S eptember 1999: Zwei Bomben binnen vier Tagen, beide in Wohnblocks in Moskauer Arbeitervierteln platziert. Die erste Bombe explodierte kurz nach Mitternacht in der Gurjanowstraße und tötete 92 Menschen, die am frühen Morgen des 9. September schlafend in ihren Betten lagen. Mehrere Körper wurden durch die Druckwelle bis auf die Straße geschleudert. Bei Tagesanbruch konnten die Menschen die erbärmlichen Überreste dieser Gräueltat sehen: Kinderkleidung, ein Sofa, das schief über der Mauer eines ehemaligen Wohnzimmers hing, dessen Decke weggerissen war, Bücher und Bilder überall verstreut. Glasscherben, die unter den Schuhsohlen knirschten.
Die Angst war mit Händen zu greifen.
Vier Tage danach eine zweite Bombe. Diese sprengte einen weiteren Wohnblock in die Luft, diesmal um fünf Uhr morgens an der Kaschirskoje-Schnellstraße in Moskau. Die Verwundeten wurden von Schmutz und Staub bedeckt und halb nackt, so wie sie sich eine Nacht und ein gefühltes Menschenleben zuvor schlafen gelegt hatten, auf Tragbahren weggeschafft. Das grauenhafteste Bild gab indes ein rußgeschwärzter Mann ab, der auf allen vieren durch die Trümmer kroch. Er überlebte. 130 weitere Bewohner des Wohnblocks – Männer, Frauen, Kinder – überlebten nicht.
Auftritt des Geheimdienstmanns. Er stand am Rand eines Trümmerfelds und sah aus wie ein von einer Komparsenagentur gecasteter KGB /FSB -Mann: Kuhfladenfrisur, billiger schwarzer Sommermantel, schwarze Krawatte, schlank, groß, glatt rasiert, finstere Miene. Er marschierte auf die Fernsehkamera zu und hielt ein elektronisch erstelltes Phantombild vor die versammelten Kameralinsen. Es zeigte einen tschetschenischen Mann mit dickem, fast buddhahaft plumpem Gesicht, dunkelhäutig und mit getönten Brillengläsern. Das war der tschetschenische Terrorist, den die Behörden für den Sprengstoffanschlag verantwortlich machten. Er benutzte den Namen Muchit Laipanow und hatte vor Kurzem Erdgeschosswohnungen in den beiden Wohnblocks angemietet, die von den Sprengstoffattentaten verwüstet wurden. Der wirkliche Laipanow war Anfang 1999 bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Die Behörden waren schnell bei der Hand, einer Gruppe ausgebildeter Terroristen die Schuld in die Schuhe zu schieben. Die Tschetschenen waren es – so lautete das sofortige Echo auf das Phantombild, das der Geheimdienstler in die Kameras gehalten hatte. Man hängte es rings um die Bushaltestellen von Moskau auf. Drei Tage nach dem zweiten Sprengstoffanschlag rückten die Bulldozer an und räumten die Trümmer an den Tatorten weg und vernichteten damit die Beweise, die zu den Attentätern hätten führen können.
Am 13. September, dem Tag, an dem in Moskau die zweite Bombe explodierte, verkündete der Sprecher der Duma, Gennadi Selesnjow, dass im südrussischen Wolgodonsk eine dritte Bombe explodiert sei. In Wolgodonsk explodierte tatsächlich eine Bombe, aber erst drei Tage später.
Und es gab eine weitere Bombe, also vier Anschläge insgesamt, bei denen binnen weniger als zwei Wochen mehr als 300 Menschen in Moskau und Südrussland getötet wurden. Die Tschetschenen waren die Übeltäter.
Es gab eine fünfte Bombe. Aber die ging nicht hoch.
Kurz vor den Bombengräueln war Putin von Präsident Jelzin zum Ministerpräsidenten ernannt worden. Bislang ohne jegliche Erfolgsbilanz, wurde der ehemalige Geheimdienstagent weithin als politischer Nobody verspottet, ein kalter, gesichtsloser Kreml-Insider, der sechzehn Jahre beim KGB gewesen und dann zum Chef von dessen Nachfolgeorganisation, dem FSB , aufgestiegen war. Seine Umfragewerte waren jämmerlich niedrig, die Zustimmung lag ungefähr bei zwei Prozent.
Boris Kagarlitzki, ein langjähriger und erfahrener Beobachter des Kremls in Moskau, kommentierte: „Man kann einen Bürokraten nicht in eine glamouröse Person verwandeln. Er ist noch genauso grau wie früher. Die Propagandamaschine funktioniert gut, aber genau das ist Putins Schwäche, denn als Politiker ist er ein Niemand. Als politischer Führer braucht man irgendeine Art von Vorgeschichte.“
Matt Ivens, der damalige Herausgeber der Moscow Times , war der gleichen Ansicht: „Jelzin hat schon etliche Ministerpräsidenten ernannt. Wann immer er einen fallen ließ, hat er klargemacht, dass es etwas mit den Wahlen zu tun hat. Und am Ende hat er sich für Wladimir Putin entschieden. Bis auf ein paar aufmerksame Beobachter und Bürger von Sankt Petersburg hat niemand je etwas von Putin gehört. Jelzin verkündet: ‚Das ist mein Nachfolger, das ist ein Mann, der das Land führen kann‘, und ruft damit allseits Belustigung hervor. Alle Zeitungen der Stadt, einschließlich unserer, sagen, dieser Kerl wird nie im Leben eine Wahl gewinnen, es sei denn, es passiert etwas absolut Außergewöhnliches.“
Die Sprengstoffanschläge auf die Moskauer Wohnblocks waren etwas Außergewöhnliches.
In der Zeit unmittelbar nach den Anschlägen ging Putin über das Staatsfernsehen in die Offensive: „Die Leute, die das getan haben, verdienen es nicht, Tiere genannt zu werden. Sie sind viel schlimmer … es sind geisteskranke Bestien und sollten als solche behandelt werden.“ Seine Umfragewerte schossen in die Höhe, und er holte nochmals aus: „Wir werden sie vernichten. Selbst wenn sie sich in den Sümpfen verstecken.“
Das war reines Gangstergeschwätz, aber in der Öffentlichkeit kam es gut an. Putin spielte auf der Klaviatur des russischen Rassismus. Seit Jahrhunderten waren die muslimischen Abtrünnigen aus dem wilden, felsigen Kaukasus die Sündenböcke Russlands. Michail Lermontow, ein Dichter aus dem 19. Jahrhundert, schrieb ein Wiegenlied, das sich in die russische Volksseele eingebrannt hat:
Braust der Terek mit Getöse
Trüb vom Fels ins Tal –
Der Tschetsche dort schleicht, der böse,
Wetzt den blanken Stahl.
Ward dein Vater alt im Kriege,
Gott wird mit ihm sein –
Schlaf, mein Liebling, ruhig liege,
Schlaf, mein Kind, schlaf ein!
Die Tschetschenen hatten die Militärmacht Russland im ersten Tschetschenienkrieg gedemütigt, den Jelzin 1994–96 im Alkoholrausch begonnen hatte. Die russische Armee war mit großer Brutalität und noch größerer Unfähigkeit vorgegangen. Die Tschetschenen hatten so wacker gekämpft, dass sie die Russen zu einer Art Waffenstillstand zwangen, nicht zuletzt auch weil Jelzin, wieder nüchtern, erkannt hatte, dass die Leute ihn als dumm und grausam bezeichneten. Die liberale Demokratin und Abgeordnete Galina Starowoitowa nannte Jelzin „den Blutigen Boris“ und meinte: „Die Zeiten des Reformers Jelzin sind vorbei. Sein zukünftiges Regime wird gefährlich und das nicht nur für Russland.“
Nun benutzte Putin die Moskauer Bombenanschläge als Casus Belli, um im Herbst 1999 den zweiten Tschetschenienkrieg anzetteln zu können. Das russische Militär ging mit blinder, erbarmungsloser Grausamkeit vor. Gleichzeitig strahlte das russische Fernsehen einen Film mit Videoclips von tschetschenischen Guerillakämpfern aus, die angeblich russische Soldaten folterten und umbrachten. Der schlimmste Clip zeigt, wie eine Messerklinge an den Hals eines kahl rasierten hellhäutigen Mannes gehalten wird. Dann sieht man in Nahaufnahme, wie seine Halsschlagader durchtrennt wird und das Blut aus dem Gesicht entweicht. Die nächste Aufnahme zeigt einen bäuchlings auf dem Boden liegenden Mann, allem Anschein nach eine Leiche. Man kann unmöglich erkennen, ob das Opfer tatsächlich ein russischer Soldat war und die Killer Tschetschenen waren – es gibt keine eindeutigen Hinweise. Dennoch wurden dieser und ähnliche Videoclips immer wieder im russischen Staatsfernsehen gezeigt – als wollte jemand an oberster Stelle die öffentliche Meinung in Bezug auf den Feind, den anderen, aufheizen.
Die Tschetschenen verloren alles, was sie im ersten Krieg gewonnen hatten. Von Tschetschenen bekam man immer wieder zu hören: „Hätten wir in Moskau eine Bombe legen wollen, hätten wir den Kreml oder ein Kernkraftwerk ins Visier genommen. Warum sollten wir ein paar Wohnblocks in die Luft jagen?“
Warum die russische Regierung tschetschenische Terroristen oder von Tschetschenien unterstützte Terroristen für die Bombenattentate in Moskau und in den beiden südrussischen Städten verantwortlich machte, legte bei einer Pressekonferenz, die ein Jahr nach den Gräueltaten in Moskau stattfand, Wladimir Koslow, der Chef der Antiterrorabteilung des FSB , dar. Koslow sagte, die Terroristen gehörten einer radikalen islamistischen Sekte an; deren Anführer Atschimes Gotschijajew habe von dem Warlord Ibn al-Chattab 500000 Dollar dafür erhalten. Ersterer habe Jusuf Krimschamchalow und Denis Saitakow angeheuert, um die Moskauer Wohnblocks in die Luft zu jagen. Die Terroristen seien in Tschetschenien ausgebildet worden, so die offizielle Version des FSB weiter, und dann mit Tonnen von Sprengstoff in die benachbarten Nordkaukasus-Republiken geschickt worden, zum Beispiel nach Karatschai-Tscherkessien. Dort hätten sie Lastwagen gemietet und den Sprengstoff als Zucker, Kartoffeln und andere landwirtschaftliche Produkte getarnt nach Moskau geschmuggelt. Die Bomben bestanden, laut Koslow, größtenteils aus einer Mischung aus Kaliumnitrat und Aluminiumpulver, und als Zeitschalter hätten die Männer Casio-Uhren benutzt. FSB -Ermittler behaupten, sie hätten im Dezember 1999 auch 500 Kilogramm dieser Mischung in der Nähe der tschetschenischen Stadt Urus-Martan entdeckt, und gaben dies als Beweis dafür aus, dass die Attentäter nicht nur in den Trainingslagern von Ibn al-Chattab in Tschetschenien ausgebildet worden seien, sondern dort auch den Sprengstoff erhalten hätten.
Der gesunde Menschenverstand sagt einem, dass es verrückt wäre, wenn eine Gruppe Tschetschenen auf der langen Strecke von Urus-Martan nach Moskau Sprengstoff zu schmuggeln versuchte. Seit dem ersten Tschetschenienkrieg werden Tschetschenen in schöner Regelmäßigkeit von der russischen Polizei schikaniert; die Polizisten halten sie an und durchsuchen ihre Fahrzeuge, wollen die Papiere sehen. Außerdem gab es schon seit Langem eine starke tschetschenische Mafia in Moskau, die ganz leicht Waffen oder Sprengstoff in der Stadt hätte besorgen können. Auch hätte man sich im Moskau der 1990er-Jahre mit einer entsprechenden Bestechungssumme ohne Weiteres Zugang zu einer Nuklearraketenbasis verschaffen können. Die „tschetschenischen Terroristen“ wären ein hohes Risiko eingegangen, hätten sie ihren Sprengstoff auf Lastern rund 1600 Kilometer weit bis nach Moskau transportiert, wo sie ihn doch ebenso gut im hinteren Bereich eines örtlichen Flohmarkts hätten kaufen können.
Sechs der Verdächtigen, einschließlich jener für die Bombenanschläge in Südrussland, wurden dort im Kampf mit russischen Streitkräften getötet. Tote können die Wahrheit nicht mehr erzählen. Der Großteil der „Beweise“, die der FSB auf der Pressekonferenz präsentierte, waren Indizien.
Aber sobald man anfängt, sich näher mit dem fünften Anschlag zu beschäftigen, fällt die offizielle Version der Bombenattentate wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die Geschichte der Entdeckung, Entschärfung und Leugnung der Bombe wirft riesige Zweifel bezüglich der vom Kreml verbreiteten Version auf.
Ungefähr um neun Uhr abends am 22. September bemerkte der Ingenieur Wladimir Wassiljew beim Nachhausekommen drei sich auffällig verhaltende Fremde in der Nähe des Kellers seines Wohnblocks in der Provinzstadt Rjasan, 160 Kilometer südöstlich von Moskau, in der Nowosjelowstraße, übersetzt Neue-Siedler-Straße. Wassiljew sagte: „Vor dem Eingang parkte ein weißer Wagen mit dem Kofferraum zur Eingangstür. Darin saßen zwei Männer, junge Männer zwischen 20 und 25 Jahren.“
Wassiljew bemerkte, dass die letzten beiden Nummern auf dem vorderen Nummernschild mit einem weißem Stück Papier überklebt waren, auf dem die Ziffern 62 standen, die Kennziffer für die Region Rjasan. Am Heck des Autos stand die richtige Nummer mit dem Code für Moskau. Stutzig geworden, beschloss Wassiljew, die Polizei anzurufen. „Während wir auf den Fahrstuhl warteten, stieg einer der jungen Männer aus dem Wagen, und eine Frau trat vor und fragte: ‚Hast du alles erledigt?‘ ‚Ja.‘ ‚Okay, dann lass uns gehen.‘ Dann stiegen alle ein und fuhren schnell weg.“
Wassiljew beobachtete das Trio in dem Wagen mit dem manipulierten Nummernschild. „Ich erinnere mich, dass der Fahrer ziemlich dünn war und einen Schnurrbart hatte, der andere war dicker. Die Frau hatte blondes kurzes Haar, trug Sportsachen und eine Lederjacke. Es waren Russen, ganz sicher Russen, und keine Asiaten“ – also keine Tschetschenen.
Die Polizei von Rjasan traf ein. Inspektor Andrei Tschernischew betrat als Erster das Kellergeschoss. Er erläuterte später: „Wir haben von einem Streifenpolizisten per Funk eine Nachricht erhalten. Es war ungefähr zehn Uhr abends. Jemand hatte beobachtet, wie zwei Fremde aus dem Keller im Gebäude 14/16 in der Nowosjelowstraße kamen. Eine Anwohnerin, die bei dem Gebäude stand, sprach uns an. Sie erzählte uns, die beiden Männer seien aus dem Keller gekommen und in einem Wagen, dessen Nummernschild teils mit Papier abgedeckt war, weggefahren. Ich ging in den Keller hinunter. Dieser Wohnblock hat einen sehr tiefen Keller, der Boden war mit Wasser bedeckt. Wir sahen Säcke voller Zucker und dazwischen eine Apparatur – ein paar Kabel und eine Uhr. Wir waren schockiert. Wir rannten aus dem Keller, und ich hielt Wache, während sich meine Beamten schnell um die Evakuierung der Bewohner kümmerten.“
Clara Stepanowna, eine Großmutter, erinnert sich an jenen Abend: „Nachbarn klopften an die Tür und sagten: ‚Schnell, wir müssen raus, da ist etwas im Keller deponiert worden.‘ Wir rafften ein paar Sachen zusammen und liefen hinaus. Meine Tochter kam gar nicht mehr dazu, sich ordentlich anzuziehen, sie musste ohne Strümpfe und ohne Leggings aus der Wohnung stürzen, nur eine Jacke konnte sie sich noch überwerfen. Auch die Kinder liefen nur halb angezogen hinaus. Dann hat man uns von dem Haus ferngehalten, und sie haben angefangen, es zu untersuchen. Sie haben uns nicht in die Nähe des Hauses gelassen.“
Wassiljew erzählte: „Als wir auf dem Platz standen, fiel meiner Frau ein, dass sie vergessen hatte, den Herd auszuschalten, also ging ich zu einem der MVD -Beamten (Innenministerium), um es ihm zu sagen. Ich fuhr mit dem Fahrstuhl hinauf. Er sagte mir, sie hätten eine Apparatur gefunden.“
Juri Tkatschenko, der Leiter des örtlichen Bombenentschärfungskommandos, ging ins Kellergeschoss. „Meines Erachtens war es eine richtige Bombe. Plötzlich befand ich mich in einer Kampfsituation“, sagte er. Er überprüfte die drei Zuckersäcke mit seinem tragbaren Gasanalysator und bekam ein positives Ergebnis für Hexogen, den Sprengstoff, der in Moskau benutzt wurde. Der Zeitschalter für den Sprengzünder war auf 5 Uhr 30 eingestellt, sodass viele der 250 Bewohner des dreizehnstöckigen Wohnhauses getötet worden wären.
Ungefähr um 1 Uhr 30 wurden die Säcke aus dem Keller geschafft und vom FSB weggefahren. Aber den Sprengstoffzünder ließ die Geheimpolizei in den Händen des Entschärfungskommandos. Später wurde er fotografiert.
Als den Bewohnern um sieben Uhr morgens schließlich gestattet wurde, in ihre Wohnungen zurückzukehren, erlaubte einer der Polizisten Frau Stepanowna anzuschauen, wo die Bomben installiert worden waren. Sie sagte: „Ein bisschen was von dem Pulver war noch da, und der Polizist sagte: ‚Da, das ist das Zeug, das Sie alle in die Luft hätte jagen sollen.‘“
Laut Boris Kagarlitzki, einem Angehörigen des Instituts für Vergleichende Politische Studien der Russischen Akademie der Wissenschaften, verhaftete die Ortspolizei an diesem Abend zwei Männer. „FSB -Beamte wurden dabei ertappt, wie sie die Bomben deponierten. Als sie von der Polizei verhaftet wurden, versuchten sie, ihre Haut zu retten, indem sie ihre FSB -Ausweise zeigten.“
Dann intervenierte die FSB -Zentrale in Moskau. Und die beiden Männer wurden kommentarlos wieder laufen gelassen.
Am nächsten Tag, dem 24. September, verkündete der FSB in Moskau, dass es nie eine Bombe gegeben habe, es habe sich um einen Übungseinsatz gehandelt. Es sei kein Hexogen gewesen, nur Zucker. Kremlfreundliche Zeitungen berichteten, dass dem Entschärfungskommando aus Rjasan ein Fehler unterlaufen sei, als sie das vermeintliche Hexogen entdeckt hätten. Eine Zeitung meinte, dass sie vielleicht versäumt hätten, den Gasanalysator zu reinigen, eine Bemerkung, auf die Tkatschenko, der Sprengstoffexperte, entgegnete: „Das war keine Verschmutzung. Der Analysator hat ganz klar zwei radioaktive Substanzen entdeckt. Diese Leute wissen nicht, wovon sie reden.“
Alexander Sergejew, der Leiter des regionalen FSB in Rjasan, sagte, als man ihn zu der angeblichen Übung befragte: „Unsere Regionalstelle hatte sie nicht angeordnet. Es war eine Übung, die dazu diente, die Kampfbereitschaft in allen Städten Russlands zu überprüfen. Niemand hat uns gesagt, dass es sich um eine Übung handelte, und wir haben auch keine Meldung zum Beenden der Übung erhalten. Für zwei Tage und zwei Nächte haben wir weder Dokumente erhalten noch einen Befehl, die Übung zu beenden.“
Offiziell hat der Innenminister der Polizei und dem FSB verboten, über die Bombe zu sprechen, die es nie gegeben hat. Aber nur wenige glauben die Version des Kremls – dass es sich nur um eine Übung gehandelt habe.
Wassiljew sagte: „Ich habe die offizielle Version übers Radio gehört, als der Pressesprecher des FSB verkündete, es habe sich um einen Übungseinsatz gehandelt. Da habe ich ein mulmiges Gefühl bekommen. Daraufhin haben mich etliche Nachbarn angerufen und gemeint: ‚Hast du das gehört?‘ Ja, hatte ich, aber ich kann es nicht glauben.“
Ein paar Monate später fuhr ich nach Rjasan zu den Dreharbeiten für einen Dokumentarfilm, der unter dem Titel Dying For The President in der Dokuserie Channel 4 Dispatches gezeigt werden sollte. Ich fragte einen der Bewohner, ob die Fremden, die sich im Keller herumgetrieben hatten, Tschetschenen gewesen seien. Er antwortete: „Es waren Russen. Die Frau und zwei Männer. Die Frau hatte kurzes blondes Haar.“
Für unseren Dokumentarfilm trieb ich ein Foto des Sprengzünders, den das Entschärfungskommando aus Rjasan gefunden hatte, auf.
Und was war mit der angeblichen Zuckerbombe?
Die Nowaja Gaseta berichtete über die merkwürdige Geschichte eines Fallschirmjägers, des Gefreiten Alexei Pinjajew, der erzählte, er habe kurz vor dem „Zuckervorfall“ in Rjasan ein Militärlager bewacht und er und ein Kamerad hätten sich von den Säcken mit der Aufschrift „Zucker“ ein bisschen was abgefüllt, um damit ihren Tee zu süßen. Doch der erste Schluck habe so furchtbar geschmeckt, dass sie das Zeug sofort weggeschmissen hätten. Aus Angst, sich vergiftet zu haben, hätten sie den angeblichen Zucker untersuchen lassen, und dabei sei herausgekommen, dass es sich um Hexogen handelte. Später leugnete Pinjajew diese Geschichte auf einer Pressekonferenz, die vom FSB und seinem damaligen Leiter Nikolai Patruschew abgehalten oder vielleicht besser gesagt inszeniert wurde. Heute ist Patruschew der Leiter des russischen Nationalen Sicherheitsrates und Putins Stellvertreter, falls er sich in ärztliche Behandlung begeben muss.
Hat irgendjemand versucht, die russischen Behörden wegen der Moskauer Bombenanschläge gerichtlich zu belangen? Ja. Das, was mit dem zuständigen Anwalt passierte, spricht Bände über die Rechtsstaatlichkeit in Russland unter Wladimir Putin. Michail Trepaschkin ist ein ehemaliger FSB -Beamter, der seinerzeit von seinem Vorgesetzten, Nikolai Patruschew, ausgezeichnet worden war. Später arbeitete er als Anwalt, und in dieser Rolle vertrat er zwei Schwestern, deren Mutter bei einem der Bombenattentate in ihrer Wohnung getötet wurde. Trepaschkin fand einen der frühen Verdächtigen, dessen Beschreibung zu einem Mann passte, der gesehen worden war, wie er Sprengstoff angeliefert hatte. Doch diese Beschreibung war praktischerweise aus den Akten verschwunden. Immerhin hatte Trepaschkin Beweise dafür, dass es sich bei dem Verdächtigen um Wladimir Romanowitsch handelte, einen FSB -Agenten, der zu einer Bande gehörte, die 1990 die Moskauer Soldi-Bank erpresst hatte.
Er fand heraus, dass Romanowitschs Beschreibung absichtlich aus der Untersuchungsakte der Polizei in Sachen Moskauer Bombenanschläge entfernt worden war, was auf eine verdeckte Staatsoperation hindeutete. Aber Trepaschkin blieb sein großer Auftritt vor Gericht versagt. Jedenfalls als Anwalt. Im Oktober 2003, nur eine Woche vor einer anberaumten Anhörung, beider er den Sachverhalt um den FSB -Agenten, der bei der Anlieferung des Sprengstoffs in einen der Moskauer Wohnblocks gesehen worden war, darlegen wollte, wurde Trepaschkin wegen illegalen Waffenbesitzes verhaftet. Ein Militärgericht verurteilte ihn hinter verschlossenen Türen wegen Verrats von Staatsgeheimnissen zu einer vierjährigen Haftstrafe. Im Gefängnis litt Trepaschkin unter Asthma, einer Dermatose und Sodbrennen, musste aber dennoch in einer eiskalten Strafzelle ausharren, zusammen mit anderen Häftlingen, die Tuberkulose hatten.
Ich fragte Donald Rayfield, wer hinter den Bombenanschlägen auf Moskauer Wohnblocks steckt: „Der KGB oder FSB , wie er jetzt heißt. Es gibt absolut keinen Zweifel. Alle Zeugenaussagen belegen, dass es unmöglich Tschetschenen gewesen sein können. Und dann wurden sie auch noch dabei beobachtet, wie sie das Gleiche in Rjasan machen wollten, wo die Ortspolizei, wie es häufig der Fall ist, sie in flagranti erwischte. Da kommt ein Polizist des Weges und fragt: ‚Was tut ihr denn da?‘ Und macht ihnen einen Strich durch die Rechnung. Dann behaupten sie, es war nur Zucker, das Ganze nur eine Übung. Aber es war kein Zucker, es war Sprengstoff.“
In Russland nennt man TNT seither „Rjasan-Zucker“. Ein Witz, aber kein lustiger.
Schlüssige Beweise legen nahe, dass die Angelegenheit, die Wladimir Putins politische Karriere befeuerte – sein hartes Durchgreifen gegen angebliche tschetschenische Bombenattentäter – in Wahrheit eine verdeckte Operation der Geheimpolizei war.
Dass Wladimir Putin Russland in die Luft jagte.
In seiner von einem Ghost verfassten Autobiografie wird Putin damit konfrontiert, woraufhin er erwidert: „Unsere eigenen Wohnhäuser in die Luft jagen? Wissen Sie, das ist wirklich … hanebüchener Unsinn! Das ist doch krank. Niemand von unseren Sicherheitsdiensten wäre zu einem solchen Verbrechen gegen die eigene Bevölkerung in der Lage. Allein schon die Unterstellung ist unmoralisch. Das ist nichts anderes als Teil des Informationskriegs gegen Russland.“
Der September 1999 ist meiner Meinung nach der Zeitpunkt, an dem Russland aufhörte, eine Demokratie zu sein. Die Bombenanschläge auf die Moskauer Wohnblocks waren Wladimir Putins Sündenfall, und jeder Russe oder jede Russin, der oder die es wagte, in dieser Angelegenheit zu recherchieren, begab sich in Lebensgefahr.