W ladimir Putins erster Wahlkampf im Vorfeld der russischen Präsidentschaftswahl im März 2000 lief wie geschmiert. Er erfreute sich sowohl bei den russischen Wählern als auch bei den führenden Köpfen des Westens großer Beliebtheit, weil er all das war – oder zu sein schien –, was Boris Jelzin nicht war: nüchtern, gemäßigt, stimmig. Seine Umfragewerte stiegen dank seiner knallharten populistischen Reden über die tschetschenische Terrorgefahr, und sie stiegen noch weiter, als Grosny dem Erdboden gleichgemacht und der Sieg verkündet war. Aber er konnte nicht vorsichtig genug sein. Jelzins Vermächtnis der freien Rede galt noch immer halbwegs, und es gab noch einen einigermaßen unabhängigen Journalismus. Es gab Leute, die Dinge von früher über Putin wussten, von damals in Sankt Petersburg, als er allzu enge Verbindungen zur Tambow-Bande gehabt hatte. Die größte Gefahr war sein ältester Freund in der Politik, Anatoli Sobtschak.
Als Putin im September 1999 zum Ministerpräsidenten ernannt worden war, hatte er umgehend dafür gesorgt, dass die laufenden Korruptionsermittlungen gegen Sobtschak – die natürlich auch ein schlechtes Licht auf ihn als seinen ehemaligen Stellvertreter geworfen hätten – auf Eis gelegt wurden, wodurch Sobtschak aus seinem selbst auferlegten Exil in Paris zurückkehren konnte. Sobtschaks Dankbarkeit kannte keine Grenzen. Der alte Narzisst wollte zurück zu alter Macht und warf seine liberalen Werte über Bord, indem er Putin mit Stalin verglich, um den kommenden Mann hochzustilisieren. Was es brauche, sagte Sobtschak, sei „ein neuer Stalin, nicht so blutdürstig, aber nicht weniger brutal und streng, denn das ist der einzige Weg, Russen dazu zu bringen, irgendeine Arbeit zu verrichten“.
Doch was ging, abgesehen von diesem Quatsch, wirklich im Kopf des ehemaligen Juraprofessors vor? Glaubte er wirklich, dass Russland einen neuen Stalin nötig hatte? Oder wollte er einfach nur einen Schreibtisch im Kreml und tat deshalb so, als sei er seinem früheren Taschenträger treu ergeben? Wenn ja, gab es ein Sobtschak-Problem.
Am 17. Februar 2000 bat Putin Sobtschak, für ihn Wahlkampf in Kaliningrad zu machen, der russischen Enklave zwischen Polen und Litauen, erbaut auf den Trümmern dessen, was bis 1946 Königsberg, einst Hauptstadt Preußens, gewesen war. Sobtschak machte sich weisungsgemäß auf den Weg, in Begleitung seiner zwei Assistenten beziehungsweise Leibwächter. Drei Tage später erlag er einem Herzinfarkt. Er war ein gesunder Mann, zweiundsechzig Jahre alt, Autor mehrerer Bücher und galt weltweit als eine der interessantesten Gestalten des Neuen Russland. Merkwürdigerweise erlitten seine beiden Leibwächter Berichten zufolge ebenfalls Herzattacken. Herzinfarkte sind bekanntermaßen nicht ansteckend. Dass alle drei Männer gleichzeitig Herzprobleme hatten, deutet auf eine gemeinsame Ursache hin, auf eine Vergiftung.
Der verstorbene russische Journalist Arkadi Waksberg hat ein hervorragendes, aber auch haarsträubendes Buch über die Liebe des Kremls zum Gift von Lenin über Stalin bis hin zu Putin geschrieben, in dem er auch auf die Umstände von Sobtschaks Tod zu sprechen kommt: Der Journalist Juri Schtschekotschichin habe ihm erzählt, dass Sobtschak „durch eine Substanz, die auf die Leselampe auf seinem Nachttisch gesprüht wurde, vergiftet wurde“. Die These Waksbergs lautet, dass nur Putin die Macht hatte, den Giftanschlag in Auftrag zu geben. Aber warum, wo ihm Sobtschak doch seinerzeit im Jahr 1996 zu einem Job im Kreml verholfen hatte? Dazu Waksberg: „Putin hätte Sobtschak für das, was der für ihn getan hatte, noch viel dankbarer sein müssen. Aber Dankbarkeit ist in der Politik ein zweischneidiges Schwert. Wenn sie zu einer Verpflichtung wird und man ständig an seine Schuld erinnert wird, kann die Situation unerträglich werden.“ Waksberg zitiert eine anonyme Quelle, die sagt: „Sobtschak war das Opfer seiner eigenen Dummheit, indem er glaubte, er könne erneut an die Macht kommen, denn das hätte Putin zur Geisel von Sobtschaks persönlichen Ambitionen gemacht. Putin musste diesen Stachel im Fleisch schnellstmöglich loswerden … Es war kein Spaß, der Chef seines ehemaligen Chefs zu sein, und sei es auch nur, weil Sobtschak der bessere Präsident gewesen wäre.“
Irgendwann ertrug es Sobtschak nicht mehr, seinem einstigen Diener und neuen Herrn zu schmeicheln. Er erklärte, dass er als Abgeordneter für das Parlament kandidieren werde. Unmittelbar vor seinem Tod gab er einem Reporter der spanischen Zeitung El País ein Interview.
Frage: „Hoffen Sie auf die Unterstützung Putins?“
Sobtschak: „Ich brauche seine Hilfe nicht. Ich bin ein Universitätsprofessor und Autor, dessen Bücher weltweit veröffentlicht wurden … Ich bin nicht an irgendeinem Posten interessiert. Ich bin lieber unabhängig.“
Waksberg schreibt: „Die Antwort war nicht ganz ehrlich, und sie bewies, dass zwischen den beiden Männern etwas vorgefallen war.“
Auf der Beerdigung stützte ein trauernder rotäugiger Putin Sobtschaks Witwe Ljudmila und ihre Tochter Ksenia. Nie zuvor und niemals wieder danach hat die russische Öffentlichkeit Putin weinen sehen.
Sobtschaks Witwe Ljudmila veranlasste eine unabhängige Autopsie der Leiche ihres Mannes. Gabriel Gatehouse von der BBC fragte sie, ob sie glaube, dass ihr Ehemann ermordet worden sei. Sie machte eine Pause, lang genug, um zehnmal hintereinander „Ja“ zu sagen, bevor sie antwortete: „Ich weiß es nicht.“ Die Ergebnisse der Autopsie hat sie nie veröffentlicht, sie verwahrt sie vielmehr an einem geheimen Ort außerhalb Russlands fest verschlossen in einem Tresor auf.
Gatehouse: „Das klingt, als hätten Sie sich selbst eine Art Lebensversicherung geschaffen.“
Ljudmila: „So könnte man es sehen.“
Gatehouse: „Fürchten Sie um Ihre eigenen Sicherheit oder um die Ihrer Tochter?“
Ljudmila: „Wissen Sie, in diesem Land zu leben, ist furchterregend. Vor allem für diejenigen, die oppositionelle Ansichten vertreten. Also ja, ich fürchte mich.“
Diese Art von Versicherungspolice könnte man sich als Schutz gegen einen Verbrecher mit einer Vorliebe für Gift zulegen.
Oder gegen einen Präsidenten.
Oder gegen jemanden, der beides ist.
In jenem Sommer 2000 kam es zu einem Vorfall, der Putins wahres Gesicht zeigte. Auf einem russischen U-Boot auf Übungsfahrt in der Barentssee kam es zu einer Explosion. Dreiundzwanzig Mann überlebten, waren aber am Grund des Meeres in dem manövrierunfähigen U-Boot gefangen. Die NATO hatte die Ausrüstung und das Know-how, um die eingeschlossenen Männer zu retten, doch die Reaktion des Kremls war nahezu komplettes Schweigen und Abwarten, bis auch der Letzte von ihnen erstickt war. Putin machte gerade Urlaub am Schwarzen Meer. Als er schließlich ein Interview zu der Tragödie gab, sah er den Fragesteller ungerührt an und sagte trocken: „Es ist gesunken.“
Die vierseitige Zusammenfassung eines geheimen Berichts zum Hergang der Tragödie war so aufschlussreich wie vernichtend: „unfassbare Disziplinlosigkeit, schäbige, veraltete und schlecht gewartete Ausrüstung“ sowie „Fahrlässigkeit, Inkompetenz und Missmanagement“. Das könnte auch im Nachruf auf die russische Armee nach der Schlacht um Kyjiw stehen.
Die Angehörigen der toten U-Boot-Fahrer waren empört. Zehn Tage nach dem Unglück trafen Putin und die Admiralität rund fünfhundert Menschen, die ein Familienmitglied auf der Kursk verloren hatten. Der staatliche russische Fernsehsender RTR war das einzige offiziell zugelassene Medium, aber sie speisten ihr Satellitensignal über einen vom deutschen Fernsehsender RTL zur Verfügung gestellten Übertragungswagen ein, der das Ganze festhielt. Putin versicherte den trauernden Angehörigen, dass die russische Marine das Hilfsangebot aus dem Westen umgehend angenommen habe. Das war eine dreiste Lüge, und alle wussten es. Tatsächlich gelang es britischen und norwegischen Tauchern schließlich, eine Luke des havarierten U-Boots zu öffnen, aber sie fanden keine Lebenden mehr. Hätte sich der Kreml schneller bewegt, hätten vielleicht noch Leben gerettet werden können. Auf jeden Fall wurde Putin als gleichgültig, kalt und herzlos wahrgenommen. Nadjeschda Tylik, Mutter des U-Boot-Fahrers Leutnant Sergei Tylik, wendete sich an Putin und seinen stellvertretenden Ministerpräsidenten: „Ihr solltet euch gleich selbst eine Kugel in den Kopf jagen! Wir werden euch nicht am Leben lassen, ihr Scheißkerle!“
Eine Krankenschwester rammte der verwaisten Mutter eine Spritze in den Arm und setzte sie damit schachmatt. Ihr Ehemann wurde mit den Worten zitiert, er habe die Krankenschwester gebeten, seiner Frau eine Beruhigungsspritze zu geben, weil sie „zu extremen Gefühlsausbrüche neigte“. Sie selbst bezeichnete das später als Lüge: „Die Beruhigungsspritze war dafür da, um mich zum Schweigen zu bringen.“
Im Jahr 2000 funktionierte das russische Parlament, die Duma, noch als ein Organ, das den Machthabern auf die Finger klopfen konnte. Der gebürtige Aserbaidschaner und Duma-Abgeordnete Juri Schtschekotschichin, ein unerschrockener Demokrat der linksliberalen Jabloko-Partei mit stahlgrauem Haar, einer Boxernase und hellen, verschmitzten Augen, warf dem Kreml Vertuschung der Tatsache vor, dass Russland überhaupt nicht über die Ressourcen für einen Rettungsversuch verfügte. Der Vize-Ministerpräsident Ilja Klebanow stritt vehement ab, dass die Regierung während der Kursk -Katastrophe gelogen habe, gab dann aber während einer Befragung zu, dass manche Stellungnahmen „im Eifer des Gefechts ohne ausreichende Analyse“ abgegeben worden seien.
Alles rund um den tragischen Untergang der Kursk wirkt bereits wie ein Fingerzeig auf die Invasion in der Ukraine im Jahr 2022: das völlige Desinteresse des Kremls am eigenen Volk; die marode und veraltete Ausrüstung; die Verachtung für eine ordentliche Untersuchung; das Abwürgen berechtigter Kritik. Die Lehre, die Putin aus dem Untergang der Kursk zog, war durch und durch faschistisch. Die freien und unabhängigen russischen Medien hatten ihn wegen seiner verspäteten und herzlosen Reaktion massiv unter Druck gesetzt. Die Lösung lautete, sie auszuschalten. Das russische Fernsehen war eine Quelle unerschrockener Berichterstattung gewesen. Putin bediente sich seiner Oligarchenfreunde, um es zu übernehmen und handzahm zu machen. Die Leute konnten den Fernseher einschalten und etwas anschauen, das sich Nachrichten nannte, das aber im Lauf der Zeit mehr und mehr zur Fiktion wurde. Boris Beresowski, einst Putins Förderer, wurde aller seiner Vermögenswerte beraubt, er verlor unter anderem den mächtigsten russischen Fernsehkanal ORT . Aus dem inneren Zirkel der Macht hinausgedrängt, fand er sich, kochend vor Wut, im Londoner Exil wieder.
Putin hatte doppeltes Glück. Sein erster großer Coup gelang ihm 2001, als er nach dem Desaster von 9/11 umgehend reagierte und Präsident George W. Bush noch vor allen anderen ausländischen Staatschefs sein Beileid aussprach und Amerika jede erdenkliche praktische Unterstützung bei dessen Mission, al-Qaida auszulöschen, zusicherte. Ab diesem Tag bedeutete Putins Zustimmung zum Krieg gegen den Terror, erst in Afghanistan, dann im Irak, dass er irgendwie in die große Strategie des Westens, so idiotisch sie auch war, einbezogen war. Es bedeutete, dass Washington, D. C., und London wieder und wieder im Zweifel für den Kreml entschieden, weil Putin im Kampf gegen den islamistischen Extremismus auf ihrer Seite stand. Dass er eine Art orthodoxer Extremist war, wurde übersehen.
Das zweite Geschenk des Himmels für Putin war, dass der seit Langem bei 25 Dollar pro Barrel vor sich hin dümpelnde Ölpreis wegen des Irakkriegs im Nahen Osten auf Spitzenwerte bis zu 141 Dollar pro Barrel im Jahr 2008 kletterte. Während Putins ersten acht Jahren im Amt wuchs die russische Wirtschaft jährlich um sieben Prozent, und die Preise für Öl und Gas verfünffachten sich. Angesichts der Unwägbarkeiten im Nahen Osten waren russisches Öl und Gas billig und verlässlich, was bedeutete, dass der Kreml auf einer sprudelnden Quelle aus schwarzem Gold saß. Vieles von dem Geld verschwand an sonnigen Plätzen für zwielichtige Gestalten, sodass die Oligarchen ihre Villen und Paläste in Großbritannien, Frankreich und England kaufen konnten, manchmal für sich selbst, manchmal stellvertretend für Putin. Gleichwohl sickerte ein geringer Teil der Gewinne aus Russlands Öl- und Gasboom auch nach unten durch, was wiederum Putin zugutekam. Der Deal des russischen Staates mit den Oligarchen war ziemlich eindeutig: Haltet euch raus aus Macht und Politik, und genießt euer Geld. Doch wehe, ihr stellt die falschen Fragen, dann geht es euch an den Kragen. Es war das Rezept für die Zombiefizierung Russlands.
Putin haftet etwas Nixonianisches an. 1974 hatte Nixon die besten Aussichten, seinen demokratischen Gegner, George McGovern, haushoch zu schlagen, ganz ohne Betrug. Doch Nixon konnte nicht anders, er musste einfach betrügen. Ganz ähnlich musste Putin einfach töten.
Im Oktober 2002 stürmten mehr als fünfzig Tschetschenen das Dubrowka-Theater in Moskau und nahmen 850 Zuschauer als Geiseln. Sie forderten den Abzug der russischen Truppen aus ihrer Heimat. Anstatt zu verhandeln, leiteten russische Spezialeinheiten Giftgas in das Theater und töteten mindestens 170 Menschen. Anstatt die Tragödie lückenlos aufzuarbeiten, wurden fast alle tschetschenischen Terroristen an Ort und Stelle hingerichtet; um welche Art von tödlichem Gas es sich gehandelt hatte, wurde niemals ordentlich untersucht; ebenso wenig, wer für die höchst fragwürdige Entscheidung verantwortlich war, eine giftige chemische Substanz in einen geschlossenen Raum voller Menschen zu pumpen. Doch das sind nicht die einzigen offenen Fragen rund um die Geiselnahme, es gibt noch mehr. Erstens: Wie konnten mehr als fünfzig bis an die Zähne bewaffnete Tschetschenen mit Maschinengewehren und Sprengstoffgürteln durch ganz Moskau fahren, ohne von der Polizei aufgegriffen zu werden? Nur am Rande bemerkt, ich war noch nie in Moskau, ohne – und sei es auch nur kurz – von der Polizei aufgehalten zu werden. Sie sehen deinen Reisepass von vorne bis hinten durch, überprüfen deine Adresse, stehlen dir mit nerventötender Akribie deine Zeit. Zweitens: Warum zündeten die Terroristen ihre Bomben nicht, als sie das Gift bemerkten? Es brauchte über zehn Minuten, um seine volle Wirkung zu entfalten. Drittens: Warum wurden fast alle Terroristen exekutiert? Viertens: Warum gab es kein Gegengift?
Die vom Kreml dominierte Duma, das russische Parlament, schmetterte den Antrag der Demokraten ab, einen Untersuchungsausschuss zu dem Theater-Überfall einzusetzen. Also riefen die unterlegenen Abgeordneten selbst einen ins Leben. Die Untersuchung fand in Russland statt, unter der Ägide des erfahrenen Dissidenten und Duma-Abgeordneten Sergei Kowalew, des Vorsitzenden der Partei Liberales Russland, und Duma-Abgeordneten Sergei Juschenkow, des Rechtsanwalts und vormaligen FSB -Offiziers Michail Trepaschkin, der auch die Töchter einer bei den Bombenanschlägen in Moskau ums Leben gekommenen Frau anwaltlich vertrat, und der Journalistin Anna Politkowskaja. Hilfe kam zudem von dem unbeugsamen Juri Schtschekotschichin, dem Wissenschaftler John B. Dunlop vom Hoover Institute in den Vereinigten Staaten und dem ehemaligen Oberst beim FSB Alexander Litwinenko aus London.
Als Sergei Juschenkow Anfang 2003 Litwinenko in London besuchte, übergab ihm der frühere Geheimdienstler eine Akte zu einem der Terroristen, Chanpasch Terkibajew, auch bekannt als Abu Bakar (das arabische Abu steht für „Vater des“). Noch am Tag vor dem Giftgasangriff des russischen Sonderkommandos war er in den russischen Medien namentlich als einer der Geiselnehmer genannt worden. Rätselhafterweise war Terkibajew jedoch noch immer am Leben. Wie war das möglich? Die Terkibajew-Akte enthielt aufschlussreiches Beweismaterial, das in großen Teilen vom ehemaligen tschetschenischen Außenminister und Kreml-Gegner Achmed Sakajew stammte, der inzwischen in London lebte. Der Tschetschene Terkibajew war ein Überläufer, der mutmaßlich für den russischen Geheimdienst arbeitete. Er war zweimal, im April 2001 und im März 2002, in die Gefangenschaft der russischen Truppen geraten und beide Male wie durch ein Wunder freigekommen. Und das zu einer Zeit, als Männer schon auf den bloßen Verdacht hin, sie unterstützten die Rebellen, gefoltert und erschossen wurden.
Einen Monat nach der Geiselnahme tauchte Terkibajew in Aserbaidschan auf. Quicklebendig, wie hätte es auch anders sein können. Anna Politkowskaja gelang das schier Unmögliche: Sie spürte den entkommenen Terroristen auf und führte ein Interview mit ihm. Ihr Gegenüber, dem sie keine Sekunde vertraute, entpuppte sich als Angeber und eitler Pfau, der ganz erpicht darauf war, ihr von seinen Diensten für Moskau zu erzählen. Objektiv betrachtet, fügte sich alles zu einem Bild. Anna war in den ersten Stunden der Geiselnahme als Unterhändlerin im Theater gewesen, wo sie Terkibajew mit eigenen Augen gesehen hatte. Irgendwie ließ man ihn später entkommen, und er wurde außerdem als Kollaborateur der russischen Regierung betrachtet. Terkibajew war tatsächlich Moskaus Mann.
Die unabhängige Untersuchung der Geiselnahme in dem Theater kam zu dem Schluss, dass tatsächlich tschetschenische Terroristen das Theater angegriffen hatten, aber auch, dass sie von einem Agent Provocateur des FSB , nämlich Terkibajew, angeführt und kontrolliert worden waren. Ein paar Tage nachdem er die Akte von Litwinenko in London erhalten hatte, fuhr Juschenkow nach Hause und wurde vor seiner Wohnung in Moskau erschossen. Vier Männer wurden wegen Mordes verhaftet und verurteilt, darunter Michail Kodanjew, der stellvertretende Vorsitzende von Juschenkows Partei. Kodanjew beteuerte vor Gericht seine Unschuld. Die Beweise gegen ihn stammten von einem anderen verurteilten Verdächtigen, Alexander Vinnik, der eine Reihe von unsinnigen Aussagen machte, die sich alle widersprachen.
Ein paar Monate später kam Terkibajew bei einem „Autounfall“ in Tschetschenien ums Leben. Als die Toten immer mehr wurden, blockierten der Kreml und seine Jasager in der Duma jede weitere Untersuchung. Doch die Beweise für die Verbrechen des russischen Staats im Staat begannen sich zu häufen. Die Terroristen hatten, als sie das Giftgas bemerkten, ihre Sprengstoffgürtel nicht gezündet, weil keine Batterien in den Detonatoren waren; die Bomben waren laut Auskunft der Moskauer Staatsanwaltschaft nichts anderes als „Plastik-Sprengstoffimitationen“ des russischen Verteidigungsministeriums.
Daraus lässt sich nur schließen, dass die Geiselnahme im Moskauer Theater im Jahr 2002, genau so wie die Sprengstoffanschläge auf Moskauer Wohnhäuser im Jahr 1999, eine verdeckte Operation des FSB war. Die Maschinerie der Angst war etabliert, und wer nicht stillhielt, würde es zu spüren bekommen.
Juri Schtschekotschichins Mut war herausragend, selbst innerhalb seines couragierten Kreises. Der russische Journalist und Abgeordnete strotzte vor Energie, hatte einen Riecher für Geschichten und, wie mir gesagt wurde, ein Faible für armenischen Brandy. Waksberg erinnert sich in seinem Buch an ein Treffen mit ihm: „Ich traf Juri rein zufällig in Peredelkino in der Nähe von Moskau. Er erzählte mir mit seinem lässigen Grinsen, ‚sie [und natürlich musste er nicht erklären, wer mit ‚sie‘ gemeint war] würden mich gern erschossen sehen, aber irgendwie können sie sich nicht durchringen, es zu tun.‘“ Später, so schreibt Waksberg, habe er zu einem Freund gesagt: „Zum ersten Mal in meinem Leben habe ich Angst.“
In einem Interview Anfang 2003 beschrieb Schtschekotschichin Putins Russland in wenigen Worten: „Die Mafia trägt neuerdings Uniform. Verbrecherbanden sind Waisenknaben im Vergleich zu unseren Geheimdiensten. Heute sind es genau die Leute, die eigentlich das Verbrechen bekämpfen sollten, die korrupt sind. Das ist auch an der Geheimpolizei nicht vorbeigegangen. Der Schutz, den sie bieten, die immensen Summen, die sie erhalten, die Kontrolle, die sie ausüben.“
Ein solch hellsichtiger Kritiker durfte nicht am Leben gelassen werden.
Schtschekotschichin ging noch immer der Geschichte mit den Bomben aus Zucker nach, die nicht detoniert waren, weshalb er erst in das ungefähr 200 Kilometer südöstlich von Moskau gelegene Rjasan und anschließend nach New York reisen wollte, um mit dem FBI zu sprechen. Die US -Behörde untersuchte gerade im Namen einer russischstämmigen Amerikanerin, deren Mutter bei einem der Sprengstoffanschläge auf die Moskauer Wohnungen ums Leben gekommen war, die näheren Umstände der Tat. Kurz vor Antritt der Reise begann Schtschekotschichin, sich unwohl zu fühlen, machte sich aber trotzdem auf den Weg nach Rjasan. Er bekam erst Fieber, hatte ein Gefühl wie Feuer im Kopf. Wieder zurück in Moskau, begann er, unter Schwindel und brennenden Halsschmerzen zu leiden. Sein Blutdruck sank massiv, seine Haut wurde rot. Am nächsten Tag begann sich die Haut zu schälen, und er fing an, Haare zu verlieren. Man brachte ihn eiligst in die Moskauer Zentralklinik, bekannt unter dem Spitznamen „Kremlinka“, weil dort die Machtelite behandelt wird und manchmal auch, wer ihr in die Quere kommt. Die Diagnose der Ärzte lautete „toxische Wirkstoffe unbekannten Ursprungs“.
Schtschekotschichins Freundin Alyona Gromova schilderte der Journalistin Jenny Klochko für den Podcast Taking On Putin seinen Zustand: „An dem Tag, als man ihn ins Krankenhaus brachte, fühlte er sich sehr schwach. Nachdem er geduscht hatte, waren seine Haare völlig durcheinander. Ich wollte sie in Form bringen und hatte plötzlich ganze Büschel davon in den Händen. Die Symptome waren verwirrend. Zuerst schien es wie eine Erkältung, aber er hatte ein krebsrotes Gesicht, als hätte er einen Sonnenbrand, dann begann sich seine Haut, in Fetzen zu abzulösen.“
Waksberg schreibt über seinen sterbenden Freund: „Juris Zustand verschlechterte sich stündlich. Das Fieber stieg und stieg. Seine Schleimhäute waren geschwollen, und seine Nieren versagten … Dann begann das Furchtbarste. Seine Haut begann, sich zu schälen, als hätte er schlimmste Verbrennungen erlitten. Selbst ein Laie konnte sehen, was Sache war: Hier war entweder Verstrahlung oder ein unbekanntes Gift im Spiel.“
Als offizielle Todesursache wurde das Lyell-Syndrom angegeben, eine starke allergische Reaktion. Schtschekotschichin starb am 3. Juni 2003. Zu diesem Zeitpunkt hatte er so gut wie keine Haut mehr. Waksberg schreibt: „Das Wort Gift wurde nie laut ausgesprochen, obwohl alle es als gegeben annahmen. Die Angst versiegelte die Münder der Menschen.“
Schtschekotschichins Freund, der Dichter Andrei Wosnessenski, verfasste einige Worte, in denen er seinen Tod betrauert. Dies ist mein Versuch einer Übersetzung:
Scherben, ein Spiegel zerbarst.
In Stücke, dann, unter grausamem Julihimmel,
Hüte, samtige Stümpfe,
Stille.
Juris rastlose Seele
Konnte nicht bloßgestellt werden.
Für den letzten russischen Heiligen also:
Gift.
Alyona wollte in der Leichenhalle Abschied von ihrem Geliebten nehmen: „Der Raum war riesig. Auf Bahren lagen Körper, die am nächsten Tag bestattet werden sollten. Ich sah mich um. Es waren ungefähr zwanzig Verstorbene, aber ich konnte Juri nicht finden. Ich ging zur Aufsicht und erklärte, dass ich wohl im falschen Raum war, weil ich ihn nicht finden konnte. Aus dem Augenwinkel sah ich auf einer Bahre eine nette alte Dame liegen. Seltsamerweise erinnerte sie mich an meine Großmutter, die vor langer Zeit gestorben ist. Die merkwürdige Ähnlichkeit der beiden alten Frauen berührte mich. Nicht in meinen schlimmsten Albträumen hätte ich mir jemals ausmalen können, dass die nette alte Dame in Wirklichkeit Juri war.“
Ihr Geliebter war so entstellt, dass Alyona ihn in der Leichenhalle nicht fand, bis die Aufsicht ihr sein Namensschild zeigte.
Das war erst der Anfang der Giftanschläge.