Kapitel acht

Ein Fall von Gin oder Tee

W ir schreiben den Sommer 2006. Aus einem der Fahrzeuge des Konvois steigt Wladimir Putin und hält zu Fuß auf den Kreml zu. Gern gibt das Staatsoberhaupt sich hin und wieder für alle zugänglich, ungezwungen, eins und auf vertrautem Fuß mit dem narod , dem russischen Volk. Während seines Bads in der Menge sieht er einen blonden Jungen, vielleicht fünf Jahre alt, wenn’s hochkommt. Putin kniet vor ihm nieder, zieht das T-Shirt des Kleinen hoch und drückt ihm einen Kuss auf den Bauch. Sie können sich das auf YouTube anschauen; suchen Sie einfach nach „Putin kisses boy on stomach“.

Es ist wirklich gruselig.

Ich frage eine Russin nach ihrer Reaktion – ob das vielleicht etwas speziell Russisches sei. Sie antwortet: „Ich war schockiert. Das ist nichts Russisches. Es ist total falsch. Das hat mit russischer Kultur nichts zu tun. Okay, nach einer Flasche Wodka vielleicht, da kommen sich Russen etwas näher, aber nicht so.“

Der Name meiner russischen Freundin ist Marina Litwinenko; ihr Gatte, Alexander „Sascha“ Litwinenko, war früher Oberst beim KGB /FSB gewesen. Was er von dem Video hielt, in dem Putin vor dem russischen Jungen niederkniet und ihm einen Kuss auf den Bauch drückt, sowie die Reaktion des Kremls darauf, sorgte weltweit für Schlagzeilen. Aber um zu verstehen, wie es dazu kam, müssen wir uns die etwas eigene Beziehung zwischen den beiden ehemaligen KGB -Offizieren Putin und Litwinenko ansehen.

Als Berufsoffizier beim Geheimdienst blieb Litwinenko, als die Sowjetunion implodierte, beim FSB , wie der KGB fortan heißen sollte. Sein Ressort war der Kampf gegen das organisierte Verbrechen. Wiederholt stellte er dabei fest, dass Kollegen beim FSB Geld vom organisierten Verbrechen nahmen und im Auftrag der Unterwelt tätig waren. Aufrecht, moralisch und unbestechlich, empfand Litwinenko Abscheu vor dem Filz und legte seinen Vorgesetzten lange, detaillierte Berichte über die Betreffenden vor. Ein ums andere Mal sah er seine Bemühungen, in der Behörde aufzuräumen, im Sand verlaufen: „Wenn einen der Partner betrog oder jemand seine Schulden nicht zahlte oder Lieferungen ausblieben, wo beschwerte man sich? Als Gewalt käuflich wurde, gab es auch stets Nachfrage. Schutzorganisationen“ – der Begriff dafür, kryscha , heißt wörtlich das Dach – „tauchten auf, Leute, die Ihre Geschäfte in Schutz nahmen. Erst besorgte das der Mob, dann die Polizei, und bald darauf sahen auch unsere Leute, wo’s langging, und dann kam es zu Rivalitäten um Marktanteile zwischen Gangstern, Polizei und der Behörde“ – dem FSB . „Mit zunehmender Konkurrenz zwischen Polizei und FSB drängten die beiden die Gangs aus dem Markt. Aber in vielen Fällen wich die Konkurrenz der Zusammenarbeit, und die Geheimdienste wurden selbst zu Gangstern.“

Das genau ist es, worauf bereits der Menschenrechtler und Duma-Abgeordnete Juri Schtschekotschichin hingewiesen hatte, bevor sich seine Haut zu schälen begann.

Boris Beresowski, der russische Oligarch, der später massiv in Wladimir Putin als potenziellen Nachfolger Boris Jelzins investieren sollte, verdiente 1994 ein Vermögen mit dem Import ausländischer Kraftfahrzeuge – sehr zum Entsetzen der russischen Autohersteller, die die Lösung darin sahen, seinen Wagen in die Luft zu jagen. Sein Fahrer kam dabei ums Leben, der Oligarch selbst überlebte, und es fiel in Litwinenkos Ressort, das Attentat aufzuklären. Beresowski war ihm dankbar für seine Aufrichtigkeit und Ausdauer, und die beiden freundeten sich an. Stets die graue Eminenz, stellte Beresowski 1998 Litwinenko Wladimir Putin vor, der gerade – nicht zuletzt durch Beresowskis Zutun – der neue Chef des FSB geworden war. Beresowski sagte ihm: „Geh zu Putin. Mach ihn auf dich aufmerksam. Schau dir an, was für einen großartigen Mann wir da eingesetzt haben, mit deiner Hilfe.“

So berichtete denn Litwinenko Putin über das Ausmaß der Korruption beim FSB – er ermittelte damals gerade gegen FSB -Offiziere, die sich von usbekischen Drogenbaronen für kryscha bezahlen ließen, aber es war, wie eine Wand anzuheulen. Nach dem Treffen sagte Litwinenko zu Marina, seiner Frau: „Ich sah ihm an den Augen an, dass er mich hasste.“

Im November 1998 gaben Litwinenko und vier weitere FSB -Offiziere des Ressorts für Organisierte Kriminalität eine Pressekonferenz, bei der sie die Korruption beim Geheimdienst öffentlich anprangerten. Man hätte ihnen die Liquidierung und Entführung prominenter Russen befohlen, sagten sie. Während der ersten Jahre von Jelzins Amtszeit hätte man so etwas unter „Wirren einer neuen, energiegeladenen Demokratie“ verbucht. Aber mittlerweile war die Stimmung umgeschlagen, und Putin schasste seinen unbequemen Agenten. Putin äußerte sich später zu diesem Schritt: „Ich habe Litwinenko gefeuert und seine Abteilung aufgelöst, weil FSB -Offiziere keine Pressekonferenzen geben sollten. Das gehört nicht zu ihren Aufgaben. Und sie sollten mit internen Skandalen nicht an die Öffentlichkeit gehen.“

Das Menetekel war an der Wand, nicht nur für Litwinenko, sondern auch für seinen alten Mentor Beresowski. Litwinenko flüchtete 2000 nach Polen und ersuchte dort die Amerikaner um politisches Asyl. Da sie ihn abwiesen, flog er nach London, wo die britische Regierung mehr Verstand zeigte. Effektiv lief Litwinenko zum MI 6 über. Der britische Geheimdienst schaffte denn auch Marina und den Sohn des Paars aus dem Land, und seit dem Sommer 2006 lebte die Familie in North London, genauer gesagt im Ally Pally, wie Alexandra Palace im Volksmund heißt. Auch Beresowski, der Litwinenkos Ermittlungen gegen die Korruption in den höchsten Ebenen des geheimen Staats und damit natürlich gegen Putin selbst mitfinanziert hatte, lebte damals bereits im Londoner Exil.

Panorama , unser BBC -Nachrichtenmagazin, zeigte 2007 einen Videoclip, in dem Litwinenko sich dazu äußert, wie es ist, auf der Flucht vor dem KGB zu sein: „Es ist wie ein Fallschirmsprung im freien Fall. Angst hat man nur, wenn man aus dem Flugzeug nach unten sieht. Nach dem Absprung kann man nicht mehr viel tun. Man befindet sich im freien Fall. Man kann nicht mehr zurück. Es geht nur noch abwärts.“

Sascha Litwinenko war in Putins Augen ein Verräter am KGB , am Vaterland, an allem, was dem Herrn des Kremls lieb und teuer ist. Als Putin den Jungen auf den Bauch küsste, schrieb Litwinenko in seinem Blog, von der Sicherheit des Alexandra Palace aus, versteht sich, Putin sei pädophil.

Litwinenkos Blogeintrag ist zur Gänze in Sir Robert Owens Bericht über die Affäre nachzulesen. Der ehemalige Oberst des KGB behauptete darin, man habe Putin heimlich in ebendem Apartment gefilmt, in dem man Skuratow mit zwei Prostituierten kompromatiert hatte, nur dass in Putins Fall keine Frauen im Spiel gewesen seien, sondern zwei kleine Jungs. Litwinenko sagte, die Oberen des vom KGB geleiteten Andropow-Instituts hätten den Skandal vertuscht, entschlossen sich aber, Putin – der fließend Deutsch sprach – nicht in den Westen zu schicken. Jahre später, so behauptete Litwinenko, als Putin 1998 selbst Direktor des FSB wurde, habe er sich auf die Suche nach der geheimen Akte über ihn gemacht. Litwinenko schrieb in seinem Blog: „Er begann, alles kompromittierende Material, das die Geheimdienste in früheren Jahren über ihn gesammelt hatten, aufzuspüren und zu vernichten. Was nicht weiter schwierig war, schließlich war er der Direktor des FSB . Unter anderem fand Putin Videobänder im Direktorat für Innere Sicherheit des FSB , auf denen er beim Sex mit minderjährigen Jungs zu sehen war.“

Wer so etwas über Wladimir Putin zu sagen wagt, ist nirgendwo sicher. An keinem Ort dieser Welt.

Fürs Protokoll: Dass Putin den Jungen auf den Bauch küsst, ist so unangenehm anzusehen wie sonderbar. Klare, belastbare Beweise dafür, dass Putin pädophil wäre, gibt es nicht. Litwinenko hat auch in seinem Blog keinen geliefert. Litwinenko und seine finanzielle und moralische Stütze Beresowski hassten Putin zu diesem Zeitpunkt. Und Hass ist der Erzfeind guter Aufklärungsarbeit. Man muss Abstand nehmen können, um einzuschätzen, was man hat und was man nicht hat – erst so lässt sich ein Urteil fällen. Dieselben Fähigkeiten braucht es im Journalismus. Nur eine von mehreren Seiten bestätigte Story hat auch tatsächlich Bestand. In diesem Fall haben wir nur Litwinenkos Wort dafür, dass das Direktorat für Innere Sicherheit beim FSB Bänder als Kompromat gegen Putin hatte. Was nicht heißt, dass seine Behauptung von vorneherein nicht stimmt. Putins Sexualität ist und bleibt, wie so vieles an ihm, unklar. Es ist einfach so, dass man, will man – als Nachrichtendienstler wie als Journalist – glaubwürdig bleiben, Belege für seine Story liefern muss. Versäumt man das, werden die Leute bald die Straßenseite wechseln, um einem aus dem Weg zu gehen. Genau das ist Litwinenko passiert. Da er sie nicht mit Belegen untermauerte, nahm man seine Behauptung im Westen nicht wirklich ernst.

Der Kreml nahm sie aber zur Kenntnis.

Der Amerikaner Paul Joyal ist ein Kenner von Russlands geheimem Staat und leitete früher den Ausschuss für die Nachrichtendienste beim US -Senat. Er kennt die geheimen Korridore des Kremls sehr gut und war sowohl mit Litwinenko eng befreundet als auch mit General Oleg Kalugin, einem anderen Überläufer aus den Reihen des KGB . Als jüngster Generalmajor in der Geschichte des sowjetischen KGB war Kalugin ein hohes Tier in der Abteilung Spionageabwehr, zuständig für eindringende Geheimdienste aus der ganzen Welt. Im Juli 2006 schickte Litwinenko per Fax einen Entwurf des Blog-Artikels, in dem er Putin als Pädophilen bezeichnet, an Kalugin, der ihn sofort an Joyal weiterleitete; beide leben in der Nähe von Washington, D.C.

Litwinenkos Entwurf analysierte den eher stockenden Start von Putins Laufbahn beim KGB . Joyal lieferte mir einen prägnanten Abriss: „Sieht man sich, so Litwinenko, die weißen Flecken näher an, auch Putins Biografie, dann findet sich schon früh eine Erklärung für seine ins Stocken geratene Laufbahn. Nach seinem Abschluss am Andropow-Institut, das für die Ausbildung von KGB -Offizieren zuständig ist, schickte man Putin zunächst auf einen untergeordneten Posten im Leningrader Direktorat des KGB . Für einen Absolventen des Andropow-Instituts, der fließend Deutsch spricht, ist das ausgesprochen ungewöhnlich. Kurz vor seinem Abschluss war etwas passiert. Laut einigen seiner Studienkollegen hatte die Institutsleitung etwas vom wahren Wladimir Putin mitgekriegt, nämlich dass er pädophil ist. Anstatt eine gründliche Ermittlung einzuleiten, was natürlich zu einem Skandal hätte führen können, war es einfacher, sich eine Ausrede dafür einfallen zu lassen, Putin nicht ins Ausland zu schicken. Viele Jahre später, als Putin Chef des FSB wurde, begann er, das gegen ihn gesammelte Beweismaterial aufzuspüren und zu vernichten. So jedenfalls heißt es in dem Blog.“

Litwinenkos Entwurf bezog sich auf noch jemand anderen, der schon vor einigen Jahren, so seine Worte, „Putins sexueller Perversion“ auf der Spur gewesen war. Litwinenko schreibt, der Reporter Artjom Borowik habe eine Geschichte über den pädophilen Putin gemacht und sei eine Woche nach Veröffentlichung „unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen“.

Borowik starb Anfang März 2000, einige Wochen bevor Russland Putin ins Präsidentenamt wählte. Er wurde zusammen mit Passagieren und Besatzung – insgesamt neun Menschen – eines Privatjets getötet, der am Flughafen Moskau-Scheremetjewo gestartet war. Die offizielle Erklärung lautete, das Flugzeug sei nicht ordentlich enteist gewesen, aber es war gar nicht richtig kalt. Vielfach wurde geargwöhnt, er sei vom geheimen Staat ermordet worden, allerdings wegen eines anderen Motivs: weil er dem Geheimnis um Putins Herkunft, dass er ein uneheliches Kind sei, nachging und nicht, wie Litwinenko in dem Entwurfsfax unterstellte, weil er von der Theorie der Pädophilie wusste. Aus irgendeinem Grund ließ Litwinenko die Annahme, Borowik wisse etwas über die pädophile Neigung, in der publizierten Fassung des Blogs fallen.

Joyal erinnert sich: „Also, natürlich führten Alexander Litwinenko und Boris Beresowski so eine Art Krieg gegen Wladimir Putin. Nachdem wir gelesen hatten, was Alexander da veröffentlichen wollte, rieten Oleg Kalugin und ich ihm ausdrücklich davon ab. Wir sagten ihm, dass das viel zu persönlich sei und nicht wirklich gerechtfertigt, so schockierend der Vorfall mit dem Jungen auch war, den Vorwurf der Pädophilie nicht wirklich rechtfertigte.“ Was Joyal und Kalugin Sorgen machte, war das Risiko, das Litwinenko mit der Veröffentlichung einer solchen Anschuldigung eingehen würde: „Litwinenkos Blog war eine extrem persönliche Beleidigung, eine persönliche Attacke. Und eine solche Attacke gegen das Staatsoberhaupt eines Landes wie Russland zu reiten, war natürlich extrem gefährlich. Und, um Ihnen die Wahrheit zu sagen, kaum jemand nahm den Vorwurf ernst.“

Das stimmt. Der Westen ignorierte Litwinenkos Blog; nicht so Moskau. Noch im selben Sommer verabschiedete die Duma ein Gesetz, das es dem Staat erlaubte, jeden Extremisten, der den Präsidenten diffamierte, zu töten. Joyal sagte: „Es lieferte die Rechtfertigung für extreme Maßnahmen“ – oder einfacher ausgedrückt, für die Liquidierung des Betreffenden.

Joyals Ansicht nach ist für Putin die Kontrolle über andere ein ganz spezieller Kick: „Das deckt sich übrigens damit, dass er hergeht, einem Jungen das Hemd hochzieht und ihn auf den Bauch küsst. Ich kann das, also mache ich es auch.“ Er sei zwar kein Psychologe von Beruf, fügt der Nachrichtenanalytiker hinzu, kenne sich aber mit Menschen aus.

Litwinenko hörte nicht auf die Warnung des Freundes und stellte seinen Artikel mit einem Knopfdruck online. In diesem November 2006 trank er Tee mit zwei russischen Landsleuten im Millennium Hotel im Londoner Stadtteil Mayfair. Einige Stunden später, wieder zu Hause in Ally Pally, sagte er zu Marina: „Mir ist übel.“

Er begann, sich zu übergeben, und konnte nicht mehr aufhören. Auf der Stelle sagte er zu Marina: „Das ist ein chemisches Gift.“

Sie konnte nicht glauben, dass ihm jemand so etwas antun wollte. Sie riefen einen Krankenwagen, und der Sanitäter meinte, das sehe ihm nach einer jahreszeitlich bedingten Grippe aus. Marina erzählt die Geschichte weiter: „Am nächsten Tag, das war Anfang November, wurde es sogar noch schlimmer, er erbrach dann Blut.“

Drei Tage später lieferte man ihn ins Barnet Hospital ein, aber die Ärzte sahen nicht, mit was – oder wem – sie es da zu tun hatten. „Als Sascha sie das erste Mal bat, ‚Würden Sie mich bitte auf Gift untersuchen?‘, da blickten sie ihn an wie einen Verrückten. Ich weiß noch, wie er bei meinem Besuch gesagt hat: ‚Marina, die glauben uns nicht.‘“

Litwinenko wurde schließlich ins University College Hospital verlegt, wo einige der besten Ärzte Londons sich vor einem Rätsel sahen. Marina erzählte mir: „Mir fiel sein Haar auf, als ich seinen Kopf nur berührte. Ich hatte ein dickes Büschel in der Hand. Ich sagte: ‚Sascha, was ist das?‘ Er sagte: ‚Ich weiß nicht.‘ Ich wiederholte die Bewegung, und wieder hatte ich ein dickes Büschel Haare in der Hand.“

Auf seiner Haut begannen sich Blasen zu bilden, sein Blutbild zeigte eine sehr niedrige Leukozytenzahl. Aber er war fest entschlossen, der Polizei bei der Jagd nach seinen Mördern zu helfen, gab der Kripo genaue Auskunft über seine letzten Bewegungen, half ihnen bei den Ermittlungen in seinem eigenen Mord.

Als er im Sterben lag, gab er eine Erklärung ab, sein Testament: „Es mag euch gelingen, einen Mann zum Schweigen zu bringen, aber das Echo des Aufschreis rund um die Welt, Mr. Putin, wird Ihnen Ihr Leben lang in den Ohren hallen.“

Am letzten Tag, an dem er noch sprechen konnte, wollte Marina eben, völlig erschöpft, nach Hause gehen, um sich um ihren Sohn zu kümmern, als Sascha ihr sagte: „Marina, ich liebe dich so sehr.“ In dieser Nacht verlor er das Bewusstsein und wachte nicht mehr auf.

Das letzte Foto von Alexander „Sascha“ Litwinenko zeigt ihn völlig kahlköpfig, im grünen Krankenhaus-Pyjama, EKG -Sonden auf der bloßen Brust, den Blick direkt in die Kamera gerichtet.

Für meinen Podcast Taking On Putin machte ich mich auf den Weg zu jemandem, der sich mit radioaktiven Vergiftungen auskennt. Stets der skeptische Reporter, begann ich, meinen Informanten zu löchern:

Sweeney: Haben Sie einen Schulabschluss?

Norman Dombey: Mehr schlecht als recht. Ich bin emeritierter Professor für Theoretische Physik an der University of Sussex.

Sweeney: Und davor, wo haben Sie Ihren Abschluss gemacht?

Dombey: In Oxford.

Sweeney: Die werden dort doch verschenkt.

Dombey: Ich habe einen Doktor von der Caltech.

Sweeney: In theoretischer Physik?

Dombey: In theoretischer Physik. Und mein Doktorvater war Murray Gell-Mann, der Nobelpreisträger, der die Quarks erfunden hat.

Dann öffnete er zischend eine Dose Spitfire-Bier.

Norman Dombey kennt sich aus. Der Professor sagte als einer von Marina Litwinenkos Sachverständigen im Rahmen der öffentlichen Untersuchung im Vergiftungsfall ihres Gatten aus. Ganze neun Jahre hatte es gedauert, bis es dazu kam, weil der britischen Regierung die Beziehungen mit dem Kreml wichtiger waren als die Aufklärung des Mords an einem britischen Staatsbürger mit einer Massenvernichtungswaffe.

Das größte Geheimnis ist und bleibt, wie es möglich war, dass die Ärzte nicht dahinterkamen, was mit Litwinenko passiert war. Dem Mann fielen die Haare aus, die Haut löste sich vom Körper, eine schreckliche Art zu sterben, aber beides bekannte Symptome einer Vergiftung durch radioaktives Material. Man hatte sein Blut mit einem Geigerzähler auf Strahlung geprüft. Ich fragte Professor Dombey, was da passiert sei.

„Nichts.“

„Es gab keinen Ausschlag, also auch keine Strahlung?“

„Nein, es gab schon Strahlung, aber keine, auf die ein Geiger-zähler angesprochen hätte.“

Geigerzähler sprechen auf Strahlungen an, denen wir alle fast ständig ausgesetzt sind: Gamma- und Betastrahlen. Aber es gibt noch eine dritte Sorte: Alphastrahlung. Und auf die reagiert ein Geigerzähler nicht.

Der russischen Giftküche war ein teuflisch cleverer Trick gelungen. Es war nicht die Art Strahlung, an die man als Erstes denkt.

Aber dann kam ein heller Kopf denn doch dahinter. Großbritannien ist in vieler Hinsicht nicht das Gelbe vom Ei: Es regnet zu viel, das Essen ist grauenvoll, und dann Brexit. Aber wir Engländer sehen uns für unser Leben gern vor ein Rätsel gestellt. Sherlock Holmes mochte einen albernen Hut auf- und übermenschliche detektivische Fähigkeiten haben, aber er war sehr, sehr britisch – und jemand, der dem Mann aus der Baker Street 220B sehr ähnlich ist, hat das Rätsel gelöst und damit dem Kreml einen Strich durch die Rechnung gemacht.

Die Person oder wahrscheinlich eher das Team, das das Rätsel um Litwinenkos Vergiftung löste, arbeitet in Aldermaston, Großbritanniens hauseigener Kernwaffenschmiede in Berkshire. Wie Professor Dombey weiter ausführt, dachten die Ärzte an der Uniklinik: „Das ist doch merkwürdig, es sieht nach einer Verstrahlung aus, aber wir können keine Strahlung messen. Also schickten sie Proben von Litwinenkos Körperflüssigkeiten nach Aldermaston. Dort nahm man einige Tests vor, suchte nach speziellen Arten von Kernzerfall und fand dessen zwei: Alphastrahlung mit einer bestimmten Energie und Gammastrahlung, die weitaus schwächer war. Diese beiden Ergebnisse zusammengenommen führten zu einem einzigen Befund. Man identifizierte das Isotop Polonium 210.“

Kann man Polonium 210 im Laden kaufen?, frage ich den geduldigen Prof.

„Nein.“

Das Problem bei Giftmorden ist, dass die „Waffe“ einem etwas über den Mörder verraten kann, und zwar mehr, als man gemeinhin vermuten möchte. Polonium ist ein radioaktives Element, das die geniale Physikerin Marie Curie entdeckt und nach ihrer Heimat Polen benannt hatte. Zu radioaktiven Elementen existieren jeweils eine Reihe von Isotopen, im Falle von Polonium mehr als 25, von denen Po-210 das häufigste ist. Man stelle sich diese Isotope vor wie Varianten von Thousand-Island-Dressing – Honig, Senf, Knoblauch. Polonium 210 ist wie Knoblauch: ausgesprochen markant. Und die Dosis, die Litwinenko getötet hat, war außergewöhnlich hoch. Laut Dombey hatte er sage und schreibe 26,5 Mikrogramm konsumiert.

Dombey betätigte sich auf eigene Faust als Detektiv und kam zu dem unumstößlichen Schluss, dass das Po-210, das Litwinenko das Leben gekostet hat, nur aus einem einzigen Reaktor kommen konnte, einem Avangard-Reaktor der Sowjetzeit im 750 Kilometer südöstlich von Moskau gelegenen Sarow. Sollte Ihnen bei alledem Der Herr der Ringe in den Sinn kommen: Namen wie Avangard und Sarow sind durchaus nicht von mir erfunden. Wie auch immer, nirgendwo sonst produziert man eimerweise Po-210, die Knoblauchvariante des Dressings, wenn Sie so wollen, von derartiger Reinheit.

Mein Professor erklärt mir en détail, wie es zu dem tödlichen Tässchen Tee kam. Zuerst, so sagt er, wurde in der kerntechnischen Anlage Majak im Ural Bismut beschossen, ein Metall, das bereits in der Antike als Schwester von Blei und Zinn bekannt war. Das radioaktive Bismut transportierte man dann zum Avangard-Reaktor in Sarow und machte dort daraus Polonium 210. Als Nächstes brachte irgendeine staatliche Giftküche das Metall in eine lösliche Form, sodass es sich in eine Tasse Tee praktizieren ließ.

Ich fragte meinen Professor, wie sicher er sich dessen sei.

„99,9 Prozent“, sagte er. „Mit einer Handvoll Neunen dran, wenn Sie wollen.“

Der Prof hatte sich seine Dose Spitfire redlich verdient. So zurückhaltend und leise er auftreten mag, Dombey ist ein Held unserer Zeit.

Russlands geheimer Staat meinte, die Tarnkappenwaffe schlechthin eingesetzt zu haben. Aber da hatte er sich geirrt. Nachdem die britischen Wissenschaftler erst mal dahintergekommen waren, dass da Polonium 210 im Spiel war, ließ sich die Spur der Giftmörder nicht weniger schwer verfolgen als die von Einbrechern in frischem Schnee. Es gab drei Hauptverdächtige für den Giftanschlag, die sich alle drei mit Litwinenko am Nachmittag beziehungsweise am frühen Abend des Tages getroffen haben, an dem er erkrankte. Es handelt sich dabei um Mario Scaramella, einen ziemlich abgedrehten italienischen Nachrichtenanalytiker, der auch in Sachen Verschwörungstheorien reist; er geht mit Litwinenko in ein Sushilokal am Piccadilly Circus. Und dann sind da noch zwei Russen, Andrei Lugowoi und Dmitri Kowtun; die sind in der Stadt, um sich das Spiel Arsenal gegen ZSKA Moskau anzusehen. Die beiden halten sich an Gin; Litwinenko trinkt ein Tässchen Tee.

Für unsere Panorama -Sendung in der BBC zum Thema How To Poison A Spy gehe ich im Januar 2007 der Po-210-Spur nach.

Am 1. November 2006 nimmt Litwinenko um die Mittagszeit den 134er-Bus in die Stadt. Auf seiner Fahrkarte findet sich nicht ein Hauch von Polonium. Er ist also unterwegs noch clean . Itsu, das Sushilokal am Piccadilly? Das ist kontaminiert – allerdings nicht in der Nähe der Plätze von Litwinenko und Scaramella. Das ist merkwürdig, eine Anomalie. Ist Sacaramella eine bewusst gelegte falsche Fährte?

Dann macht die Spur zeitlich eine Kehrtwende.

Zwei Wochen zuvor, am 16. Oktober, bewohnen Lugowoi – ehemals KGB -Offizier, dieser Tage Millionär – und sein Freund Dmitri Kowtun, Pornodarsteller und KGB -Agent, zwei Zimmer im Parks Hotel in Knightsbridge. Man testet die Zimmer auf Polonium. Das Ergebnis? Kontaminiert. Die Polonium-Spur beginnt also mit Sicherheit hier. Litwinenko ist Stammgast im Itsu am Piccadilly. Während ihres London-Aufenthalts im Oktober treffen sich Lugowoi und Kowtun dort mit Litwinenko zum Lunch. Das Restaurant ist kontaminiert, aber nicht die Plätze, wo Scaramella und Litwinenko zwei Wochen später sitzen sollten. Scaramella ist Ablenkungsmanöver.

Am 25. Oktober kehrt Lugowoi nach London zurück und steigt im Sheraton Park Lane Hotel ab. Während dieses Aufenthalts trifft er sich zwei- oder dreimal mit Litwinenko. Eines der Zimmer im Hotel ist hochgradig radioaktiv kontaminiert. Noch im Januar 2007 ist nicht nur dieses Zimmer, sondern ein ganzer Abschnitt der achten Etage off limits. Am 28. Oktober 2006 fliegt Lugowoi mit dem British Airways Flug GBNWX zurück nach Russland. Und Sie haben es erraten: Mindestens einer der Sitze der Maschine ist kontaminiert. Am selben Tag trifft Kowtun in Hamburg ein, um seine Kinder zu besuchen, die bei seiner Ex-Frau leben; eines hat gerade laufen gelernt, das andere ist noch ein Baby. Sie sind beide kontaminiert. Als Nächstes treffen sich Lugowoi und Kowtun mit Litwinenko am Tag seiner Vergiftung um 16 Uhr 30 in der Pine Bar des Millennium Hotels, nur eine Stunde nach der Sushibar. Jetzt wird die Polonium-Spur wirklich heiß. Lugowoi und Kowtun heben einen zusammen mit einem dritten Russen, Wjatscheslaw Sokolenko. Das Tagesgeschäft erledigt, entspannen die drei vor dem Spiel. Litwinenko rührt Alkohol nicht an, aber für ein Tässchen Tee ist er immer zu haben.

Von Marina erfuhr ich dazu: „Im Millennium Hotel, so sagte Sascha, hat er sich mit Lugowoi getroffen und dabei Tee getrunken. Der Tee war bereits serviert, er stand auf dem Tisch, und er hat die Tasse einfach genommen, hat sie aber nicht ausgetrunken. Später sagte er, ‚der Tee war nicht besonders lecker‘.“

Die Polonium-Spur durch London beweist, dass Litwinenkos Tee mit Po-210 versetzt war. Die Dosis war gewaltig; wir schätzten die Strahlung auf vier Milliarden Becquerel. Das normale Level im Körper liegt bei gerade mal 20 Becquerel. Die Kontaminationsspur in der Pine Bar ist erstaunlich. Die Tasse mit dem Tee: kontaminiert. Das siebenköpfige Personal der Bar im Hotel, das die Tasse abgetragen, gespült, getrocknet und dem nächsten Gast vorgesetzt hatte: kontaminiert. Die Pine Bar selbst war kontaminiert und noch zweieinhalb Monate später geschlossen. Eine Kontamination an sich ist nicht notwendigerweise tödlich, da Alpha-Teilchen nicht durch die Gegend springen; sie sind nur tödlich, wenn man sie zu sich nimmt. Langfristige Risiken freilich sind noch nicht erforscht. Lugowoi und Kowtun gehen zum Fußballspiel. Ihre Sitze bei Arsenal im Stadion: kontaminiert.

Alles deutet auf nicht nur einen, sondern mehrere Mordversuche an Litwinenko. Die Polonium-Spur macht Lugowoi und Kowtun zu den Hauptverdächtigen für den Mord. Was die natürlich bestreiten, bla, bla, bla …

Man kann ins Feld führen, ein reicher Mann wie Lugowoi könnte sich Polonium 210 kaufen, unter dem Ladentisch sozusagen. Ich fragte meinen Freund Professor Donald Rayfield, ob hinter dem Mord ein Oligarch oder sonst jemand im geheimen russischen Staat stecken könnte.

Rayfield antwortete: „Wenn du das denkst, musst du von Grund auf ignorieren, wie der russische Staat oder eine Diktatur überhaupt funktioniert. Da stößt keinem Außenseiter etwas zu, was internationale Folgen haben könnte, ohne direkten Befehl und Zustimmung des Staatsoberhaupts, das ist in Nordkorea so, das ist in China so. Russland hat diese Art von unsicheren Kantonisten längst eliminiert. So etwas passiert einfach nicht. Mag sein, dass ein Geschäftsmann einen Konkurrenten ermorden lässt, aber wahrscheinlicher ist, dass er ihn beim Finanzamt hinhängt, wo man ihn dann wegen seines Reichtums erpresst. Aber Mord mit einer radioaktiven Substanz, die nur aus einer einzigen Quelle kommen kann, die zu isolieren, zu transportieren, zu verpacken selbst den Staat Millionen kostet, geschweige denn von der Ausbildung der Attentäter? Es ist unvorstellbar, dass das ohne Putins direkten Befehl passiert ist.“

Für unsere Panorama -Sendung reiste ich nach Moskau und Sankt Petersburg, wo ich jedem, der mit mir reden wollte, meine Lieblingsfrage stellte: „Kann man Polonium 210 im Laden kaufen?“ Meine damalige Freundin Tomiko Newson, später meine Frau und noch später meine Ex und heute ein Kumpel, kam damals in Moskau vorbei, auf eine Shopping-Tour, für den Fall, dass sie jemand beobachtete – sie spielte den Part wunderbar –, um unsere Aufnahmen nach Hause zu schaffen. Eines Abends sangen wir in unserem Hotelzimmer im Hotel Ukraina „Land of Hope and Glory“, etwas, was mir in London nicht im Traum einfallen würde.

Auf Zutun von Panorama bekam ich ein Interview im Kreml mit Putins mächtigem Pressesprecher Dmitri Peskow. Da BBC Current Affairs ständig in Geldnöten ist, machte ich das Interview mit einem freien Kameramann und ohne Producer vom Sender. Um ehrlich zu sein, als ich vor der mächtigen roten Mauer des Kremls aufkreuzte, durch ein Tor ging und die Tür sich fast lautlos hinter mir schloss, wurde ich etwas nervös. Peskow trägt den Ansatz eines Nackenspoilers, einen Tausendfüßler von Schnurrbart und wirkt irgendwie traurig – er erinnert an den verzweifelten Footballmanager eines Vereins am Tabellenende, sagen wir mal Rotherham United. Sein Englisch ist fließend, nie laut. Er ist eher ein Stilett als ein Säbel. Und er lügt wunderbar. Ich sagte Peskow auf den Kopf zu, Litwinenko habe Putin auf seinem Blog einen Pädophilen genannt – und plötzlich stirbt er. Putin hat den Jungen auf den Bauch geküsst. Ist Putin pädophil?, fragte ich.

„Nein“, sagte Peskow entschieden. Ich sah an seinem Blick, dass ihm die Frage so gar nicht schmeckte. Die BBC schnitt die Frage denn auch raus. Der Fairness halber sei hier gesagt, dass Litwinenko keinen Beweis für seine Behauptung erbracht hatte, also legte ich mich damals wegen des Schnitts nicht mit dem Management des Senders an. Damals. Heute würde ich das tun. Immerhin zitierte ich Litwinenkos und Felshtinskys Buch Eiszeit im Kreml , das Putin rundheraus vorwirft, hinter den Sprengstoffanschlägen auf Moskauer Wohnblocks von 1999 zu stecken. Und dann wird dessen Co-Autor in London vergiftet? Ob die Story stimmt?, fragte ich Peskow.

Er antwortete: „Nein, das stimmt nicht. Was er da in dem Buch schrieb, der Vorwurf gegen Putin, den FSB , diese Wohnungen in Russland in die Luft gesprengt zu haben, hat nichts mit der Realität zu tun. Was sage ich, ich halte das, meiner ganz persönlichen Ansicht nach, für das Produkt eines üblen Gehirns.“

Peskow lachte lautlos: Ich kenne das richtige englische Wort dafür nicht.

Sweeney: Krankes Hirn.

Peskow: Krankes Hirn, ja, eines kranken Hirns. Ich meine, das ist einfach …

Sweeney: Geisteskrank?

Peskow: Nun, so wie ich das sehe, kann nur eine geisteskranke Person auf die Idee kommen, dass die russische Regierung Wohnungen ihrer eigenen Bürger in die Luft jagt.

Marina Litwinenko hatte mir gesagt: Ich kann nicht wirklich sagen, dass Putin Sascha getötet hat, aber ich kann sagen, dass Putin hinter allem steckt, was in Russland passiert. Damit konfrontierte ich Peskow.

Peskow: Ich antworte darauf direkt, Russland war das nicht. Und es ist absurd, an so etwas auch nur zu denken.

Sweeney: Das heißt, sie lügt, wenn sie das sagt?

Peskow: Wenn sie das so sagt, ja.

Sweeney: Sie lügt also?

Peskow: Ja. Wenn sie sagt, dass Russland Sascha getötet hat, dann ist es gelogen.

Sweeney: Sie hat also nichts zu befürchten, oder? Es wird ihr nichts passieren? Weil sie Kritik übt.

Peskow: Ich hoffe, die britische Polizei versteht ihre Arbeit. Sie lebt in London. Warum fragen Sie nicht die britischen Behörden, ob sie sicher ist oder nicht? Sie lebt nicht in Moskau.

Unsere Panorama -Sendung gab Litwinenkos Witwe das letzte Wort: „Es kann wieder etwas Schlimmeres passieren. Weil die Liste dieser Leute noch nicht fertig ist. Er war der Zweite auf Liste, der mit Polonium 210 getötet wurde. Okay, was werden sie nehmen, um eine andere Person zu töten? Atombombe? Könnten Sie mir sagen, bitte, was kommt als Nächstes?“

Die Antwort auf ihre Frage ist eine chemische Massenvernichtungswaffe, aber ich greife vor.

Die Ermordung Litwinenkos brachte Professor Norman Dombey auf den Gedanken, dass die russische Giftküche Polonium 210 wohl kaum zuerst gegen eine Zielperson im fernen England eingesetzt haben dürfte. So etwas probiert man doch erst mal zu Hause aus. So nahm er den merkwürdigen Tod des tschetschenischen Feldkommandeurs Lecha Islamow unter die Lupe, der eine neunjährige Haftstrafe in einem Moskauer Gefängnis verbüßte, als im April 2004 etwas Schreckliches passierte.

Von Achmed Sakajew, dem ehemaligen tschetschenischen Außenminister, erfuhr ich dazu Folgendes: „Am Abend bevor Islamow von seiner Gewahrsamszelle in Moskau in das Gefängnis verlegt werden sollte, in dem er den Rest seiner Haftstrafe absitzen sollte, hatte er zwei Besucher, Offiziere des FSB . Sie versuchten, ihn umzudrehen, aber er wollte nicht mit dem russischen Nachrichtendienst arbeiten. Sie tranken zusammen Tee. Tags darauf, auf der Fahrt zum Hauptgefängnis, ging es ihm plötzlich furchtbar schlecht. Man brachte ihn ins nächste Krankenhaus in Wolgograd.“

Islamows Anwalt schilderte den Zustand seines Mandanten: „Er kann nicht mehr sprechen, sich nicht mehr bewegen, er ist völlig kahl, hat alle Haare verloren, seinen Bart, die Augenbrauen, seine Haut schält sich vom Kopf und von den Händen.“

Laut Sakajew zeigte Islamow die gleichen Symptome wie Litwinenko, nur akuter: „Lecha starb binnen zehn Tagen. Sascha [Litwinenko] hielt 23, 24 Tage durch, weil er im Krankenhaus war und die Ärzte dort um sein Leben kämpften.“

Die zweite Vergiftung, die Professor Dombey verdächtig vorkam, war die von Roman Zepow, dem alten Sankt Petersburger Gangster, der Ljudmila Putina mal einen gestohlenen Smaragd geschenkt haben soll. Zepow hatte alle Geheimnisse des Vizebürgermeisters gekannt und angeblich das „Schwarzgeld“ eines dankbaren Mobs eingesammelt und an Putin weitergereicht. Der amerikanische Nachrichtendienst-Analyst Paul Joyal erinnert sich, dass Zepow und sein Partner Wiktor Zolatow eine Sicherheits-Firma namens Baltic Escorts besaßen. In den 1990er-Jahren übernahmen sie im Auftrag der Stadt den Personenschutz für den Bürgermeister Sobtschak und seinen Stellvertreter Putin. Zolatow folgte Putin als dessen Bodyguard durch Moskau und erklomm den Gipfel der Macht als Chef seiner Prätorianergarde, der Rosgwardia oder Nationalgarde, und Mitglied des Russischen Nationalen Sicherheitsrats.

Zepow war auch bei der feierlichen Vereidigung Putins zum Präsidenten mit von der Partie. Im Herbst 2004 jedoch lief etwas schief.

Am 11. September 2004 besucht Zepow Kollegen in einer örtlichen Zweigstelle des FSB und trinkt dort eine Tasse Tee. Bald darauf fühlt er sich unwohl, muss sich übergeben, bekommt Durchfall, die Zahl seiner weißen Blutkörperchen sinkt jäh ab. Dann fallen ihm die Haare aus. Seine Haut zieht Blasen. Und schließlich stirbt er.

Ich sollte mir mal, so Professor Dombey, Folgendes vor Augen halten: „Wir haben drei Russen, die an einer Strahlenvergiftung gestorben zu sein scheinen: Juri Schtschekotschichin, Lecha Islamow und Roman Zepow. Und in allen drei Fällen deutet alles auf eine Verstrahlung, nur dass keine Strahlung zu messen war. So wie das, zunächst jedenfalls, bei Litwinenko war. Die russischen Diagnosen lauteten entsprechend auf ‚Ursache unbekannt‘. Und so hatten Putin und Co. sich das auch im Fall von Litwinenko vorgestellt. Sie wollten zeigen, dass sie morden konnten, ohne auch nur die geringste Spur zu hinterlassen. Es hatte ja bereits dreimal geklappt. Was die drei Russen angeht, so können wir nicht hundertprozentig sicher sein, dass Polonium 210 im Spiel war, da im Gegensatz zu Aldermaston dort kein Mensch die Tests vornahm.“

Die Logik des Professors besticht. Die Russen würden nicht hergehen und eine Waffe dieser Art gegen ein so prominentes Ziel in London einsetzen, ohne sie vorher zu testen.

Ein Jahr nachdem Litwinenko, der damals bereits die britische Staatsbürgerschaft hatte, einen so qualvollen Tod gestorben war, reagierte die britische Regierung darauf mit der Ausweisung von vier russischen Diplomaten. Es war dies ein derart läppischer Klaps auf die Hand, dass das – dreimal dürfen Sie raten – nicht das letzte vom Kreml gesponserte Attentat mit Massenvernichtungswaffen auf britischem Boden war.

Ich fragte Professor Norman Dombey, ob die britischen Behörden seiner Ansicht nach zu lange gebraucht hatten, um zwei und zwei zusammenzuzählen. Worauf Dombey meint: „Absolut, sie taten ja nichts. Es gab zu viele russische Millionäre, die in London Geld ausgaben. Ich denke, mehr ist dazu nicht zu sagen.“

Nach Ansicht des amerikanischen Nachrichtenanalytikers Paul Joyal war der „Tipping-Point“, dass Litwinenko Putin als Pädophilen bezeichnet hatte. „Es gab eine Menge Leute, die Litwinenko gern losgeworden wären. Aber wenn man sich ansieht, wie man ihn umgebracht hat, das war absolut entsetzlich. Letztlich hat ihn das Polonium von innen her schmelzen lassen. Und das Ganze sollte ja eigentlich gar nicht entdeckt werden.“

Und man wäre um ein Haar damit durchgekommen.

Joyals Arbeitshypothese zufolge hatte Litwinenko Informanten beim KGB , die wussten, dass das Damoklesschwert irgendeines Themas mit seinem Sexualleben über Putin hing, während er auf seinen Einsatz in Übersee wartete. Und Litwinenkos Ansicht nach war dieses Problem Putins mutmaßliche Pädophilie. Joyal hat da noch eine andere Theorie: „Ich denke, es gab da bei Putin den einen oder anderen Vorfall sexueller Art, nicht mit Kindern, aber mit jungen Männern, und dass es dafür Belege gab. Er ist nicht zwangsläufig schwul. Das ist vielleicht zu stark ausgedrückt. In seinem Fall tippe ich darauf, dass es etwas mit Macht zu tun hat. Beim KGB wusste man davon, und so hat man ihn nicht nach Übersee, in den Westen, geschickt, sondern nach Ostdeutschland. Ich kann nicht glauben, dass eine Pädophilie tatsächlich belegt war. Wäre Putin pädophil, man hätte ihn auch nicht in Ostdeutschland eingesetzt.“

Joyals Ansicht nach wäre es falsch, Putin kategorisch als schwul zu bezeichnen, das ginge ihm zu weit. Selbst bisexuell hält er für zu stark: „Ich weiß nicht, ob man tatsächlich von Attraktion sprechen kann, wie sie eine Bisexualität implizieren würde, oder ob seine Motivation nicht eher die Macht über einen Schwächeren ist. Es gibt Hinweise, dass Putin selber, als er jung war, Missbrauch erlitten hat. Vielleicht ist dieses Verhalten zum Teil eine Art Rache. Mir sind da Vorfälle zu Ohren gekommen, die für mich darauf hindeuten, dass ihn eher Macht und Kontrolle motivieren als eine bestimmte Ausrichtung.“ Jeder – einschließlich Wladimir Putin – hat ein Recht auf seine eigene sexuelle Orientierung. Das Problem entsteht in einem Land, in dem der Präsident, der manchen Quellen zufolge möglicherweise bisexuell ist, Homosexualität grundsätzlich unter Strafe gestellt hat.

Was im Narrativ von Menschen, die es wagen, mit ihrem Wissen über Wladimir Putins Privatleben an die Öffentlichkeit zu gehen, als Nächstes passiert, lässt einem das Blut erstarren. Joyal erklärte es mir: „Ich hatte von Alexander Litwinenkos Tod auf einer Dinnerparty gehört, die ich bei mir zu Hause an Thanksgiving gab. Es rief jemand an. Und ich hatte General Kalugin und seine Gattin zu Gast, außerdem einen ehemaligen Außenminister einer ehemaligen Sowjetrepublik und einen prominenten russischen Regimekritiker. Als wir von Alexanders Tod erfuhren, diskutierten wir, was jetzt zu tun sei. Und das war der Augenblick, in dem ich mich zu einem Artikel entschloss, der unsere feste Überzeugung zum Ausdruck brachte, dass die russische Regierung ihn ermordet hat, und das auf die denkbar abscheulichste Weise. Dadurch kam ich dann auch zu NBC Dateline .“

Sowohl Joyal als auch General Kalugin wirkten in der NBC -Doku mit, die Anfang 2007 ausgestrahlt wurde, als noch jede Menge Verschwörungstheorien darüber umherschwirrten, wie Litwinenko gestorben war. Joyal sagte mir dazu: „Die Russen streuten eine Menge Desinformation in Bezug auf seinen Tod: dass Beresowsksi ihn umgebracht habe, dass man beim MI 5 seiner müde geworden sei und ihn deshalb beseitigt habe. Es herrschte also allenthalben Verwirrung darüber, wer dafür verantwortlich war. Es gab da sogar eine Version der Russen, laut der er sich unabsichtlich selbst mit Polonium vergiftet habe.“

Ich wusste, dass das stimmte, ich hatte ja bei der BBC die Panorama -Sendung gemacht. Unsere Schlussfolgerung war glasklar gewesen: Litwinenko war vom geheimen russischen Staat mit irgendeiner Art Reaktorgift ermordet worden. In London und Washington freilich waren da viele skeptisch, hatten Angst oder waren zu geschockt, um zwei und zwei zusammenzuzählen. Aber da ich 2000 in Rjasan und Tschetschenien gewesen war und Anna Politkowskaja gekannt hatte, bevor sie an Putins Geburtstag ermordet wurde, war ich, was den Kreml anbelangte, längst über alle Zweifel hinaus.

Die betreffende Episode von NBC Dateline schlug in dieselbe Kerbe: Russlands geheimer Staat habe Litwinenko liquidiert. An der Dateline -Sendung wirkte auch der Times -Reporter Daniel McGrory mit. Ich kannte Danny noch aus der Zeit, in der ich als Kriegsberichterstatter für den Observer auf Achse war. Er war ein ebenso tapferer wie guter Journalist, der sich seinen Spitznamen „McGrory The Story“ redlich verdient hatte. Er hatte NBC Dateline ein Interview gegeben, in dem er Litwinenko als Opfer einer „vom Staat gesponserten Liquidierung“ bezeichnete. Fünf Tage nach der Aufzeichnung dieses Interviews fand man ihn tot auf. Als ich Joyal darauf ansprach, meinte er: „Als ich erwähnte, dass Danny doch noch vor Ausstrahlung der Sendung in den Staaten umgekommen sei, meinte ein Freund zu mir: ‚Dann sei mal lieber sehr vorsichtig.‘ Ich sagte ihm: ‚Hör mal, mir wird nichts passieren.‘“

Die Untersuchung eines britischen Gerichts kam zu dem Schluss, dass McGrory eines natürlichen Todes gestorben war, an einer Hirnblutung – ein Urteil, dem seine Familie sich anschloss. Die McGrorys gaben sich „durchaus zufrieden mit der Einschätzung der amtlichen Leichenschau, laut der er eines natürlichen Todes gestorben“ war – dass mit anderen Worten ihr „geliebter Gatte und Vater nicht das Opfer eines Mordes“ geworden sei. „Die Behauptung, ein erfahrener Journalist sei in seinem eigenen Land von einer feindlichen ausländischen Macht exekutiert worden, ist eine außerordentlich ernste Angelegenheit. Wäre sie wahr, dann hätte das tiefgreifende Implikationen nicht nur für unsere Familie, sondern für den investigativen Journalismus in diesem Land und die internationalen Beziehungen überhaupt. Niemandem würde das größere Sorge bereiten als Daniel McGrorys Angehörigen und Freunden. Wir glauben jedoch nicht, dass die Behauptung, Daniel McGrory sei von russischen Agenten liquidiert worden, irgendeine faktische Basis hat. Medien, Politik und die Welt überhaupt sollten sehr vorsichtig sein, diese Behauptungen als Fakten zu wiederholen oder auf der Grundlage bestenfalls fadenscheiniger Indizien Nachforschungen anzustellen.“

Ich fragte Paul Joyal, ob Danny McGrory ermordet worden oder eines natürlichen Todes gestorben sei. Er meinte dazu: „Also, ich weiß nicht. Die Frage bleibt definitiv offen. Ich finde jedoch … also, man hat sich keine allzu große Mühe gegeben, die Frage definitiv zu klären.“

Die russischen Nachrichtendienste mit ihren Laboren könnten eine Reihe von Giften perfektioniert haben, die eine Hirnblutung bewirken. Wenn man nicht von dieser Sichtweise ausgeht, wird man nie zu einer raffinierten Antwort auf die Frage kommen: Könnte er vergiftet worden sein?

Meine persönlichen Erfahrungen mit der Qualität der pathologischen Befunde britischer Untersuchungsrichter sind nicht gerade überwältigend. Zu oft musste ich feststellen, dass es ihnen an Ressourcen fehlt oder sie einfach zu establishmenthörig sind, um ihren Befunden zu trauen. Andererseits habe ich keine spezifischen Belege, die ich dem Befund der Leichenschau oder dem Glauben der Familie daran entgegenhalten könnte. Sie sind gute Leute und nicht auf den Kopf gefallen. Es besteht immer die Gefahr, einem Ereignis eine Ursache zu unterstellen, ohne solide Belege dafür zu haben. Man sollte sich da nicht zu voreiligen Schlüssen verleiten lassen.

Was also ist Danny McGrory wirklich zugestoßen? Um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht.

Paul Joyals Ansicht, der Tipping-Point sei Alexanders Unterstellung, mit Putin würde ein Pädophiler im Kreml sitzen, schnitt man vor der Ausstrahlung raus. Joyal war der Meinung, die Russen hätten irgendwie ein Transkript der Langfassung seines Interviews in die Hände bekommen. Nicht, dass er mir erklären könnte, warum genau er davon so überzeugt ist, aber er hat eine solide und fundierte Theorie. Er führte weiter aus: „Als ich vier Tage nach der Ausstrahlung in meine Auffahrt einbog, im Dunkeln, im Regen, fielen zwei Männer über mich her, die im Gebüsch auf mich warteten. Ich stellte mich dem ersten, wurde aber dann von hinten angegriffen. Den ersten konnte ich ausschalten, ich schlug auf ihn ein, und der zweite schlug mir dann von hinten gegen die Schläfe. Ich fuhr herum und stellte mich ihm, griff ihn an und schlug ihn zu Boden. Und da sagte er zu dem anderen ‚erschieß ihn‘.“

Ein 9-mm-Geschoss durchschlug Joyals Darm und Blase; der Mann wollte ihm noch in den Kopf schießen, aber die Pistole hatte eine Ladehemmung. Und dann ging Joyals Hund mit der geballten Kraft seiner neunzig Kilo auf die Angreifer los, worauf sie davonliefen. Joyal hing dreißig Tage lang am Beatmungsgerät und musste die nächsten dreieinhalb Jahre über siebenmal unters Messer.

Die Männer, die ihn umzubringen versucht hatten, wurden nie gefasst.