EINE DEMOKRATIE OHNE WERTE UND VERTRAUEN GIBT ES NICHT

In einer tiefenpsychologisch angelegten Untersuchung der Bertelsmann Stiftung zum Jahreswechsel 201077 wurde deutlich, wie skeptisch viele Deutsche in die Zukunft blicken. 70 Prozent der repräsentativ Befragten haben nach dem Krisenjahr 2008/2009 ihr Vertrauen in zahlreiche Institutionen, Entscheider und Verantwortungsträger verloren. Auch die sozialen Sicherungssysteme werden skeptisch betrachtet. Fast jeder Zweite wünscht sich mittlerweile einen »Systemwechsel« in Bezug auf unsere repräsentative Demokratie und Marktwirtschaft.

Das sind alarmierende Ergebnisse. Viele Mitbürger sind resigniert und haben nur noch wenig Vertrauen in die weitere Entwicklung Deutschlands und unsere künftigen Lebensumstände.

Als Ursache für diesen immensen Vertrauensverlust werden zunächst eindeutig die jüngeren Entwicklungen des internationalen Finanzmarkts und der Politik in Deutschland genannt. Im historischen Gesamtblick wird jedoch deutlich, dass der Vertrauensverlust nicht allein Ausdruck der aktuellen Krise ist, sondern sich als Ergebnis einer lange unterschätzten Entwicklung offenbart. Zu den wertschöpfenden Formen des gesellschaftlichen Miteinanders zählen die Befragten das in den sechziger und siebziger Jahren geprägte Lebensgefühl, das sich am ehesten mit »Wohlstand durch Wachstum« bezeichnen lässt. Kompetenz und Glaubwürdigkeit der gesellschaftlichen Entscheidungsträger wird rückblickend für diese Zeit höher bewertet als in der Gegenwart. Mit den neunziger Jahren verbinden die Befragten zunehmend die Förderung der Leistungseliten und eine vom Bürger entkoppelte Interessenvertretung. Die dadurch einsetzende soziale Ungerechtigkeit sei als Folge der Globalisierung viel zu lange schleichend hingenommen worden.

Mit der Gegenwart verbinden die Befragten auch falsche Versprechungen durch Wirtschaft und Politik. Ein profitgetriebener Raubbau an Mensch und Umwelt kennzeichne unsere Zeit, ein ungezügelter Egoismus triumphiere über gemeinschaftliche Werte und Ziele.

Alles in allem markieren die Erfahrungen der jüngsten Wirtschaftskrise einen Tiefpunkt, viele Bürger blicken kritisch in die Zukunft. Den gegenwärtigen Entscheidungsträgern in Politik und Wirtschaft werden vorwiegend Lobbyismus und Gier, aber auch die Abkopplung von der Wirklichkeit vorgeworfen. Angeprangert wird der unzureichende Abbau bürokratischer Hürden und das starre Festhalten an Althergebrachtem.

Für die nächsten Jahre erhoffen sich die Befragten eine Rückbesinnung auf eine garantierte Grundsicherung für alle Menschen. Doch die Hoffnungen sind vage, die Stimmung in unserem Land offenbart eine immer größer werdende soziale Kluft. Das sollte uns alarmieren. Deutschland war einmal ein Land des Aufstiegs. Dass alle Menschen hier, unabhängig von ihrer sozialen Herkunft, mehr Bildung, mehr Wohlstand und mehr Anerkennung erlangen können, gehörte zu den großen Versprechen der Nachkriegszeit. Die Idee, dass der soziale Aufstieg für alle möglich sei, wurde zum Motor des westdeutschen Lebensgefühls. Die bürgerliche Mitte der Gesellschaft war durchlässig geworden. Der Blick der bundesdeutschen Gesellschaft orientierte sich über Jahrzehnte nach oben. Immer besser sollte es werden, und es wurde ja auch immer besser – für eine lange Zeit.

Von diesem Optimismus, der unsere Gesellschaft lange getragen hat, ist heute nichts mehr zu spüren. Das soziale Klima ist rauer geworden. Die gemeinsame Hoffnung, es möge uns allen besser und besser gehen, ist zerbrochen. Die veränderten Wirtschaftsbedingungen der Globalisierung bringen Gewinner und Verlierer hervor, die Gesellschaft fällt auseinander.

Untersuchungen belegen, dass Menschen, die in einem sozial benachteiligten Elternhaus aufwachsen, sehr schlechte Chancen haben, für ihr eigenes Leben bessere Lebensbedingungen zu erreichen.78 Die Bertelsmann Stiftung hat in zahlreichen Studien auf die Schwächen des deutschen Bildungssystems hingewiesen, das die Kinder aus sozial schwachen Familien nicht genügend fördert. Wenn es Deutschland gelingen soll, die sozialen Herausforderungen zu bewältigen, muss es auf Nachhaltigkeit setzen und entschiedener als bisher in sein Bildungssystem und die Qualifizierung der Menschen investieren. Bildung ist die einzige Ressource, auf die wir in unserem rohstoffarmen Land unsere Zukunft bauen können.79

Seit vielen Jahren hat die Bertelsmann Stiftung auf die unterschätzte Herausforderung der Integration ausländischer Mitbürger hingewiesen, wie auch auf die steigenden Einkommensunterschiede in der Bevölkerung als soziale Konfliktfelder. Soziale Grenzen zu überwinden oder gar aufzusteigen, ist für die Menschen in diesem Land sehr viel schwieriger geworden. Viele glauben, dass es schon ihren eigenen Kindern nicht mehr möglich sein wird, den Lebensstandard zu halten, den die Eltern geschaffen haben. Der Kampf um den eigenen Status fördert eine neue Ellenbogenmentalität, die unsere Gesellschaft immer mehr auseinanderdriften lässt.

Repräsentative Umfragen belegen, dass es längst mehr Menschen gibt, die ihren gesellschaftlichen Status verlieren, als solche, die an Status dazugewinnen.80 Diese Entwicklung ist gefährlich. Wenn die Chancen des Aufstiegs und die Risiken des Abstiegs sich nicht mehr entsprechen, verliert unsere Leistungsgesellschaft ihre soziale Balance. Wer mit seiner Arbeit nichts gewinnen kann, verliert die Motivation. In der Konsequenz bedeutet das eine Minderung der Leistungskraft und schließlich auch eine Minderung des Wohlstands.

Die Bürger unseres Landes haben jahrzehntelang einem Lebensmodell vertraut, das sich aus den Bausteinen lernen, wenn möglich studieren, arbeiten, aufsteigen, Familie gründen, ein Haus bauen zusammensetzte. Doch die Realität sieht heute anders aus. Eine aktuelle Arbeitsmarktstudie, die die Bertelsmann Stiftung gemeinsam mit dem Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) im Januar 2010 veröffentlicht hat, belegt, dass die traditionellen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland seit dem Jahr 2001 im internationalen Vergleich stark zurückgegangen sind.81 Während in Deutschland in der Industrie traditionelle Beschäftigungsformen nach wie vor dominieren, gehen diese im Dienstleistungssektor immer weiter zurück. 53,2 Prozent der Arbeitnehmer in Deutschland, also nur gut jeder zweite, sind unbefristet und in Vollzeit erwerbstätig. Keine Frage: Mit dem Abbau traditioneller Beschäftigungsformen reagiert die deutsche Wirtschaft auf gestiegene Flexibilitätsanforderungen und realisiert die von der Politik geschaffenen Möglichkeiten, alternative Beschäftigungsarten zu nutzen. Die sozialen Folgen einer solchen Entwicklung sind jedoch noch gar nicht abzusehen. Deutsche Erwerbsbiografien sind brüchig geworden. Wie sollen junge Menschen ihr Leben planen, wie eine Partnerschaft beginnen, eine Familie gründen, wenn Arbeitsverhältnisse über Jahre hin nur befristet vergeben werden? Hinzu kommt, dass der Rückgang der traditionellen Beschäftigungsverhältnisse in Deutschland keineswegs geschlechtsneutral ist. Der Anteil der Frauen, die sich in einem normalen Arbeitsverhältnis befinden, sank zwischen 2001 und 2008 von 48 Prozent auf rund 43 Prozent. Damit hat Deutschland nach den Niederlanden und der Schweiz den drittniedrigsten Wert unter achtundzwanzig untersuchten OECD-Staaten. Der Vergleich zeigt auch, dass das Normalarbeitsverhältnis bei Frauen stärker zurückgegangen ist als bei Männern.

Die Zunahme der Beschäftigung bei Frauen wurde vor allem über Teilzeitarbeit erzielt. Instabile Beschäftigungsverhältnisse bedeuten aber auch instabile Lebensverhältnisse für viele Mitbürger. Sie schwächen eine Gesellschaft, sie schwächen das Engagement des Einzelnen für soziale Belange, sie schwächen die Kraft einer ganzen Generation für den Aufbau und Zusammenhalt von Familien, und sie schwächen die sozialverbindlichen Werte, die noch immer das Fundament einer freiheitlich demokratischen Gesellschaft bilden. Eine Demokratie ohne gemeinsame Werte und menschliche Grundüberzeugungen ist jedoch nicht überlebensfähig.82 Hier sind Politik und Wirtschaft gefordert. Instabile Beschäftigungsverhältnisse sind nicht allein ein ökonomischer Faktor. Sie ziehen politische Probleme nach sich. Ich appelliere deshalb an alle Unternehmen, sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst zu sein. Die Erfahrungen bei Bertelsmann sind uns Anlass zur Hoffnung, dass die Unternehmenskultur durchaus zu einer Keimzelle eines neuen Wertefundaments in unserer Gesellschaft werden kann. Werte wie Respekt vor dem anderen, Partnerschaft und gegenseitiges Vertrauen kann man bereits im Kindergarten lernen.83

Eine zukunftsfähige Gesellschaft geht uns alle an! Jeder, der Verantwortung trägt oder übernehmen möchte, ist hier gefordert. Je länger wir schweigen, umso starrer wird unsere Gesellschaft. Wir alle müssen Farbe bekennen und unsere Werte zum Ausdruck bringen. Nur im offenen Dialog, nur über gesellschaftsverbindende Werte kann unsere demokratische Gemeinschaft ihre Kraft und Zuversicht zurückgewinnen.

Im November 2009 veröffentlichte die Bertelsmann Stiftung eine Studie, aus der deutlich hervorgeht, dass die Wirtschaftskrise Spuren im Bewusstsein der Deutschen hinterlassen hat. Danach sind persönliche Beziehungen, Ehe, Familie, Partner und Freunde für viele Menschen durch die Wirtschaftskrise wieder wichtiger geworden.84 Auch die Suche nach Sinn und Orientierung wird intensiver. Gleichzeitig wünschen sich die Menschen materielle Sicherheit. Eine große Mehrheit der Deutschen wünscht sich als Konsequenz aus der Krise einen stärkeren Ausgleich zwischen Arm und Reich, mehr Solidarität zwischen Jungen und Alten und eine bessere Integration von Zuwanderern. Trotzdem bezweifeln die meisten der Befragten, dass die Krise den gesellschaftlichen Zusammenhalt tatsächlich befördern oder die Unternehmen zum Umdenken zwingen wird. Nur jeder Dritte glaubt, dass sich die Wirtschaft künftig mehr an langfristiger Wohlstandssicherung als an kurzfristigen Gewinnen orientieren wird. Trotz aller Skepsis: Als Konsequenz aus der Krise wünscht sich eine übergroße Mehrheit der Deutschen einen stärkeren gesellschaftlichen Zusammenhalt. Dieser Wunsch sollte unser Wegweiser in die Zukunft sein!

Die Art, wie wir Menschen heute leben und wirtschaften, bringt unsere natürlichen Lebensgrundlagen in Gefahr. Sie gefährdet auch den internationalen Zusammenhalt und das Vertrauen in Wirtschaft und Politik weltweit. Die Krise zeigt, dass wir langfristige Strategien brauchen, um die Lebensqualität für uns und für künftige Generationen zu bewahren und zu verbessern. Wir alle müssen uns für mehr Nachhaltigkeit einsetzen. 49 Prozent der Menschen in Deutschland glauben, dass die Wirtschaftskrise uns zur ökologischen Neuorientierung zwingt. Die Politik sollte dieses Potenzial zur Solidarität in sozialen und ökologischen Fragen nutzen.

Jeder von uns kann mit seiner persönlichen Haltung und seinen gelebten Überzeugungen zum Vorbild für andere werden. Jeder Dialog ist eine Brücke über die soziale Erstarrung hinweg. Wir dürfen nicht zulassen, dass wir uns selbst verloren gehen. Jeder kann einen persönlichen Beitrag dazu leisten, dass es bald wieder aufwärtsgeht. Auch im internationalen Austausch muss Deutschland glaubwürdig bleiben. Verlässlichkeit schafft Vertrauen. Der Weg von Bertelsmann hat bewiesen, dass dieses Vertrauen auch ein wirtschaftlicher Erfolgsfaktor sein kann.