F angen wir ganz am Anfang an. Geboren wurde Baby Wladimir am 7. Oktober 1952 in Leningrad, wie das heutige Sankt Petersburg damals hieß. Stalin, mittlerweile selbst Opfer seines mörderischen Verfolgungswahns, hatte noch ein Jahr im Kreml vor sich.
Putins Großvater Spiridon war einer von Stalins Köchen gewesen, ein kleines Rädchen im Haushalt des Roten Zaren. Aber das war keinesfalls eine hochkarätige Verbindung zum Kreml, und so wuchs Putin bettelarm im Glasscherbenviertel von Leningrad auf, als einziges überlebendes Kind eines älteren Paares. Putins Mutter Maria arbeitete in einer Fabrik, und sein Vater Wladimir Spiridonowitsch Putin fuhr auf einem U-Boot der Sowjetmarine zur See. (In Russland leitet der zweite Vorname sich vom Namen des Vaters ab, wobei das „-owitsch“ sich mit „Sohn von“ übersetzen lässt.) Nach dem Einmarsch der Nazis im Sommer 1941 kämpfte Wladimir senior in einem Bataillon des NKWD , der Geheimpolizei mit anderen Worten, aus der dann der KGB wurde und schließlich der FSB . Neuer Name, alter Hut. 1942 wurde er durch Granatsplitter an beiden Beinen schwer verletzt, was ihm für den Rest seines Lebens ein Hinken bescherte. Putins Großmutter mütterlicherseits und deren Brüder, die im nordwestlich von Moskau gelegenen Twer gelebt hatten, waren den Nazis zum Opfer gefallen.
Das Paar hatte vor Wladimir zwei Söhne gehabt, deren erster, Albert, irgendwann in den 1930ern im Kindesalter gestorben war; 1940 kam Wiktor zur Welt. Im Herbst 1941 kam es zur Belagerung Leningrads durch die Deutschen, die 900 Tage dauern sollte. Zur eingekesselten Stadt gab es nur eine einzige Nachschubroute über einen gefrorenen See. Tag für Tag flogen die Deutschen Luftangriffe und beschossen Leningrad mit schwerer Artillerie. Bald herrschte Hunger. Zu allem Überfluss erlebte man den schlimmsten Winter seit Menschengedenken, die Temperaturen sanken auf 40 Grad unter null.
Um sich warm zu halten, verbrannten die Leute Bücher. Erst schlachtete man die Tiere im Zoo, dann Hunde und Katzen. Man kratzte die Tapeten von den Wänden, um den Kleister zu essen; man aß gekochtes Leder, Gras, Unkraut, Kiefernnadeln und Tabakstaub – selbst Menschen: Die Leningrader Polizei richtete eine Sondereinheit gegen Kannibalismus ein. Bis zum Ende der Belagerung waren eine Million Menschen verhungert, darunter auch Wiktor Putin.
Als Maria mit 41 Jahren ihren dritten Jungen bekam, Wladimir, war das eine Art Wunder.
Oder etwa nicht?
Es gibt eine andere Lesart, der zufolge Wladimir Putin ein uneheliches Kind ist. Eine in Georgien lebende Russin, eine gewisse Wera Putina, behauptet seit 1999 steif und fest, Putin sei ihr lange verschollener illegitimer Sohn. Ihrer Version nach machte Wladimirs leiblicher Vater sich nach der Geburt aus dem Staub. Wera Putina fand zwar einen neuen Mann, aber der mochte den Bastard nicht; der Stiefvater prügelte den armen Wladimir. Wera erzählte Reportern von der Abneigung ihres neuen Mannes gegen „Wowa“ – ein üblicher russischer Kosename für jemanden, der Wladimir heißt: „Mein Mann wollte nicht, dass Wowa bei uns bleibt … Wer will schon das Kind eines anderen?“
Es gibt noch andere Zeugen. Die pensionierte Lehrerin Nora Gogolaschwili zum Beispiel bestätigte Weras Geschichte und hatte Wowa als „stilles, trauriges, introvertiertes Kind“ in Erinnerung. „Wenn ihm jemand was tat, habe ich ihn in Schutz genommen. Ich hatte Erbarmen mit ihm … Er tat mir so furchtbar leid. Er hing an mir wie eine Katze.“
Weiter heißt es, dass Wera sich entschloss, ihren Jungen zu Verwandten in Leningrad zu geben; die waren bereit, ihn zu adoptieren. Aber dazu bedurfte es einer List. Yuri Felshtinsky ist ein russischer Historiker, der heute im Exil in den Vereinigten Staaten lebt, und Autor von The Age of Assassins , eines Buches, das hart mit Putin ins Gericht geht. Felshtinsky sagte mir gegenüber: „Sie schickten ihn zu einem entfernten Cousin, der den Jungen zu der alten Frau nach Leningrad brachte. Sie sagte ihm, sie würde ihn in zwei Wochen wieder abholen, tat das aber nie.“
Was sofort auffällt, ist, wie sehr Wera Putina und Wladimir Putin sich ähneln, es ist wirklich erstaunlich, während er seiner offiziellen Mutter, Maria, so überhaupt nicht ähnlich sieht. Auf einem Foto von Maria und ihrem Sohn aus dem Juli 1958, das ihn als Fünfeinhalbjährigen zeigt, sieht er aus wie Gollum, so düster wie er in die Kamera starrt; seine offizielle Mutter wirkt abweisend, als hätte sie keine Beziehung zu ihm.
Die Geschichte von Putin als unehelichem Kind birgt eine Welt von Schmerzen, die so einiges an ihm erklären könnte.
Ist sie wahr?
Ja, laut Felshtinsky. „Es gibt da noch ein Puzzlesteinchen, eine Aufzeichnung des amerikanischen Regisseurs Oliver Stone. Er interviewte Putin, und ob Sie es glauben oder nicht, Putin erinnert sich nicht mehr daran, wann seine Eltern gestorben sind. Er weiß noch nicht mal mehr, wer als Erster starb, Mutter oder Vater.“
Donald Rayfield zufolge stimmt die Geschichte vom „Bastard Wladimir“ nicht. Rayfield ist ein Freund von mir, ein emeritierter Russischprofessor der Londoner Queen Mary University und Autor von Stalin und seine Henker , der großartigen Monografie über die Monster des Monsters. Rayfields Logik sieht folgendermaßen aus: „Wera Putina kam erst Jahre später, als Putin Präsident wurde, zu der Überzeugung, dass er ihr Putin sei. Dass ihr Putin nicht Wladimir Wladimirowitsch“ – Waldimirs Sohn – „sondern Wladimir Platonowitsch“ – Platos Sohn – „war, schien keine Rolle zu spielen. Ebenso wenig wie der Umstand, dass Putin zwei Jahre früher geboren ist. Trotzdem ist sie absolut überzeugt davon, Putins Mutter zu sein.“
Mit einem Seufzer gestehe ich, der Erzähler in mir wünschte sich, die Geschichte von Wowa Putin, dem Bastard, wäre wahr.
Rayfield: „Tut mir leid, wenn ich dir da in die Suppe spucke. Es gibt hinreichend Belege dafür, dass er ehelich geboren wurde. Der dritte Sohn zwar, aber der einzige, der überlebte. Es gibt genügend Aussagen über seine Jugend von den alten Männern, die als Jungen mit ihm aufwuchsen, in dem Hinterhof, in dem er gespielt hat.“
Die Version vom legitimen Kind weiß denn auch, dass Weras wirklicher Sohn, Wladimir Platonowitsch Putin, Ölarbeiter in Sibirien wurde und vor einigen Jahren verstorben sein dürfte.
Rayfield kennt sich in Russland aus. Und ich weiß nach vierzig Jahren als Reporter, dass die perfekte Geschichte eher selten stimmt. Nichtsdestoweniger gibt es Erklärungslücken in Putins ersten fünf Jahren. Die Wahrheit bleibt hier im Trüben, was auch für den Rest seines Lebens gelten sollte. Nicht nur beginnt es im Schatten, er trat zeitlebens nie aus diesem Schatten heraus.
Der junge Wowa ist tückisch, fies, roh und klein. Seine Mutter ist durch den Verlust ihrer ersten beiden Söhne traumatisiert, sein Vater durch seine Kriegsverletzungen und das Versäumnis des Staats, ihn angemessen zu entschädigen und sich um ihn oder seine Familie zu kümmern. Putin „wurde hineingeboren in diese Atmosphäre von Hunger, Invalidität und tiefem Schmerz“, wie der Psychotherapeut Joseph Burgo in The Atlantic schrieb.
Er wuchs im sowjetischen Leningrad der 1960er-Jahre auf, und man könnte sich kaum ein härteres Pflaster vorstellen in dieser an sich schon trostlosen Zeit. Die Putins teilten sich unter erbärmlichen Bedingungen mit zwei weiteren Familien eine Wohnung im fünften Stock. Wera Dmitriewna Gurewitsch war Putins Lehrerin: „Sie hatten eine abscheuliche Wohnung. Eine Gemeinschaftswohnung ohne jeden Komfort. Und kalt war sie, einfach furchtbar, und der metallene Handlauf an der Treppe war immer eiskalt. Die Treppe selbst war auch nicht sicher, sie war voller Lücken.“ Und die sanitären Einrichtungen? „Es gab kein warmes Wasser, keine Badewanne. Die Toilette war grässlich.“
Jahrzehnte später stellte Demokratie-Aktivist Alexei Nawalny mit Putin’s Palace ein ganz außergewöhnliches Video auf YouTube ein, das bis dato 123 Millionen Mal aufgerufen wurde. Es geht darin um einen milliardenteuren Palast, den seine Kumpane Putin an den Gestaden des Schwarzen Meeres gebaut haben. Die wohl außergewöhnlichste Enthüllung des Teams Nawalny sind die goldenen Klobürsten zu 780 Euro pro Stück. Jedem normalen Menschen würde schlecht ob einer derart erbärmlichen Extravaganz, aber vielleicht würden wir das anders sehen, wären wir mit einer Toilette aufgewachsen, bei der unserer Lehrerin das Grausen kam.
In seiner von einer Ghostwriterin verfassten Autobiografie Aus erster Hand aus dem Jahr 2000, die dieser grauen Persönlichkeit, die da plötzlich aus den Tiefen des geheimen Staats auftauchte, etwas Farbe verleihen sollte, gibt Putin eine Anekdote über die Rattenjagd zum Besten. Ghostwriter-Autobiografien sind grundsätzlich unbefriedigend, aber andererseits geben sie oft auch mehr über ihren Gegenstand preis, als dem Objekt der Erzählung klar sein mag. Die Mietskaserne des jungen Wladimir war von Ratten befallen, von denen hin und wieder auch eine den Spieß umdrehte und auf ihre Peiniger losging. Putins Ghostwriterin schreibt: „Auf diesem Treppenabsatz lernte ich schnell, aber nachhaltig die Bedeutung der Wendung ‚in die Enge getrieben‘. Wir hatten Horden von Ratten vor dem Eingang. Meine Freunde und ich trieben sie mit Stöcken vor uns her. Einmal sah ich eine riesige Ratte und jagte sie den Flur hinauf, bis ich sie in eine Ecke getrieben hatte. Sie sah keinen Ausweg mehr. Plötzlich fuhr sie herum und stürzte sich auf mich. Ich war überrascht und bekam es mit der Angst. Jetzt jagte die Ratte mich. Sie huschte über den Treppenabsatz und die Treppe hinab. Ich war ein bisschen schneller und konnte ihr gerade noch die Tür vor der Nase zuknallen.“
Ratten mit dem Stock zu töten, ist ineffizient; Rattengift ist da weit wirksamer. Womöglich war das der Augenblick, in dem Putin der Macht des Gifts verfiel. Immerhin ist doch auffallend, wie viele von seinen Feinden an Gift gestorben sind. Und im Zuge der Festigung seiner Macht wurde das Rattengift immer teurer und seine chemische Zusammensetzung zunehmend kompliziert. Die Methode blieb die gleiche.
Seine Mutter hatte eine Reihe schlecht bezahlter Jobs, pflegte Leute, fuhr nachts Brot aus, spülte Reagenzgläser (von Hand); sein Vater montierte Eisenbahnwaggons, war aber in seiner Erwerbsfähigkeit eingeschränkt. Putin, selbst für diese vom Hunger geprägte Zeit ein kleines, schmächtiges Kerlchen, war größtenteils auf sich selbst gestellt, machte sich aber schon früh einen Ruf als einer, der sich auch mit Größeren anlegte, wenn nötig mit Beißen und Treten. 2015 sagte er in einem Interview: „Wenn sich ein Kampf nicht vermeiden lässt, muss man als Erster zuschlagen.“
Ließ der junge Wowa sich vielleicht auch mit Gangstern ein?
Zarina Zabriski ist eine russische Schriftstellerin, die heute im amerikanischen Exil lebt, nachdem die russische Obrigkeit sie zur Terroristin erklärt hat. Wenn sie nicht Romane schreibt, beschäftigt sie sich mit Putins Vergangenheit als Gangster. „So im Alter von zwölf, dreizehn Jahren beginnt er, sich in Leningrad (Sankt Petersburg) intensiv mit Kampfsport zu beschäftigen. Er lernt Judo und Sambo.“
Das russische Wort Sambo ist ein Kompositum, das sich mit „Selbstverteidigung ohne Waffen“ übersetzen lässt. Entwickelt wurde die Sportart im Auftrag von Geheimpolizei und Roter Armee in den 1920er-Jahren. Einer ihrer Begründer hatte Jahre in Japan gelebt, war aber dann während Stalins Großem Terror unter dem falschen Verdacht der Spionage für Japan in einem Gulag gelandet und dort gestorben. Putins Trainer im Leningrader Sportklub war laut Zabriski ein Gangster: „Sein Trainer war Leonid ‚der Sportsmann‘ Uswjazow, von Beruf Catcher, Stuntman und Boss einer organisierten Bande. Er war zweimal verurteilt worden, wegen Devisenbetrug und Gruppenvergewaltigung, und hatte fast zwanzig Jahre im Gefängnis verbracht.“ Auf seinem Grabstein heißt es: „Ich bin tot, aber die Mafia ist unsterblich.“
Viele von Putins Freunden aus dem Kampfsportklub gehören noch heute zu seiner Gang, und – Überraschung! – einige von ihnen sind Milliardäre.
Es gibt noch einen weiteren Aspekt des jungen Putin, der der näheren Betrachtung bedarf, und das ist sein Sexualleben, aber dazu kommen wir später.
So lässt sich denn sagen, dass viele von Putins Vorlieben als Herr des Kremls von seiner Kindheit geprägt sind oder geprägt zu sein scheinen: der Gangster alter Schule als Vorbild, die Angewohnheit, im Schatten zu operieren, und eine Leidenschaft für das Töten.
Das also ist die Geschichte von der Kindheit des Mannes, der zum Zaren all der Ratten werden sollte.