Kapitel fünf

Krieg ohne Mitleid

D ie Tschetschenin war allein im Grenzgebiet zwischen Tschetschenien und Inguschetien, als sie uns erblickte, ein westliches Fernsehteam, das soeben zu filmen begann. Sie kam auf mich zu, wickelte etwas aus, das sie in eine Decke eingeschlagen hatte, und dann begann sie, durchdringend zu schreien: „Danke, Herr Putin!“ Das Etwas entpuppte sich als zwei verkohlte Schädel, die einzigen Überreste ihrer Schwestern, die von der russischen Armee verbrannt worden waren. Ich war zutiefst schockiert.

Es ist schwer, nahezu unmöglich, zu vermitteln, wie unglaublich brutal der zweite Tschetschenienkrieg war, wie erbarmungslos die Tötungsmaschinerie des Herrschers im Kreml. Für mich als Reporter und Mensch war es am schwierigsten, Zeuge des gewaltigen Fehlers zu werden, den die westlichen Staatsmänner machten, die einen Kuschelkurs mit Wladimir Putin einschlugen, während die Beweise für seine Kriegsverbrechen in Tschetschenien und die Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die verübt wurden, als der FSB in Moskau Wohnblocks in die Luft jagte, erdrückend waren. George W. Bush sagte 2001 nach seiner ersten persönlichen Begegnung mit Putin: „Ich habe dem Mann in die Augen geschaut. Ich fand ihn sehr aufrichtig und vertrauenswürdig, und wir haben ein sehr gutes Gespräch geführt. Ich habe ein Gefühl für seine Seele bekommen, ein Mann, der seinem Land und den Interessen seines Landes zutiefst verpflichtet ist.“

Tony Blair war der allererste westliche Staatsmann, der den neuen Führer Russlands pries. Im Frühjahr 2000 reiste er nach Sankt Petersburg und besuchte zusammen mit den Putins die Oper Krieg und Frieden von Prokofiew. Der britische Premierminister beglückte Putin mit einem persönlichen Gespräch, noch ehe die russische Wählerschaft ihn ins Amt gewählt hatte. Blair sagte Reportern: „Wir haben unsere Bedenken zu Tschetschenien und zu jeglicher Frage der Menschenrechtsverletzungen dort immer klar zum Ausdruck gebracht, doch es ist wichtig zu begreifen, dass Tschetschenien nicht der Kosovo ist. Die Russen sind schweren terroristischen Angriffen ausgesetzt gewesen.“

Es waren keine terroristischen Angriffe, sondern Geheimoperationen des FSB . Und das wussten sowohl die CIA als auch der MI 6. James Bond ist ein geschniegelte Fantasiegestalt. George Smiley, eine Schöpfung von John le Carré, hat einen Beigeschmack des Echten. Spione lesen Zeitung. Sie würden die Geschichten in der Nowaja Gaseta gelesen haben, die Fragen dazu aufwarfen, wer tatsächlich für die Bombenattentate auf Moskauer Wohnhäuser verantwortlich war. Im März 2000 brachte der Observer meinen Bericht über die Bombe aus Zucker in Rjasan. 2001 veröffentlichte Juri Schtschekotschichin, ein brillanter und furchtloser russischer Journalist und Abgeordneter, eine Sonderausgabe der Nowaja Gaseta , verfasst von einem früheren KGB -Oberst, Alexander Litwinenko, und dem russisch-amerikanischen Journalisten Yuri Felshtinsky über den Skandal. Daraus entstand das Buch Blowing Up Russia: Terror from Within , veröffentlicht 2002. Der Titel ist ein Hinweis, den selbst die CIA in Langley und der MI 6 in Vauxhall Cross, London, nicht übersehen haben würden. Damit die britischen und amerikanischen Spione es auch begriffen, wurde Blowing Up Russia auf Russlands staatliche Liste extremistischer Materialien gesetzt. Im Klartext: Das Buch kam auf den Index, weil es Staatsgeheimnisse enthüllte. Und wer amerikanischer oder englischer Spitzel sein will, liest die vom Kreml verbotenen Bücher.

2005 drehte ich für die BBC eine Dokumentation über Craig Murrays gescheiterten Versuch, Außenminister Jack Straw bei den englischen Wahlen zu schlagen. Der frühere britische Botschafter in Usbekistan berichtete mir, er habe einen Bericht des MI 6 über die Bombenanschläge auf Moskauer Wohnhäuser gesehen, in dem Beweise aufgeführt wurden, dass es sich dabei um ein Eigentor des FSB handelte.

In seinem Buch Darkness at Dawn beschrieb der amerikanische Journalist David Satter 2003 den Skandal detailliert, und das Gleiche tat er 2016 in einem zweiten Buch, The Less You Know, The Better You Sleep: Russias Road to Terror and Dictatorship under Yeltsin and Putin . Im gleichen Jahr stellte Satter beim amerikanischen Außenministerium einen Antrag auf Einsicht in Dokumente, ebenso beim FBI und bei der CIA . Er wollte herausfinden, was sie über die Sprengstoffanschläge auf Moskauer Wohnhäuser wussten – und erreichte gar nichts. Die CIA räumte nicht einmal ein, dass irgendwelche diesbezüglichen Akten existierten, denn das hätte „sehr genaue Aspekte des nachrichtendienstlichen Interesses – oder Desinteresses – der CIA an den russischen Bombenanschlägen“ erkennen lassen.

Satter stöberte weiter, hartnäckig wie ein Hund, der nicht von seinem Knochen lässt. Er bekam sogar ein Telegramm über den Vorfall in Rjasan in die Hände. Es ist von der US -Botschaft in Moskau, datiert vom 24. März 2000, und Satter schreibt dazu: „Ein früherer russischer Geheimdienstoffizier, offenbar einer der Hauptinformanten der Botschaft, sagte, die wahre Geschichte über den Vorfall in Rjasan könne nie bekannt werden, denn sie ‚würde das Land zerstören‘.“

Wenn Litwinenko, Felshtinsky, Satter und ich die Wahrheit über die Moskauer Bombenattentate herausfinden konnten, dann konnten das doch wohl auch die CIA und der MI 6. Doch beim außenpolitischen Establishment des Westens herrschte eine verkorkste Denkweise. Sie wollten glauben, dass Putin ein Demokrat ist, ein Freund des Westens, jemand, mit dem sie geschäftliche Beziehungen unterhalten konnten. Und sie machten sich daran, die Beweise für das Gegenteil verschwinden zu lassen.

Ihre Rechnung ging nicht auf. Ende der 1990er-Jahre bezeichnete Putin den Kommunismus als „eine Sackgasse, weit entfernt von der Hauptrichtung der Zivilisation“. Seine Verachtung für den Kommunismus ist echt. Doch das bedeutet natürlich nicht, dass Putin sich die Demokratie oder die grundlegenden Dinge, die mit ihr einhergehen müssen, zu eigen machte: Überprüfung durch eine freie Presse, Meinungsfreiheit, Toleranz gegenüber Spott und Humor. Vielmehr hat sich Putin einige Ideen herausgepickt, die miteinander verschmolzen und zu seinem Leitstern geworden sind: Ultranationalismus; Hass auf andere; Verachtung gegenüber einer freien Presse und Meinungsfreiheit; Intoleranz gegen Spott und Humor; zutiefst konservative gesellschaftliche Wertvorstellungen; ein unfreier Markt, der an die politische Macht verpfändet ist; Verehrung für „die Organe“, den KGB und den ganzen Abkürzungssalat seiner Vorgänger (Tscheka, GPU , OGPU , NKGB , NKVD , MGB ) und Seitentrieben (SVR , FSB ). Ohne es auszusprechen, ohne Bekanntmachung war Putin ein russischer Faschist.

Zudem fügen sich Putins Anschauungen bestens in die lange Tradition russischer Autokratie ein, wie sie der französische Schriftsteller Astolphe de Custine in seinem Reisebericht Russland im Jahre 1839 über das Land, in dem Nikolaus I. herrschte, scharfsinnig beschrieben hat: „Eine Regierung, die vom Geheimnis lebt und deren Stärke in der Verstellung liegt, fürchtet sich vor allem.“ Stalin war ein Erbe dieser autokratischen Ausrichtung, und seit den späten 1920er-Jahren projizierte er den russischen Imperialismus erfolgreich auf den Kommunismus, jedoch mit einer raffinierten neumodischen und zutiefst verlogenen Rhetorik. Der Putinismus harmoniert mit dem Zarismus Nikolaus’ I. und dem Stalinismus – und für jeden aufmerksamen Beobachter war das mehr als offensichtlich.

Zu hören, wie Blair und Bush von Wladimir Putins Seele sprachen, nach allem, was ich in Moskau, Rjasan und Tschetschenien gesehen hatte – es war zum Verrücktwerden.

Im Jahr 2000 reiste ich zweimal undercover nach Tschetschenien.

Es war beängstigend. Zwei Jahre zuvor waren dort vier britische Telefontechniker entführt worden, die daran gearbeitet hatten, ein Netz aus Funkmasten außerhalb der Kontrolle des Kremls zu errichten. Ihre vier abgetrennten Köpfe wurden neben einer Straße gefunden. Nicht gerade eine subtile Warnung. Ein unerschrockener russischer Reporter, Andrei Babitzki, reagierte im Januar 2000 auf die absurde Behauptung des Kremls, in der tschetschenischen Hauptstadt Grosny gebe es keine Zivilisten mehr, indem er dort hinreiste und berichtete, dass es nicht stimmte. Er riskierte sein Leben, denn das Bombardement der russischen Artillerie war sehr heftig. Mitte Januar wurde er von russischen Erfüllungsgehilfen gefangen genommen, gefoltert und schließlich im März in russische Obhut übergeben. Also reisten mein Team und ich nach Tschetschenien, als die Wahrscheinlichkeit, geköpft oder entführt zu werden, relativ hoch war.

Im Februar 2000 flog ich gemeinsam mit dem Kameramann James Miller und der Produzentin Carla Garapedian nach Moskau und dann weiter nach Nasran in Inguschetien, die Nachbarrepublik von Tschetschenien. James und ich hatten eine Dokumentation für Channel 4 und dessen Sendereihe Dispatches gedreht, über ein Massaker, das 1999 in Klein Krusha im Kosovo stattgefunden hatte. Damals hatten serbische Polizei und Paramilitärs mehr als hundert kosovarische Männer und Jungen in einer Scheune abgeschlachtet. Unser Film hatte einen Preis gewonnen (einen Royal Television Society Award ), und James und ich waren gute Kumpel. James brachte meinen Kindern Sam und Molly das Surfen bei. Carla ist eine großartige und furchtlose amerikanisch-armenische Produzentin. Wir drei fuhren also undercover zusammen nach Tschetschenien, um Putins ersten Krieg zu dokumentieren.

Wir begannen damit, Interviews mit Tschetschenen zu filmen, die es geschafft hatten, über die Grenze nach Inguschetien zu gelangen. Sowohl Tschetschenien als auch Inguschetien sind Teilrepubliken innerhalb der Russischen Föderation. Tschetscheniens lange Kriege gegen die russischen Zaren und später gegen deren Nachfolger wurden ausgefochten, weil die Menschen die Invasoren aus dem Land werfen wollten. Der zweite Tschetschenienkrieg (1999–2009) war Wladimir Putins Antwort darauf. In den Außenbezirken von Grosny wurde russische Artillerie stationiert, die die Stadt in Trümmer legte. Als sich Flüchtlingskolonnen mit weißen Fahnen an ihren Autos in Bewegung setzten und in Sicherheit bringen wollten, wurden sie bombardiert.

Das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, lag ein Mädchen hingestreckt auf ihrem Krankenhausbett und erzählte uns in kindlichem Flüsterton von dem Tag, an dem ihre Mutter, ihr Vater, ihre beiden Brüder, ihre Schwester und ihre Cousine ausgelöscht worden waren. Ihre Tante kümmerte sich um sie. Insgesamt waren 363 Menschen aus ihrem Dorf umgekommen. Mit ihren acht Jahren war dieses Mädchen, nennen wir sie Kamiisa, Augenzeugin eines Kriegsverbrechens. Das Dorf Katar-Jurt lag „sicher“ im russisch besetzten Gebiet, weit entfernt von der Front, und war überfüllt mit Flüchtlingen. Bis zum Morgen des 4. Februar 2000 war es unversehrt geblieben, als russische Flugzeuge, Hubschrauber, Aerosolbomben und Grad-Raketen das Dorf in Schutt und Asche legten. Um drei Uhr nachmittags legten die Russen eine Pause im Bombardement ein, schickten Busse ins Dorf und gestatteten einem Konvoi mit weißen Fahnen, in dem auch Kamiisas Familie war, den Abzug.

Und dann bombardierten sie auch ihn und töteten Kamiisas Familie und viele andere.

Unsere tapfere tschetschenische Vermittlerin Natascha fand einen abtrünnigen FSB -Offizier, der einwilligte, James, Carla und mich für 2500 Dollar in bar nach Katar-Jurt zu fahren. Wir duckten uns hinter den verdunkelten Scheiben seines Wolga und passierten ohne Schwierigkeiten mehrere russische Kontrollpunkte, bis wir das Dorf erreichten und sahen, was davon übrig geblieben war: eine Landschaft, als läge sie an der Somme, Straßen zu Splittern zerschmettert, Bäume zerfetzt, blutdurchtränkte Keller, die Überlebenden fast wahnsinnig vor Angst. Das Dorf war übersät mit den Resten russischer Vakuumbomben. Sie gegen Zivilisten einzusetzen, verbietet die Genfer Konvention.

Zeugen vor Ort, sehr verwundert über den ersten Besuch westlicher Außenstehender in ihrem Dorf, das von Westen und Osten durch Spezialtruppen der russischen Geheimpolizei, des FSB , abgeriegelt war, sagten, sie hätten 363 Leichen gezählt, zu Haufen von zwei oder drei auf der Straße übereinandergestapelt – „so viele, dass man mit dem Auto nicht an ihnen vorbeikam“ –, ehe die Russen viele Leichen fortschafften und in ein Massengrab warfen.

Kamiisa hatte ein grausam verbranntes Gesicht, beide Hände hatten Verbrennungen und waren verbunden, ihr rechtes Bein war gebrochen und eingegipst, das linke Knie von Metallstücken durchschlagen, und sie hatte innere Verletzungen erlitten – und doch wollte sie uns erzählen, was geschehen war. Kamiisas Vater Mansour, 45, ein Bauarbeiter, ihre Mutter Hava, 45, Lehrerin, ihre Brüder Magomed, 14, und Ruslan, 12, ihre Cousine Hava, 8, und ihre Schwester Madina, 6, hatten sich in den schwarzen Wolga Saloon der Familie gequetscht. Sie erklärte, wie der Konvoi Katar-Jurt verlassen hatte, wie sie hofften, Richtung Sicherheit. „Dann kamen zwei Flugzeuge, und wir wurden getroffen. Wir flogen durch die Luft, und ich fiel auf den Boden in den Dreck.“

Kamiisa zuckte zusammen, als ihre Tante die verbrannte Haut um ihr Auge herum abtupfte. Die Tante sagte: „Nachts fürchtet sie sich davor, die Augen zu schließen. Sie hat mir gesagt, sie hat Angst, dass dann die ganzen Bilder zurückkommen.“

Am schlimmsten war, dass Kamiisas Tante es nicht über sich brachte, dem kleinen Mädchen zu sagen, dass es die einzige Überlebende von den sieben Menschen im Auto der Familie war. „Ich weiß nicht, wie ich ihr das sagen soll. Wenn wir es ihr jetzt erzählen, würde sie es nicht ertragen. Sie hat jetzt schon Angst, nachts die Augen zuzumachen. Letzte Nacht ist sie zehn Mal aufgewacht, und wir können sie nicht beruhigen.“

Katar-Jurt, westlich von Grosny gelegen, blieb bis zur Nacht des 3. Februar still und unversehrt. Aber nun war Grosny gefallen, und tschetschenische Kämpfer flohen vor der Rache der Russen. Einige kamen durch Katar-Jurt. Es ging ein Gerücht um, in dieser Nacht wären zwei russische Soldaten entführt oder getötet worden. Und am Morgen des 4. Februar brach die Hölle los.

Im Januar hatte der damalige britische Außenminister Robin Cook – in vielerlei Hinsicht ein fähiger Mann – Putin in Moskau getroffen und sich besonders ins Zeug gelegt, um den Mann von der Geheimpolizei zu rühmen, der an seine Streitkräfte als Geschenk zum neuen Jahr Jagdmesser hatte ausgeben lassen. Cook sagte über Putin: „Ich fand seine Art erfrischend und offen, und die Prioritäten, die er für Russland setzt, könnten wir teilen.“

Für meine frühere Zeitung, den Observer , legte ich die Beweise für das dar, was die russische Armee den Zivilisten von Katar-Jurt angetan hatte – Beweise, die die Unterstützung des Außenministers für Putins Prioritäten, „die wir teilen könnten“, infrage stellten.

Rumissa Medhidowa war 27, doch ihr Gesicht war von Trauer und Entsetzen so gezeichnet, dass sie dreißig Jahre älter wirkte. Der 4. Februar hatte sie zur Witwe gemacht. „Alle Russen verließen das Dorf, und gegen zehn Uhr morgens begannen sie mit dem Bombardement, mit allem, was sie hatten. Im Zentrum des Dorfes steht nicht ein Haus mehr. In einer Familie lagen drei Kinder neben ihrer toten Mutter. Sie hatten ihnen mit Kalaschnikows in die Beine geschossen. Sie sagten: ‚Wir geben euch zwei Stunden.‘ Sie schickten Busse mit weißen Fahnen.“

Die Menschen hetzten durch die Gegend, um weiße Laken oder sonst irgendetwas Weißes zu finden, womit sie ihre Autos kennzeichnen konnten. Es blieb sogar Zeit für einen Scherz: „Ich sah eine Kuh mit weiß angepinselten Hörnern, und die Leute lachten.“

Der Konvoi machte sich auf den Weg, jedes Auto mit einer weißen Fahne, einige Autos sogar mit zwei oder drei. Sie waren vollgepackt mit Menschen, hauptsächlich Frauen und Kinder – die Männer hatten sich zurückgehalten, um Platz für die Kinder zu machen, sagte Rumissa. Der Konvoi bewegte sich nach Westen in Richtung der Stadt Atschchoi-Martan, in Sicherheit. „Als wir mitten auf offener Straße waren, feuerten sie Boden-Luft-Raketen auf uns ab. Es war eine große Rakete, nicht ganz so groß wie ein Auto. Es war merkwürdig. Sie explodierte nicht nur einmal, sie explodierte mehrere Male. Jedes Auto hatte Fahnen, wie viele Autos es waren, weiß ich nicht. Es war ein großes Durcheinander, jede Menge Autos. Sie beschossen uns ohne Pause.“

Das klingt nach Grad-Raketen, aber mit dem zeitlichen Abstand lässt sich das unmöglich noch feststellen.

Könnten die Russen den Konvoi mit den weißen Fahnen versehentlich für Truppen gehalten haben? „Nein, sie konnten uns nicht verwechseln. Sie wussten ganz genau, dass es hier viele Flüchtlinge gab: 16000 Flüchtlinge und 8000 Einwohner. Vor uns war ein großes Auto voller Kinder, keine Erwachsenen. Sie sind vor meinen Augen verbrannt.“

Rumissas Mann stieg aus dem Auto und wurde von einem Granatsplitter getötet. Mit ihren Kindern flüchtete sie vom Ort des Massakers und schaffte es nach Atschchoi-Martan. „Ich habe viele Leichen gesehen, aber ich kann nicht sagen, wie viele. Da lagen viele Menschen auf der Straße. Ich habe sie nicht gezählt. Ich habe auch verschiedene verbrannte Körperteile gesehen, die in Eimern gesammelt wurden.“

Und dann begann das Vertuschen. „Die Russen erlaubten den Menschen im Dorf nicht, die Leichen zu holen. Erst am fünften Tag ließen sie zu, dass die Leute hingingen, um die Leichen zu holen. Als die Leute dort ankamen, fragten sie: ‚Wo sind die Leichen unserer Verwandten?‘ Die Russen sagten, einige seien bereits verbrannt worden. Die Leute sagen aber, die Russen hätten die Leichen genommen und sie in ein Massengrab geworfen.“

Ein weiterer Augenzeuge, ein verwundeter Mann in einem Alter, dass die Russen ihn sicher getötet hätten, sagte: „Sie fingen an, Bomben zu werfen. Bomben und Artillerie. Sie haben Menschen getötet. Bei unserer Schule am Rand des Dorfes waren Truppen der Spetsnaz [russische Spezialeinheiten]. Sie sagten: ‚Wir werden euch einen Sicherheitskorridor gewähren.‘ Also machten sich alle auf den Weg in Richtung Atschchoi-Martan. Dann setzten sie Raketen gegen uns ein. Einige sagen, es sind 350 Flüchtlinge umgekommen und 170 Menschen aus dem Dorf.“

Zara Aktimirowa, 59, kümmerte sich um ihre Mutter Matusa Batalowa, 85, die von einem Granatsplitter verletzt worden war. „Die Angst war so entsetzlich, dass ich keine Worte dafür habe … Wir waren in einem Keller. Man konnte die Vakuumbomben hören: Zisch, zisch . Kaum waren wir in diesem Keller, da wurde das Nachbarhaus völlig zerstört. Wenn jemand zum Eingang des Wohnblocks rannte, feuerten Scharfschützen auf ihn und trafen Arme und Beine.“

Später gingen sie und ihre Mutter die Straße entlang und sahen die Trümmer des Konvois mit den weißen Fahnen: „Die Autos waren zerfetzt, wie Hackfleisch. Ich habe die Autos nicht gezählt, ich habe meine Mutter getragen. Der Konvoi erstreckte sich vielleicht über drei Kilometer hinweg. Jedes Auto war getroffen worden.“

Ihre Mutter lag im Sterben.

Unser fünfter Zeuge, ein Arzt, hatte einen glasigen Blick und war todmüde, nachdem er während des Bombardements ohne Narkosemittel, Medikamente und Strom Hunderte Patienten operiert hatte. Er sagte: „Zuerst trafen sie das Dorf, dann gaben sie einen Korridor für die Zivilisten frei, und dann eröffneten sie das Feuer. Die Toten brachten sie uns nicht, nur Sterbende, die im Todeskampf lagen. Sie brachten zehn Leichen, um zu überprüfen, ob sie noch lebten oder nicht. Darunter waren ein Baby, Erwachsene und Jugendliche, manche ohne Beine, verbrannt, mit Wunden an Kopf und Bauch. Im Dorf gab es viele weitere Leichen, die sie uns nicht gebracht haben.“

Unser sechster Zeuge stand vor den Ruinen seines Heims in Katar-Jurt, auf zwei Krücken gestützt. Riswan Wachajew, 47, schnaubte bloß verächtlich, wenn er daran dachte, dass es gefährlich war, seine Meinung offen zu äußern. Als in der Nähe seines Hauses zwei Vakuumbomben fielen, töteten die Druckwellen acht Menschen sofort: sechs Frauen, einen Mann und einen elfjährigen Jungen; zehn weitere Menschen starben später. Seine Frau wurde schwer verletzt, ebenso drei seiner Kinder. Seine Schwiegertochter war sofort tot.

Er zeigte uns die Stelle, wo die Kinder gelegen hatten, als die Druckwelle gekommen war, und wo sich Überreste menschlicher Eingeweide auf dem Boden fanden. Die Vakuumbombe wurde an einem Fallschirm abgeworfen. Wenn eine solche Bombe zu Boden fällt, setzt sie eine Dunstwolke aus Brennstoff frei, die sich entzündet, und der Himmel explodiert. Eine Studie der US Defence Intelligence Agency von 1993 berichtet: „Der Tötungsmechanismus gegen lebende Ziele ist singulär und unschön. Was tötet, ist die Druckwelle und, wichtiger noch, die darauffolgende Rarefizierung [Vakuum], die die Lungen zerreißt.“

Eine alte Dame, unsere siebte Zeugin, tauchte zitternd aus einem Loch im Boden auf. Sie führte ein Stück Brot zum Mund. „Gestern und heute haben wir nichts gegessen. Es war wie beim Weltuntergang, Hubschrauber und Flugzeuge. Drei Bomben sind gefallen, während wir im Keller waren. Drei Söhne und eine Tochter sind tot. Unser vierter Sohn liegt sterbend im Krankenhaus.“

Auf dem Weg aus dem Dorf hinaus hielten wir an der Moschee. Dort begegneten wir unserem letzten Augenzeugen. Er hatte die Leichen alle gezählt, bevor die Russen sie fortschafften. Einige schleiften sie mit Ketten an den Stoßstangen von Autos davon. Er hatte versucht, die Leichen zu waschen und ihnen nach muslimischer Tradition im Tod etwas Würde zu verleihen. Und wie viele Tote waren es? „363“, sagte er.

Als wir das zerstörte Katar-Jurt verließen, sahen wir das, was von dem Konvoi mit den weißen Fahnen übrig geblieben war: kaputte Autos, verbogenes, verkohltes Metall, ein Stiefel, der im Schmutz lag. Und dann hörten wir das Feuer eines Maschinengewehrs, ein Echo dessen, was Robin Cook die „erfrischende und offene“ Sprache von Wladimir Putin genannt hatte.

Für meinen Podcast Taking On Putin , den ich seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine im Februar 2022 veröffentliche, suchte ich einen Ausschnitt aus unserem Film aus dem Jahr 2000 hervor. Man hörte die Worte von Kamiisa, gelesen von einem kleinen englischen Mädchen: „Als wir auf der Straße fuhren, trafen zwei Flugzeuge unser Auto. Mein Papa, Mamet und Mama saßen vorne. Rusik, ich, Madina, Hava und Luisa saßen hinten. Papa und Hava waren noch im Auto. Rusik, ich, Madina und Luisa wurden hinausgeschleudert.“

Ich fragte Kamiisa, ob das Auto eine weiße Fahne gehabt hatte.

„Sie war an einer Stange aus Holz befestigt“, sagte sie.

Übrigens wurden die Worte von Kamiisa damals, im Jahr 2000, von meiner Tochter Molly gelesen, die zu diesem Zeitpunkt ebenfalls acht Jahre alt war.

Im Sommer 2000 verließ ich den Observer und ging zur BBC . Bald reiste ich wieder nach Tschetschenien, diesmal bestand meine Tarnung darin, dass ich mich als Buchprüfer für die Heilsarmee ausgab – niemand stellte mir Fragen, also funktionierte es. Ich machte eine Dokumentation für BBC Radio 5, Victims of the Torture Train . Russische Soldaten stellten einen langen Zug auf einer Nebenstrecke ab und fesselten die tschetschenischen Gefangenen mit Handschellen an die Sitze. Sie machten die Gefangenen langsam fertig, einen Waggon nach dem anderen. Es gab auch einen Stützpunkt, wo sie die wichtigen Gefangenen folterten. Ein Vorgehen war bekannt als die Slon- oder Elefanten-Methode, benannt nach dem beweglichen Schlauch der üblichen russischen Armee-Gasmaske. Dem Gefangenen wurden die Hände hinter dem Rücken mit Handschellen gefesselt, dann wurde ihm die Gasmaske aufgesetzt. Die Russen schraubten den Filter ab und spritzten Tränengas durch den Schlauch, und der Gefangene begann, in seinen eigenen Tränen und seinem Rotz zu ertrinken, eine abscheuliche Steigerung des Waterboarding.

Es gab noch weitere Foltermethoden, von denen ich hörte, zu entsetzlich, um sie irgendjemandem zu erzählen, geschweige denn, darüber zu berichten. Um mit alldem zurechtzukommen, hatte ich wohlüberlegt sechs Bücher von P.G. Wodehouse mitgebracht. Den ganzen Tag über interviewte ich gefolterte Tschetschenen, dann kehrte ich in mein Hotel zurück, kippte mir eine Flasche Wodka hinter die Binde und las Alter Adel rostet nicht . Gegen zwei Uhr früh hatte das Zusammenwirken von Alkohol und Bertie es geschafft, Tante Dahlia das Milchkännchen in Form einer Kuh wiederzubeschaffen, und ich schlief ein. In manchen Nächten ging es einfach nicht.

Einen Konvoi mit weißen Fahnen zu bombardieren, ist ein Kriegsverbrechen. Ebenso, wie Vakuumbomben gegen Zivilisten einzusetzen. Und ebenso Folter in industriellem Ausmaß. Ich sah in Putins Krieg gegen Tschetschenien erdrückende Beweise für all das. Ich verließ das Land, und es war mir vollkommen unbegreiflich, wie der Westen diese russischen Verbrechen gegen die Menschlichkeit ungehindert weiterhin zulassen konnte. Die Beweise, dass Wladimir Putin bereits im Jahr 2000 Kriegsverbrechen beging, lagen offen da, und ich kann nur wiederholen: Ich hab es euch verdammt noch mal gesagt!

Warum haben Blair und Bush, die Außenministerien von Großbritannien und den Vereinigten Staaten, der MI 6 und die CIA Putin so falsch eingeschätzt?

Vor dem Einmarsch in die Ukraine im Jahr 2022 hielt ich einen Schwatz mit Professor Donald Rayfield über die Liebe des Westens zu Putin, als er der neue Geheimpolizist im Viertel war. Der Professor sinnierte: „Er trinkt nicht. Für den Westen war das nach Jelzin und Chruschtschow ein Segen. Die am meisten gefürchteten Führer der Sowjets sind diejenigen gewesen, die tranken, denn sie konnten jederzeit auf den Knopf drücken. Putin trinkt wenig, nicht so viel, dass er sich nicht mehr unter Kontrolle hätte. Zweitens ist er ziemlich rational. Bei allem, was er unternimmt, durchdenkt er zuvor Risiko, Schaden und Nutzen. In dieser Hinsicht ist er Stalin ziemlich ähnlich. Er ist ungeheuer gut darin, ein Risiko abzuschätzen, und daher ziemlich bedächtig, was internationale Abenteuer angeht. Nur gelegentlich macht er einen Fehler. Wenn er sich ein Stück eines anderen Landes unter den Nagel reißt, tut er es zu einem Zeitpunkt, zu dem er ziemlich sicher sein kann, dass es keine Konsequenzen haben wird, zumindest keine, die es wert wären, dass man sich ihretwegen sorgt. Ich nehme an, es ist besser, wenn man es mit einem rationalen oder scheinbar rationalen Psychopathen zu tun hat, als wenn man es mit einem irrationalen Säufer zu tun hat. Und dass er alles unter Kontrolle hatte, bedeutete, dass es in Russland keinen Ärger mehr geben würde. Man hatte das Gefühl, es würden keine weiteren Territorien versuchen, sich abzuspalten, es würde keine Unruhen mehr geben. Russisches Öl, Gas, Nickel und was sie dem Westen sonst noch alles liefern, würde ohne Störungen abgebaut, verkauft und geliefert werden. Das war meiner Meinung nach die Berechnung des Westens: Er ist vielleicht ein Schweinehund, aber er wird schon alles ordentlich regeln, und wir werden unseren Gewinn erzielen.“

Doch was, wenn Tony Blair und Konsorten einen großen Fehler gemacht haben, wenn Putin kein stabiler Psychopath, sondern ein instabiler war? Was dann? Und die Konsequenzen? Nun, die trugen erst mal andere. Menschen wie Kamiisa.

Einundzwanzig Jahre nachdem ich ihr fürchterlich verbranntes Gesicht im Krankenhaus zum ersten Mal gesehen hatte, nahm ich wieder Kontakt mit ihr auf, dank der großartigen Recherchearbeit der ukrainischen Journalistin Jenny Klochko aus London. Kamiisa ist heute verheiratet, hat zwei Töchter und erwartet eine dritte. Ich fragte sie: Wenn du siehst, wie Wladimir Putin nach London kommt, die Queen trifft und mit unserem Premierminister spricht, was denkst du dann?

„Kann ich das wirklich sagen? Wer hört das?“, fragte Kamiisa.

„Du denkst also etwas und willst es nicht aussprechen“, antwortete ich.

„Ja.“

„Ich verstehe“, sagte ich. „Die Menschen in Russland haben Angst davor zu reden. Das stimmt doch, oder?“

„Wir haben Angst davor, auch nur zu atmen.“