung, zu mehr sozialer Sicherheit, kultureller Offenheit und persönlicher Würde zu verhelfen, fand ich ein großes Vorbild. Auch bei meinen späteren Reisen durch den asiatischen Kontinent sah ich vieles, was mich zutiefst beeindruckt hat und nachhaltig beschäftigte. Mein Mann und ich haben in vielen Gesprächen über unsere Erfahrungen, Erlebnisse und Begegnungen mit der jüdischen, muslimischen, buddhistischen und hinduistischen Welt diskutiert.57
Durch die Globalisierung der letzten Jahrzehnte begegnen sich unterschiedliche Kulturen und Religionen in früher nicht vorstellbarer Intensität. Menschen unterschiedlichster Herkunft, verschiedenster sozialer Prägung und religiöser Orientierung leben und arbeiten eng zusammen. Mehr denn je stellt sich die Frage, welche Werte unser künftiges Zusammenleben tragen können. Was schenkt den Menschen Lebenssinn? Welche Werte helfen uns im Umgang mit Konflikten? Weltweit diskutieren Politiker, Wissenschaftler, Schriftsteller und Unternehmer die Chancen zu einer Verständigung über nationale, ethnische, kulturelle und religiöse Grenzen hinweg. Ich bin davon überzeugt, dass eine internationale Verständigung nur im Respekt vor den geschichtlichen, kulturellen und religiösen Wurzeln möglich ist.
Aus der Erfahrung heraus, dass gerade die religiöse Prägung und Lebensform die Grundüberzeugungen der Menschen in wesentlicher Weise bestimmt, ließ mir die Frage keine Ruhe, ob nicht die Religiosität der Gesellschaften uns Aufschluss über deren Werte, Gottesvorstellungen und viele andere Lebensbereiche geben könnte. Ob nicht eine Erforschung der Religiosität entscheidende Bausteine unseres kulturellen Miteinanders offenlegen und damit verständlich machen könnte. Und bietet nicht genau ein solcher Einblick die Chance, etwas darüber zu erfahren, was die Menschen auf der ganzen Welt über alles Trennende hinweg verbindet, was ihnen gemeinsam ist?
Mit meinem Mann habe ich diese Möglichkeiten intensiv diskutiert. Wie oft hatte er in seinen Büchern und Artikeln jahrzehntelang die mangelnde Dialogfähigkeit in Politik und Wirtschaft kritisiert und ein radikales Umdenken gefordert, um unsere Gesellschaft zukunftsfähig zu machen. Wir waren uns einig, dass eine Untersuchung religiöser Lebensmuster in den großen Weltreligionen hilfreiche Einsichten für das globale Miteinander bieten könnte. Denn über die unmittelbare Dialogfähigkeit zwischen Menschen und Nationen hinaus stellte sich mein Mann auch die Frage, ob nicht erst aus der Verbindung von Demokratie und geistiger Orientierung eine Ordnungskraft zu entwickeln wäre, die den weltweiten Gefahren autoritärer Systeme gewachsen ist.
Ich stimmte ihm uneingeschränkt zu, denn ich bin der festen Überzeugung, dass die Demokratie nur zukunftsfähig ist, wenn sie die Herzen der Menschen gewinnt, wenn sie in ihrem Handeln unmittelbar auf die Lebensbedürfnisse der Bürger ausgerichtet bleibt. Wie schwer das ist, zeigt die Politikverdrossenheit in unserem Land und in weiten Teilen Europas.
Was aber kann uns aus diesem Dilemma heraushelfen? Was gibt uns Aufschluss über das, was Menschen bewegt? Eine erste Bestandsaufnahme konnte die Erforschung der Religiosität in verschiedenen Ländern bringen, die die Bertelsmann Stiftung 2007 mithilfe eines interdisziplinären Instruments entwickelte: des von mir initiierten Religionsmonitors der Bertelsmann Stiftung.58 Mithilfe von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen aus den Fachbereichen Soziologie, Psychologie, Theologie und Religionswissenschaft verglichen wir den Grad der Religiosität und ihrer Alltagsbedeutung für die modernen Gesellschaften. Welche Bedeutung hat die Religiosität für den einzelnen Menschen? In welcher Intensität wird der persönliche Glaube praktiziert? Wie stark prägt die Religiosität die Gesellschaften? Diese und weitere Fragen beantwortet der Religionsmonitor.
In einer repräsentativen Erhebung wurden über 21 000 Menschen in einundzwanzig Ländern interviewt. Hinter diesen Zahlen stehen einzelne Menschen, die sehr konkret aus ihrem Leben erzählen und so von ihrer Weltanschauung und ihrem persönlichen Lebenssinn berichten. Die Befragten sind repräsentativ für Millionen anderer Menschen rund um den Globus. So gewährt uns der Religionsmonitor tiefe Einblicke in die Weltreligionen und lässt uns teilhaben an zahlreichen Kulturen in allen Erdteilen.
Im Jahr 2009 veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung die Analysen und Kommentare des Religionsmonitors in einer ersten großen Studie mit dem Titel »Woran glaubt die Welt?«59 Die Ergebnisse haben uns überrascht. Durch alle Kulturen und Religionen hindurch war eine vergleichbare Idee von Religiosität nachweisbar, die in Bekenntnissen zu einer verantwortungsvollen Lebensführung ihren Ausdruck fand. Wer sich religiös orientierte, war weniger in Gefahr, allein einem persönlichen Glücksverlangen zu huldigen, sondern fühlte sich immer auch den Zielen einer Gemeinschaft verpflichtet. Über Sprachen und Kulturen hinweg verwiesen die Befragten auf Begriffe wie Toleranz, Wahrhaftigkeit, Verantwortung und persönliche Aufrichtigkeit, wenn sie ihr Verständnis von gelungener Religiosität zu beschreiben suchten.
Mich haben diese Ergebnisse sehr berührt, sie haben mir Mut und Hoffnung für meine Arbeit gegeben. Offenbart sich in der überwältigenden Haltung der Befragten nicht ein Code der Menschlichkeit, den wir alle in uns tragen? An den es zu appellieren gilt, wenn wir in einer internationalen Gemeinschaft die Herausforderungen der Zukunft bewältigen wollen? Vielleicht vermag uns allein unsere unablässige Suche nach gemeinsamen Wurzeln, nach verbindenden Werten, Hoffnungen und Zielen helfen, den dornigen Pfad der internationalen Verständigung weiter zu beschreiten.