„Bedauern Sie die vielen Todesopfer in der Ukraine?“
D ie Abenddämmerung setzt ein. Ich stehe auf einem endlosen Sonnenblumenfeld mitten im Nirgendwo in der Ostukraine. Das Land wogt sanft auf und ab wie ein ruhig daliegendes Meer, und ich schaue auf die Nase eines Passagierflugzeugs, die Sitze und Logos von Air Malaysia und verfolge, wie schwarze Säcke auf die Ladefläche eines Müllwagens geworfen werden. Papiertüten, Teile von Sitzen, Gepäckstücke und diese Rollkoffer, auf denen man Kinder durch den Flughafen ziehen kann, sind über dem Feld verstreut. Und wann immer ich jetzt in Heathrow oder Gatwick ein Kind auf so einem Ding sehe, bekomme ich einen Flashback, und mir kommen die Tränen.
Ich werde von Darius Bazargan gefilmt, einem Producer und guten Freund von mir. Wir waren schon an manch grauenhaftem Ort zusammen, aber das hier ist mit Abstand der schlimmste. Normalerweise bin ich nicht auf den Mund gefallen, aber jetzt ringe ich um Worte, die Sinn ergeben. Wir sind spät hier eingetroffen, und die meisten Leichen sind bereits geborgen und in Leichensäcken verstaut. Während wir so dastehen, zähle ich sechs auf der Ladefläche eines Lastwagens. Das Licht schwindet, und ich muss mir jetzt endlich etwas einfallen lassen. Darius nimmt derweil ein paar Schnittbilder auf: einen roten Damenhut mit schwarzem Band, einen schwarz-weißen Plüschaffen, ein Teil des Flugzeuges mit der Aufschrift „Schlagfeste Tür“.
Und dann sprudeln die Worte heraus: „Die MH 17 kam aus dem Westen, wo die Sonne in diesem Moment untergeht, aus Amsterdam, und befand sich auf dem Weg nach Malaysia, doch dann wurden fast dreihundert Menschenleben ausgelöscht.“
Etwas weiter unten am Hügel bietet sich einem ein noch schlimmeres Bild. Hier sind die gewaltigen Flugzeugmotoren und das Fahrwerk auf die Erde gekracht; der Boden ist verkohlt, die Luft abgasgeschwängert. Ich spreche in die Kamera: „Sie können es nicht sehen, aber hier herrscht ein penetranter Gestank. Es stinkt nach Flugbenzin. Es stinkt nach Tod. Das hier ist ein ungeheuerliches Verbrechen.“
Die Boeing wurde am 17. Juli 2014 von einer russischen Buk, einem mobilen Mittelstrecken-Boden-Luft-Raketensystem, abgeschossen. Folgendes passiert dabei: Die Rakete schießt mit 5600 km/h in die Luft, fliegt neben dem Ziel her, explodiert und feuert Hunderte metallene, golfballgroße Geschosse in den feindlichen Flugzeugrumpf. Die kinetische Kraft eines Flugzeugs, das mit 800 Kilometern pro Stunde fliegt, erledigt den Rest. Die mobile Abschussrampe wird auf einem speziellen Tieflader transportiert, mit einem riesigen Radar am hinteren Ende. Diese spezielle Buk wurde quer durch Russland in die Ostukraine gefahren und auf einer Pontonbrücke Putins prorussischen Stellvertreterkämpfern übergeben. Das gesamte Buk-System, Tieflader mit Führerhaus, Raketen und Radar, war zu schwer für die Pontonbrücke, weswegen die russische Armee den Radar am Ostufer des Flusses zurückgelassen hatte. Das verminderte ihre Fähigkeit, zwischen ukrainischen Kampfflugzeugen und einem Passagierflugzeug voller Touristen zu unterscheiden. Die Soldaten dachten, sie würden den Feind töten. Stattdessen brachten sie 298 Zivilisten um, Holländer, Malaysier, Australier, Briten.
Irgendwann in der Zeit danach hatte ich die Gelegenheit, den rechtspopulistischen holländischen Politiker Geert Wilders zu interviewen. Ich fragte ihn, was er für den bisher größten Terroristenangriff gegen sein Land halte, woraufhin er meinte, es habe gottlob noch keinen gegeben. Dann erwähnte ich die MH 17, wo 193 Holländer und Holländerinnen starben. Es seien keine islamistischen Terroristen gewesen, die diese Menschen getötet hätten. Das hörte er nicht gerne, aber er ist ja auch ein ganz schöner Faschist, was ich ihm auch direkt sagte.
Es besteht kein Zweifel, dass die MH 17 von der russischen Armee abgeschossen wurde. Kremlkritische Ukrainer tweeteten Fotos davon, wie die Buk-Abschussrampe auf einem roten Tieflader, der von einem auffälligen weißen Führerhaus mit einem blau-grauen Streifen gezogen wurde, sich auf dem von prorussischen Separatisten gehaltenen Gebiet bewegte. Anhand einer Fotoserie kann man den Transportverlauf des Raketensystems verfolgen: Auf einem Foto sieht man es vor einem Wohnblock mit einem blauen Schuppen davor; auf einem anderen, wie es an einer Tankstelle mit einem Laden mit gelber Front im Hintergrund vorbeifährt. Bei den Recherchen zu unserem Film für BBC -Panorama suchten Darius und ich möglichst viele dieser Orte auf, um die Route des Transporters nachzuvollziehen.
Das von prorussischen Separatisten besetzte Donezk war ein düsterer Ort; die aufständischen Kämpfer waren finstere Gesellen, die mit ihren um die Stirn gebundenen Totenkopf-Bandanas wie eine kranke Version der „Piraten der Karibik“ aussahen, während sie zärtlich ihre Granaten an sich drückten und an ihren Checkpoints die Konföderiertenflagge wehte. Nach dem Abschuss der MH 17 leugnete der Kreml jegliche Beteiligung, sagte den von ihm gesteuerten Milizen jedoch, sie sollten der ausländischen Presse erlauben, vom Absturzort zu berichten. Doch je mehr Tage vergingen, umso bemühter wirkte das Entgegenkommen der Rebellen in ihrer Gastgeberrolle. Eines Morgens veröffentlichte der Daily Telegraph ein Furore machendes Foto vom Abschussort, der sich in einem Feld unweit der Stadt Snischne im Osten von Donezk befindet. Sofort brausten Darius und ich zusammen mit einem lokalen Helfer, den wir für zwei, drei Tage angeheuert hatten, los. Doch am Haupt-Checkpoint der Rebellen außerhalb von Snischne, dem fiesesten von allen, wurden wir angehalten. Unser lokaler Helfer zückte sein Tablet und fragte einen mit einem Maschinengewehr bewaffneten Kerl, wo genau die Russen die Rakete auf das Flugzeug abgeschossen hätten. Der Kerl lachte und meinte, wir sollten gefälligst wieder umkehren. Wir drehten um, und ungefähr hundert Meter weiter feuerten Darius und ich den Mann. Ein guter Helfer vor Ort ist Gold wert, aber dieser hätte uns alle drei das Leben kosten können. Als Mensch mochte ich ihn, aber ich wollte, dass er und wir am Leben blieben.
Ich brauchte eine Pause von all dem Töten und fuhr mit meinen Kindern in den Urlaub. Dann kehrte ich mit dem Producer Nick Sturdee nach Donezk zurück, der fließend Russisch spricht und dessen Urgroßvater, Vizeadmiral Sir Frederick Doveton Sturdee, 1914 vor den Falklands die Scharnhorst versenkte, das Flaggschiff von Admiral Graf Spee.
Nick und ich machten drei Augenzeugen ausfindig, die den Sattelschlepper mit der Raketenabschussbasis hatten vorbeifahren sehen, ehe sie die MH 17 abschoss. Zwei Augenzeugen waren von einem Offizier in einem Armeejeep zur Rede gestellt worden, der nicht mit lokalem, sondern Moskauer Akzent sprach. Später berichtete ich niederländischen Ermittlern, die das Massaker untersuchten, von dem russischen Offizier. Sie ließen mich an den Amsterdamer Flughafen Schiphol einfliegen, um sich alles en détail erzählen zu lassen. Ich vergewisserte mich nochmals bei meinen ukrainischen Informanten, und diese waren sehr gern bereit, den niederländischen Ermittlern alles zu erzählen, was sie wussten. Beim Journalismus geht es nicht immer nur um Herzschmerzgeschichten und schöne Promis.
Die Forensiker aus Holland und anderen Ländern fanden Fragmente von Buk-Raketen-Sprengköpfen, die in Wrackteilen steckten. Unversehrte Trümmerteile der Rakete wurden entdeckt, auf denen die Seriennummern zu erkennen waren. Bellingcat, eine holländische Gruppe für investigativen Journalismus, veröffentlichte auf ihrer Website einen Abschlussbericht, in dem sie ganz klar die Russen für den Abschuss der MH 17 verantwortlich machte. Jeder, der daran zweifelt, ist ein Dummkopf oder Troll des Kremls. Im Frühling 2014 hatte Putin einen Stellvertreterkrieg gegen die Ukraine begonnen. Zuerst hatte er russische Soldaten ohne deren normale Uniformen und Ausweise – die berühmten „kleinen grünen Männer“ – auf die Krim geschickt. Diese Halbinsel im Schwarzen Meer ist die historische Heimat der Krimtataren, eines muslimischen Volks, aber auch ein Ort von fast magischer Bedeutung für den russischen Imperialismus. Tennysons Gedicht The Charge of The Light Brigade wirft ein Schlaglicht auf die Unfähigkeit des britischen Militärs im Krimkrieg mit Russland in der viktorianischen Zeit, aber es muss auch gesagt werden, dass die Soldaten des Zaren letztlich durch das Bündnis aus Briten, Franzosen und dem Osmanischen Reich geschlagen wurden. 2014 hatte der Nachfolger der Zaren mehr Glück – er nahm die Krim quasi kampflos ein. Auch schürte Putin die Spannungen zwischen der russischsprachigen Bevölkerungsmehrheit in den beiden östlichen Verwaltungsgebieten (Oblasten) Donezk und Luhansk und der Hauptstadt Kyjiw. Es gab zahlreiche Menschen, die mit der verdeckten russischen Invasion nichts zu tun haben wollten, aber sie wurden vom russischen Geheimdienst mundtot gemacht oder ausgebremst. Damit die Botschaft klar war, rief der Kreml zwei Marionetten-Ministaaten ins Leben, die Volksrepublik Donezk und die Volksrepublik Luhansk. Mit Kyjiw sympathisierende Bürger wurden ermordet und gefoltert, oder sie flüchteten sich in die freie Ukraine, wo sie in Sicherheit waren.
Wenn man ein Kriegsreporter ist, folgt einem das andere Leben, das man nebenbei auch noch hat, mit auf die Schlachtfelder. Ich kann mich nicht erinnern, je Zeugnisse von einem grauenhaften Ereignis besichtigt zu haben, ohne dass mir nicht ein Problem, das ich von zu Hause mitgeschleppt hatte, im Kopf herumging. Diesmal war es das Management der BBC . Am Morgen des Tages, an dem die MH 17 abgeschossen wurde, hatte James Harding, der damalige Nachrichtendirektor, verkündet, dass vierhundertfünfzehn Mitarbeitern betriebsbedingt gekündigt werden müsse. Er identifizierte die Panorama -Reporter die von London aus arbeiteten. Von uns vieren war ich der bekannteste, und so wurde binnen weniger Stunden mein Gesicht über das Internet verbreitet, zusammen mit der Nachricht, dass ich mit Sicherheit gefeuert wäre. Als Reporter legte ich großen Wert darauf, den aktuellen Büroklatsch zu kennen, und spürte, dass etwas an dem Gerücht dran war, also setzte ich bei unserer nächsten Programmsitzung eine tapfere Miene auf, sagte, ich hätte meine Zeit an Bord genossen, und lud alle auf einen Drink in unserer Stammkneipe um die Ecke ein. Als am Nachmittag dann die Nachricht vom Abschuss der MH 17 einschlug, rückte das meine Perspektive zurecht und führte mir vor Augen, was wahres Unglück heißt, und ich meldete mich freiwillig, vor Ort über die Geschichte zu berichten. Als ich dann in Donezk eintraf, meinten alle Kollegen von anderen Nachrichtenorganisationen zu mir: „Aber ich dachte, deine Stelle wäre wegrationalisiert worden?“ Noch nicht, erwiderte ich.
Einmal, als Nick und ich im Wagen saßen und zwischen den ukrainischen und von den Rebellen gehaltenen Stellungen hin und her pendelten, rief Harding an. Wir hielten im Niemandsland an, und Harding erklärte mir, jeder, dessen Stelle gestrichen werde, könne sich für einen neuen Job bei der BBC bewerben … „James, ich muss jetzt weiter“, sagte ich. „Warum, was ist los?“ „Da sind zwei bewaffnete Kerle, die mit mir sprechen wollen.“ Wir hielten die Hände hoch, entschuldigten uns bei den bewaffneten Rebellen und sahen zu, dass wir wieder unbesetztes ukrainisches Gebiet erreichten und in die Freiheit zurückkamen.
Später kam heraus, dass die einzigen beiden BBC -Programme, die das Budget und den entsprechenden Aufgabenbereich hatten, uns Panorama -Reporter aufzunehmen, Newsnight und Today , gerade erst alle freien Stellen besetzt hatten. Man stelle sich das vor. Verärgert über diese clevere „Bewirb dich doch für eine andere Stelle“-Masche, stellte ich mich auf die Hinterbeine, und die Journalistengewerkschaft stärkte mir den Rücken. In den nächsten sieben Jahren bekam ich sechs Betriebsbedingte-Kündigungs-Schreiben, die ich allesamt ignorierte, und der Geschäftsleitung der BBC gelang es nie, mich zu feuern, weil die Gewerkschaft mit Streik drohte. Doch das änderte nichts an der Tatsache, dass der BBC -Generaldirektor Tony Hall und seine Befehlsempfänger mich loswerden wollten, und so arbeitete ich in den nächsten fünf Jahren besonders hart, um ihnen zu beweisen, dass sie unrecht hatten. Es war wie in einer Beziehung mit einem gewalttätigen Partner, und innerlich war ich gebrochen. Doch einstweilen stand ich noch auf der Gehaltsliste der BBC . Es sei denn, ich wäre so dumm gewesen, einen Fehler zu begehen.
Im guten alten Donezk, wie es war, bevor die Russen es 2014 stahlen, war der Bär los. Meiner Ex und mir war nicht nach Silvesterparty zumute – die willkürliche Ausgelassenheit und verordnete Fröhlichkeit fühlten sich falsch an, also suchten wir wahllos Orte für Spontanreisen aus. Im Jahr davor hatte es uns in den Libanon verschlagen, 2012 dann nach Donezk, ehe der Krieg zwei Jahre später einen Großteil der Stadt zerstörte. Sie liegt mitten im Kohle- und Eisenerzrevier der Ukraine und wurde 1860, in der Zarenzeit, von dem walisischen Mineningenieur John Hughes gegründet. Hughes, eine Naturgewalt aus den South Wales Valleys, arbeitete sich von ganz unten hinauf – von den walisischen Eisenwerken ins Londoner Millwall, wo er mit der Panzerung der Holzschiffe der Royal Navy ein Vermögen machte. Gesandte des Zaren fragten ihn, ob er nicht mitkommen und in der Ostukraine eine Fabrikstadt aufbauen wolle. Sie tauften sie ihm zu Ehren „Hughesowka“ beziehungsweise Jusowka. Es gibt ein großartiges Foto, das 1860 aufgenommen wurde – ungefähr sechzig Ochsen ziehen einen zylindrischen Hochofen auf Schlitten durch den Schnee in die Eisen- und Kohlestadt, die zu bauen Hughes im Begriff war. Er heuerte Hunderte walisischer Bergarbeiter an, die sich mit ihren Familien in Jusowka niederließen. Die bolschewikische Revolution von 1917 besiegelte den allmählichen Niedergang der Stadt mit ihrer westlich ausgerichteten Wirtschaftsstruktur. 1923 wurde sie in Stalino umbenannt und 1961, nachdem das alte Monster in Ungnade gefallen war, in Donezk.
Dass Russen und/oder Sowjets Ukrainer in großer Zahl umbringen, ist nichts Neues. 1933 führte Stalins Zwangskollektivierung der russischen und ukrainischen Bauern zu einer großen Hungersnot, bei der vielleicht sieben Millionen Menschen starben, davon wohl vier Millionen Ukrainer. Niemand kennt die genauen Zahlen, weil niemand die Toten zählte. Walter Duranty von der New York Times tat in einem Artikel Berichte über die Hungersnot ab, und dank seiner kriecherischen Ergebenheit dem Kreml gegenüber gewährte Stalin ihm ein Exklusivinterview, ein Scoop, der ihm den Pulitzer-Preis einbrachte. Erst in den 1980er-Jahren begann die Zeitung, Durantys Verfehlungen öffentlich anzuprangern, etwa in einem 1990 veröffentlichten Artikel, dessen Autor Durantys freundliche Berichte über die Sowjetunion als zu den „schlechtesten Reportagen“ gehörend bezeichnete, die in der Zeitung je erschienen waren.
Drei andere westliche Reporter erzählten indes die Wahrheit über die von Stalin verursachte Hungersnot: Fred Beal, ein amerikanischer Trotzkist, der den Mumm hatte, die Missstände aufzudecken; Malcolm Muggeridge, der eine Zeit lang Korrespondent für den Manchester Guardian in Moskau war, und Gareth Jones, dessen walisische Mutter die Gouvernante von John Hughes’ Kindern war. Die großen Zeitungen in den USA zeigten Beal die kalte Schulter; Muggeridge wurde vom Guardian gefeuert; Jones wurde zu Unrecht als Nazi-Sympathisant diffamiert und 1935 in China erschossen, und zwar, glaube ich, vom russischen Geheimdienst. 2011 arbeitete ich an einem Radiofeature für den BBC Radio World Service über Jones, und dabei kam ich auf die Idee, einen Thriller über seinen Kampf gegen die Fake News in Russland und in der Ukraine im Jahr 1933 zu schreiben, mit dem Titel The Useful Idiot . Hier nur eine kleine Szene, eine fiktionale Aufarbeitung einer verbürgten historischen Episode:
Hundert Meter entfernt stand Lenin, einen Arm ausgestreckt, seine Mantelschöße im Wind flatternd und gänzlich mit Schnee bedeckt. Eine schwarz gekleidete Frau, erbärmlich dünn, ein Kind im Arm, ging zu der Statue und kniete sich davor … Sie legte den Säugling zu Lenins eisernen Füßen ab und bekreuzigte sich mehrmals. Ein GPU -Beamter brüllte die Frau vom entgegengesetzten Ende des Platzes an, schrie aus voller Kehle, aber die schwarz gekleidete Frau beachtete ihn nicht; sie zog das Baby aus. Erst da wurde Jones klar, dass es tot war.
Diese Passage aus meinem Roman beruht auf historischen Fakten. Auf dem Höhepunkt der Hungersnot legten Mütter ihre toten Kinder bewusst zu Füßen von Lenin-Statuen nieder und verhöhnten auf makabre Weise das unmenschliche Regime der Sowjets. Der Westen tat herzlich wenig, um gegen die Hungersnot vorzugehen oder Stalins Tyrannei anzuprangern. Wobei gesagt werden muss, dass sie genug mit Hitler zu tun hatten.
Nicht ganz ein Jahrhundert später fiel die Reaktion des Westens gegen die Invasion in der Krim, in Donezk und Luhansk ähnlich gedämpft aus. Der Westen beschloss Sanktionen, doch Putin hatte einkalkuliert, dass sie eher von der „Kleiner Klaps auf die Hand“-Sorte sein würden, und genau so kam es. Der Abschuss der MH 17 veränderte zwar die Stimmung zwischen den beiden Seiten, änderte aber nichts an dem Grundsatz des Westens, man müsse irgendwie noch immer mit Putin Geschäfte machen.
Es war an der Zeit, dass jemand den Mann endlich öffentlich für den Tod von 298 Menschen verantwortlich machte. Aber zuerst musste ich noch zu einer Hochzeit. Meine Nichte Laura heiratete ihren Freund Tim irgendwo auf dem Land. Es wurde getrunken. Ich erinnere mich, dass ich nur anderthalb Stunden geschlafen hatte, ehe ich in ein Taxi in Richtung Gatwick stieg, um meinen Sieben-Uhr-Morgen-Flug nach Moskau zu erwischen; dort stieg ich in einen anderen Flieger um, der mich nach Jakutsk brachte, neun Zeitzonen östlich von London. Der Producer Nick Sturdee hatte herausgefunden, dass Putin das Mammutmuseum in Jakutsk besuchen wollte. Nick sagte, es sei ein Ding der Unmöglichkeit, einfach so bei Putin in Moskau aufzukreuzen und ihm ein Mikrofon vor die Nase zu halten – die Sicherheitsvorkehrungen seien einfach zu massiv –, aber in der tiefsten Provinz könnten sie bisweilen ein bisschen nachlässig werden.
Auf dem Flug nach Sibirien gibt es wenig zu essen, sodass ich bei der Landung frage, ob wir unterwegs irgendwo einkehren könnten. Ich schlinge einen Kebab hinunter. Verkatert, unter einem Jetlag leidend, kämpfe ich gegen das Zittern an. Da ist eine Reihe von Paläontologieprofessoren, die noch mehr zittern als ich. Ich stehe in meiner Hochzeitsgarderobe neben ihnen, in meinem sündteuren Anzug mit grüner Krawatte und mit langem Bart. Der russische Präsident kommt in seinem eiernden Gang ins Museum hereinstolziert. Ich nehme an, Putin hält mich für einen Professor, als ich aus der Reihe der Mammut-Experten heraustrete und ihn mit meiner Frage konfrontiere: „Was sagen Sie zu dem Töten in der Ukraine, Sir?“
Der offizielle Kreml-Medientross befindet sich in einer vorgefertigten Blase, sodass vermutlich alle annehmen (oder zumindest tun sie so), die Frage sei im Protokoll vorgesehen. Schnell schalten sie die Leuchten ihrer Fernsehkameras ein, um den antwortenden Putin aufzunehmen. Putins Sprecher, Dmitri Peskow, weiß es besser und reagiert wütend. Putins Sprachrohr, der aussieht wie ein drittklassiger Fußballmanager, wirft mir böse Blicke zu und versucht, Nick Sturdee daran zu hindern, die Szene einzufangen.
Erneut konfrontiere ich Putin mit der Frage: „Tausende Menschen sind schon getötet worden, Ukrainer, Russen, Malaysier, Briten, Holländer. Sir, bedauern Sie die vielen Todesopfer in der Ukraine?“
Es sind zu viele Kameras auf Putin gerichtet, als dass er meiner Frage ausweichen könnte, und er ist ein Profi, daher funktioniert Peskows Manndeckungsversuch nicht, und Nick fährt fort, alles aufzunehmen. Putin gibt eine lange und äußerst langweilige Antwort auf Russisch, die Peskow übersetzt, während er mich mit Blicken erdolchen möchte. Putin gibt vor, kein Englisch zu sprechen, doch er kann Englisch, hat schon öfter auf Englisch geantwortet. Peskow ist so wütend wegen meiner Chuzpe, dass er sein Englisch kurz vergisst und Putin seinem Dolmetscher zu Hilfe eilt und selbst übersetzt. „Kleine Städte, kleine Städte“, sagte er. Ich würde ihn sofort als Dolmetscher buchen.
In natura wirkt Putin makellos gekleidet, sehr klein, und man könnte ihn glatt für einen Auton, diese gruseligen Monster aus der Science-Fiction-Serie Doctor Who halten, die sich plötzlich in rollende Mülltonnen verwandeln, einen schlucken und als Plastik wieder ausspucken. Das Resultat seiner Schönheits-Behandlungen ist keine gute Werbung für Botox, aber wenn man der Herr im Kreml ist, sagt einem niemand, dass der Eingriff in die Hosen gegangen ist.
Aus der Nähe kann Putin ein ganz schönes Luder sein. Er schürzt die Lippen und zaubert einen Schmollmund in sein Plastikgesicht. Damit sieht er verblüffend feminin aus. Seine Reaktion auf mich hat ein bisschen was Unterwürfiges. Es ist merkwürdig.
Putins Gesicht ist in der Tat faszinierend, weil es mit einem Plastikglanz überzogen ist, abgesehen von dem bisschen Haut unter seinen Augen, der letzte Rest, der noch kein Botox abgekriegt hat. Ich spüre den Drang, sein Gesicht zu berühren und zu sagen: „Sind Sie eigentlich durch und durch aus Plastik?“ Aber dann wäre ich endgültig erledigt. Also unterdrücke ich diesen verrückten Impuls, und er starrt mich an, und ich starre ihn an. Ich bin wesentlich größer als er. Er ist klein, ungefähr eins siebzig. Ich bin eins achtzig groß. Aber es gibt noch ein Problem. Der Kebab liegt mir schwer im Magen, und ich habe das Gefühl, mich gleich auf Wladimir Putin übergeben zu müssen. Den Ukrainern würde das bestimmt gefallen. Ich müsste künftig in Kyjiw keinen einzigen Drink mehr selbst zahlen. Doch direkt hinter mir stehen die Kreml-Muskelpakete. Alle funkeln mich wütend an. Und ich sage mir: John, bitte, kotz jetzt bloß nicht Wladimir Putin an. Er kommt zum Ende seines Monologs und legt dar, dass am Krieg in der Ukraine allein Kyjiw Schuld hat, weil sie es versäumt haben, mit der Bevölkerung (sprich, den vom Kreml unterstützten Separatisten) in den östlichen Gebieten einen Dialog zu führen.
Es ist ganz schön clever von ihm, statt sich auf eine kurze Antwort zu beschränken, eine lange Ansprache zu halten, denn so erweckt er den Eindruck, als würde er ausführlich meine Frage beantworten, während er in Wirklichkeit genaueren Nachfragen vorbaut.
Eine Frage habe ich dann doch noch: „Warum gibt es so viele frische Gräber von russischen Soldaten, die in der Ukraine getötet wurden?“ Aber er dreht sich einfach um, und wie in einem sorgfältig choreografierten Ballett stehen plötzlich alle Bodyguards vor mir, eine Wand aus Muskeln. Peskow wirft mir und Nick einen letzten wütenden Blick zu, dann sagt ein sehr großer Mann zu uns: „Los, kommen Sie mit.“ Wir folgen unserem Führer ins Untergeschoss hinunter und einen langen Gang entlang, und als wir am anderen Ende ankommen, werden wir in einen Raum mit einer Mattglasscheibe in der Tür verfrachtet, in dem Kaffee und Croissants warten. Seit Stalins Tagen hat sich also einiges verbessert. Doch dann hören wir, wie es klick macht und von außen der Schlüssel im Schloss gedreht wird. Wir sind eingesperrt. Durch die Mattglasscheibe können wir einen riesigen menschlichen Schatten sehen. Also haben sich die Dinge nicht so sehr verändert, wie man denkt.
In London sitzt die Chefetage der BBC auf heißen Kohlen. Warum hat Sweeney das getan? Was ist passiert? Wo ist er? Unsere Handys funktionieren nicht, weil wir uns in einem Keller befinden, erst nach ein, zwei Stunden lassen sie uns wieder hinaus.
Am selben Tag noch eröffnet Putin zusammen mit einem Stellvertreter des chinesischen Ministerpräsidenten eine Gas-Pipeline. Ich gehe näher zur Bühne, auf der Putin steht, doch als ich ungefähr noch 60 Meter von ihm entfernt bin, kommt einer der russischen Schlägertypen auf mich zu und versetzt mir einen Schlag mit der Hand in den Unterbauch, aber so diskret, dass es niemand mitbekommt.
So also ist es, wenn man unangemeldet bei Putin auf der Matte steht. Aber ich habe mich nicht auf ihn übergeben. Das bereue ich inzwischen. Im Ernst, ich wünschte, ich hätte es getan.
Die Beweise sind so erdrückend, dass mir Wladimir Putin, als ich ihn mit dem MH 17-Abschuss konfrontierte und er die Ukraine dafür verantwortlich machte, eine fette Lüge auftischte. James Fallon ist Neurowissenschaftler und Psychiatrieprofessor an der University of California und befasst sich mit Mördern, Psychopathen und Diktatoren. Er hat auch eine Analyse von Putins Psyche, Körper und Seele verfasst. Für den Podcast Taking On Putin habe ich ein Interview mit ihm aufgezeichnet. Da der Prof und ich uns von Anfang an blendend verstanden, rede ich ihn mit Jim an.
Zunächst erklärt Jim, dass er nie die Gelegenheit hatte, Putin von Angesicht zu Angesicht zu treffen und eine unmittelbare Diagnose zu stellen. Aber er hat keine Mühen gescheut, um mit möglichst vielen Menschen zu reden, die mit Putin zu tun hatten, darunter ein früherer Präsident der Ukraine, ein ehemaliger Premierminister von Tschetschenien, hochrangige Personen in Belarus und anderen Ländern, die über die Jahre Zeit mit Putin verbracht haben. Jim hörte seinen Informanten aufmerksam zu und zeichnete Putins Persönlichkeitsmerkmale auf, „jene, von denen alle übereinstimmend berichtet hatten. Dann habe ich sie zusammengefasst und aus der Ferne versucht, eine Analyse seiner Charaktereigenschaften zu erstellen, um zu ergründen, ob er ins Schema einer dieser bösartigen Persönlichkeitsstörungen fällt, vor allem der Psychopathie oder auch einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung.“
Ich bitte Jim, mir einige dieser Charakterzüge zu beschreiben, nach denen er gesucht hat.
„Psychopathen sind sehr gut im Lügen. Den meisten Menschen ist es in irgendeiner Weise anzumerken, wenn sie lügen, zum Beispiel durch verräterische Zuckungen. Es gibt alle möglichen Anzeichen, die das Gegenüber deuten kann. Doch wenn einem die Moral völlig egal ist, wenn man nicht wirklich glaubt, dass das eigene Handeln unmoralisch ist, sendet man auch keine verräterischen Zeichen aus. Diese Menschen sind aalglatte Lügner. Und sie haben kein Problem damit. Auch mit einem Lügendetektor ist ihnen nicht beizukommen. Selbst die Polizei und die Menschen in ihrem Umfeld sagen, nun, sie sind unschuldig und sagen die Wahrheit, weil es keinerlei Anzeichen dafür gibt, dass diese Personen lügen.“
Ich erzähle Jim davon, wie ich Putin wegen der MH 17 überfallartig zur Rede gestellt habe und wie geschmeidig er gelogen hat.
„Ja, ich habe den Videoclip gesehen. Dieses Verhalten ist sehr typisch für alle Psychopathen und auch Menschen mit narzisstischer Persönlichkeitsstörung. Sie treten ganz ähnlich auf. Mit aalglatt meine ich übrigens, dass sie sich keine Gedanken über die Wirkung, die negativen Folgen ihrer fortwährenden Lügen machen. Weil sie innerlich keinen Konflikt austragen, kommen ihnen die Lügen ganz einfach und glatt über die Lippen. Wenn man außerdem glaubt, dass das eigene Handeln letztlich der moralische Weg ist, ist man auch überzeugt von der eigenen moralischen Überlegenheit. Also kommen einem die Worte nicht nur glatt über die Lippen, sondern man sendet auch keine verräterischen Zeichen aus, dass man lügt. Es ist einem egal. Die Menschen können nicht sagen, ob man lügt, und daher wird es einem von Kindheit an zur Gewohnheit. Diese Menschen werden zu professionellen Lügnern. Vom bloßen Zuhören und Ansehen kann man sie nicht entlarven. Denn sie glauben selbst an das, was sie sagen. Ein anderer Teil dieser Persönlichkeitsstörung ist die Schuld-Externalisierung. Sie sind immer schnell bei der Hand, andere für das eigene Handeln verantwortlich zu machen. Sofort haben sie eine Anschuldigung gegen jemand anderen parat. Zum Beispiel wirft man ihnen vor: ‚Sie waren es.‘ Darauf ein psychopathischer Mörder: ‚Nun, da war eine Waffe, und sie war zufällig in meiner Hand, aber dieser Mensch hat es verdient zu sterben, und da ist die Kugel wie von allein rausgekommen.‘ Es ist wirklich seltsam, denn sie bringen sich selbst nicht mit dem Verbrechen in Verbindung. Und so geht es schon ihr Leben lang. Als ich gesehen habe, wie du mit Putin gesprochen hast und dieser, ohne mit der Wimper zu zucken, sagte, im Grunde sind die anderen schuld, habe ich darin ganz klar ein psychopathisches Charaktermerkmal erkannt.“
Was also den aalglatten Lügner betrifft, zählt Putin ganz klar zu dieser Kategorie. Nach welchen anderen Charakterzügen hält man bei einem Psychopathen Ausschau?
„Nun, einem grandiosen Selbstwertgefühl. Dieses überstiegene Selbstvertrauen, Vertrauen in die eigene Identität: Das haben alle gemein. Daher sind sie sehr überzeugend, sehr souverän, halten sich selbst für großartig. Sie legen eine ‚furchtlose Dominanz‘ an den Tag. Es sind Menschen, die Mumm haben, die sich vor nichts und niemandem fürchten und die große Risiken eingehen. Psychopathen haben eine hohe Risikobereitschaft.“
Und noch ein Faktor könnte in Putins Psyche laut Jim Fallon im Spiel sein.
„Zunächst einmal haben alle Psychopathen und die meisten Diktatoren, deren Charakter ich analysiert habe, eine sehr schwierige Kindheit und Jugend gehabt. Sie wurden missbraucht, verlassen, vor allem im Alter von zwei bis drei Jahren. Alle bis auf Pol Pot. Er ist der Einzige von Hunderten, auf den das nicht zutrifft. Aber auf Putin, auf den trifft es zu. Er wurde als kleines Kind verlassen, missbraucht, drangsaliert. Er wurde zu einem kleinen Straßenganoven. Und damit passt er in dieses Muster eines Menschen, der in früher Kindheit das Trauma des Missbrauchs durch sein Umfeld erlebt hat, das bei einem Menschen epigenetisch zu den genannten Störungen führen kann.“
Ich erzähle Jim, was mir ein Informant gesagt hat: dass Putin als Kind sexuell missbraucht wurde. Jims Informanten haben ihm das Gleiche berichtet: „Alle haben gesagt, dass er missbraucht und früh verlassen wurde, als Zwei- oder Dreijähriger.“ Ich meine die umstrittene Geschichte, dass Putin ein uneheliches Kind war und von seiner Mutter in Georgien verlassen wurde. Aber Jim hat eine andere faszinierende, leicht abweichende These:
„Dass er missbraucht und als Kind verlassen wurde, bestätigen alle, aber die meisten reden davon, dass es in Leningrad passierte. Die Sache mit Georgien ist mir allerdings auch zu Ohren gekommen.“
Das wirft die Frage auf, ob Putin vielleicht von seiner leiblichen Mutter verlassen wurde, nicht in Georgien, sondern aus irgendeinem Grund in Leningrad. Jim fährt fort: „Das deckt sich mit den Kindheitsgeschichten anderer Psychopathen. Es gibt da immer etwas Unerklärtes, ein paar unbeantwortete Fragen in ihrer frühen Biografie; die betreffende Person oder jemand aus der Familie leugnet die wahre Geschichte, um die Familie zu schützen. Mit diesem Problem wird man häufig bei Gerichtsverhandlungen konfrontiert oder wenn man sich mit der Biografie von psychopathischen Mördern befasst. Sie wollen immer ihr Geheimnis wahren. Also hat man es ständig mit Leugnung zu tun. ‚Nein, meine Kindheit war wirklich okay.‘ Aber in Wirklichkeit wuchs die Person bei jemand anderem auf, nachdem die eigene Mutter sie verlassen hatte, in einem übergriffigen Umfeld – das ist bei Psychopathen ein weitverbreitetes Szenario. Deshalb hat man es ständig mit der Frage zu tun, was wirklich geschah. Welche Version ist die plausibelste? Im Falle Putins ist die Version, die ich am meisten zu hören bekam, die, dass das Verlassenwerden und der Missbrauch in seiner frühen Kindheit geschahen.“
Wir kennen nicht die ganze Geschichte und werden sie wahrscheinlich auch nie kennen. Aber wir wissen, dass Wladimir Putin verschiedene Merkmale eines Psychopathen aufweist: ein aalglatter Lügner ohne jegliches Muskelzucken im Gesicht, furchtlose Dominanz, Schuld-Externalisierung – bei Unklarheit über die frühe Kindheit.
Der Abschuss der MH 17 durch eine russische Mittelstrecken-Boden-Luft-Rakete im Juli 2014 war der Moment, in dem ich dachte, dass Wladimir Putin sein Pulver verschossen hat, dass er diesmal zu weit gegangen war, dass ihm der Westen diesmal die Stirn bieten würde.
Doch darin habe ich mich geirrt. Der Westen setzte seine Appeasement-Politik gegenüber dem Kreml fort, genau wie zuvor.