Kapitel fünfzehn

Ein Krieg, von dem wir nicht wissen, dass wir ihn führen

E iner der bedeutendsten britischen Diplomaten, der ehemalige Botschafter in Moskau und Historiker Sir Roddy Braithwaite, erzählt folgende Anekdote über Chris Donnelly, den hochrangigen Militärexperten, der vier Natogeneralsekretäre in Sachen russische bzw. sowjetische Sicherheitsfragen beraten hat und ein hochrangiger Angestellter im Verteidigungsministerium war: „Das letzte Mal, als ich Chris gesehen habe, saß er an einem Eisloch auf einem sibirischen Fluss und fischte, umgeben von russischen Generälen, die alle Wodka tranken. Dieser Mann versteht sein Handwerk.“

Mit seiner ruppigen Art ist Chris ein typischer Lancashirerianer; er hat an der Manchester University Russisch studiert, kann die sowjetische Nationalhymne singen – die Version, in der Stalin noch vorkommt – und besitzt ein kleines einzigartiges Privatmuseum für russischen Alkohol. Chris hat sich wie kein anderer, den ich kenne, mit Haut und Haar dem Ziel verschrieben zu ergründen, was im Kreml und in Russlands geheimem Staat vorgeht, der Ersteren kontrolliert. Nicht wenige Menschen wachen mitten in der Nacht auf, weil sie Angst vor der Bedrohung durch russische Atomwaffen haben. Chris lebt mitten in diesem Albtraum; er lauscht dem Herzschlag der russischen imperialistischen Psychose; er spaziert durch die widerhallenden Flure der kremlschen Paranoia. Inzwischen formal im Ruhestand, hat er 2009 eine Denkfabrik ins Leben gerufen, das Institute for Statecraft („Institut für Staatskunst“), um zu überwachen und zu erklären, was im inneren Machtzirkel Moskaus vor sich geht. Sie wurde von Russlands geheimem Staat gehackt, was ihm und seinen Mit-Analysten einen Haufen Ärger bescherte. Aber seine Arbeit geht weiter und wirft, wie es Astolphe de Custine im 19. Jahrhundert formulierte, ein Licht auf die Regierung, die „im Schatten arbeitet“.

Vor dem großen Krieg, der Invasion der Ukraine im Februar 2022, fragte ich ihn, wie er das, was sich da zwischen dem Westen und Russland abspielt, beschreiben würde.

Seine Antwort fiel düster aus: „Wir sind im Krieg mit Russland, und die Russen haben das verstanden. Vom russischen Standpunkt aus sind wir also im Krieg mit ihnen. Von einem britischen oder westlichen Standpunkt aus sind wir das ganz bestimmt nicht. Und genau darin liegt die Diskrepanz zwischen den verschiedenen Haltungen und in den Beziehungen beider Seiten.“

„Wie gut stehen wir in diesem Krieg, den wir nicht führen, da?“, ist meine Frage.

„Wir sind dabei, ihn zu verlieren.“

„Warum?“

„Erstens, weil uns nicht bewusst ist, dass er stattfindet. Und wenn man nicht weiß, dass man Krieg führt, ist man von Anfang an im Nachteil. Zweitens braucht man, wenn man Krieg führt, auch eine entsprechende Kriegsmentalität. Man braucht eine Haltung, andere Vorgehensweisen, andere Prioritäten. Wenn wir also Krieg mit einer Friedensmentalität führen, werden wir nicht sonderlich gut darin sein. Wenn wir gegen einen Gegner mit einer ausgeprägten Kriegsmentalität kämpfen, kann dieser seine Waffen sehr viel effektiver einsetzen als wir. Es geht nicht nur um Dinger, die knallen – Panzer, Schiffe, Flugzeuge, Bomben und Kugeln –, sondern buchstäblich um das gesamte Arsenal eines Staates – Information, Wirtschaft, Internet, Bestechung, Korruption, Politik, einfach alles.“

„Sie haben Mord ausgelassen.“

„Ja, die russische Bezeichnung dafür lautet ‚aktive Maßnahmen‘, und dazu gehören die Mordanschläge durch Geheimagenten und dazu wiederum die mokrije dela – die Drecksarbeit.“

Immer wieder aufs Neue verblüfft, dass Putin und seine Bande so aggressiv sind, so rücksichtslos, wenn es um die Vergiftung ihrer Zielpersonen geht, frage ich Chris, warum sie ein so hohes Risiko eingehen.

„Zunächst einmal, wenn sich der Feind … oder sagen wir der Gegner, nicht bewusst ist, dass er angegriffen wird, ist das Risiko nicht besonders hoch, weil die Menschen in der Regel nur das sehen, wonach sie Ausschau halten. Und wenn man nicht nach einem Angriff Ausschau hält, wenn man glaubt, dass es sich nicht um einen Angriff handelt oder es politisch höchst unangebracht ist zuzugeben, dass es sich um einen Angriff auf einen handelt, ist das Risiko überhaupt nicht hoch. Um den Mord an Litwinenko und den Mordversuch an Skripal zu verstehen, darf man nicht den Fehler machen, sie als Verbrechen zu betrachten. Es sind keine Verbrechen, es sind Kriegshandlungen. Sie ergeben nur Sinn, wenn man sie im Zusammenhang mit einem stattfindenden Krieg begreift, weil man in einem Krieg eben Risiken eingehen muss. Und die Russen verstehen nichts von der Art von Risikomanagement, wie es momentan gerade flächendeckend in Großbritannien grassiert. Sie wägen Risiko und Vorteil gegeneinander ab. Und das muss man auch, wenn man im Krieg ist. Ein Krieg fordert nun einmal Opfer, und man kann nur hoffen, sie gering zu halten. Es geht immer wieder etwas schief. Menschen machen Fehler. Nichts läuft perfekt. ‚Kollateralschäden‘ wird man immer wieder haben, wie zum Beispiel im Fall von Dawn Sturgess.“

Die Vorstellung, dass wir in einem Krieg sind, von dem wir nichts wussten – schon vor Februar 2022 –, ist ein so gewaltiger, kontraintuitiver Gedankensprung, dass es mir schwerfällt, ihn nachzuvollziehen. Ich frage Chris, ob es nicht ein Irrsinn von der GRU , dem militärischen Geheimdienst Russlands, war, Nowitschok gegen Skripal einzusetzen, weil sie damit doch ganz klar auffliegen würden. Richtig?

„Nicht unbedingt. Wenn man sich die Tradition des russischen Geheimdienstes ansieht, ist vieles dessen, was sie tun, effizient, weil es einschüchternd ist. Wenn es, wie in diesem Fall, nicht nur dazu gedacht ist, ein Individuum zu bestrafen, sondern auch anderen eine Lektion zu erteilen, muss es gut sichtbar sein. Die Öffentlichkeit muss es mitbekommen. Die Leute müssen wissen, dass man es getan hat. Auf merkwürdige, bizarre Weise haben sich die Russen schon immer für obskure, dramatische, öffentlichkeitswirksame Arten des Tötens entschieden. Nowitschok ist ein Beispiel dafür, Vergiftung mit Polonium ein anderes. Das passt ins Schema. Die Welt soll wissen, dass sie es getan haben. Nicht, dass sie auf frischer Tat ertappt und damit bloßgestellt werden wollen, das nicht. Sie wollen nicht erwischt werden, sie wollen lediglich einen gewissen Grad an Geheimnistuerei, bis klar ist, dass die Operation an sich erfolgreich war. Um beim Fall Skripal zu bleiben, ist es nicht einmal nötig, dass dieser stirbt. Die Hauptsache, sie haben ihrem wichtigsten Publikum dem eigenen Volk, dem zweitwichtigsten Publikum, ihren Geheimdienstagenten, und dem drittwichtigsten, der russischen Diaspora im Ausland, demonstriert: Wo immer du auch bist, wir kriegen dich, wenn wir es wollen.“

„Sie wollen, dass man Angst hat?“

„Ja. Wie heißt noch mal dieses lateinische Sprichwort? Oderint dum metuant . Mögen sie hassen, solange sie fürchten. Auf die Russen trifft das ganz gut zu.“

Ich zähle in meinem Gespräch mit Chris kurz ein paar Namen auf, die mir gerade so einfallen, von für Wladimir Putin, sein Regime oder seine Leute gefährliche oder ihnen gegenüber kritisch eingestellten Personen, die im Weg waren und die jetzt tot oder gerade noch einmal mit dem Leben davongekommen sind. Für dieses Buch habe ich die Liste dann verfeinert und neu kategorisiert. Zuerst ist da jene mit Leuten, die möglicherweise oder tatsächlich in Russland, Großbritannien oder anderswo vergiftet wurden. Einige überlebten, die meisten starben: Anatoli Sobtschak, Juri Schtschekotschichin, Lecha Islamow, Roman Zepow, Anna Politkowskaja, Alexander Litwinenko, Arkadi „Badri“ Patarkizischwili, Wladimir Kara-Mursa, Emilian Gebrew, Sergei Skripal, Julia Skripal, Detective Sergeant Nick Bailey, Dawn Sturgess, Charlie Rowley, Alexei Nawalny, Roman Abramowitsch.

Die zweite Liste umfasst Kritiker Putins, die erschossen wurden: Sergei Juschenkow, Anna Politkowskaja, Natalja Estemirowa, Stanislaw Markelow; Anastasia Baburowa; Boris Nemzow. Aufmerksame Leser werden bemerkt haben, dass Anna Politkowskaja zuerst vergiftet und dann später erschossen wurde.

Autos, Helikopter und Flugzeuge sind gefährliche Verkehrsmittel. Daher führt eine dritte Liste Kritiker Putins auf, denen mysteriöse Autounfälle oder Flugzeugabstürze widerfuhren: Artjom Borowik war ein russischer Reporter, der diese Geschichte recherchierte, dass Putin unehelich geboren wurde und seine frühe Kindheit in Georgien verbracht hatte oder dass Putin ein Pädophiler war. Kurz vor der Präsidentschaftswahl im März 2000 stürzte der Privatjet, mit dem er in Moskau losgeflogen war, ab und riss alle neun Flugzeuginsassen in den Tod. General Alexander Lebed war ein Held aus dem Afghanistan-Krieg und potenzieller Rivale Putins, bis sein Helikopter 2002 in Sibirien vom Himmel fiel. Chanpasch Terkibajew, der tschetschenische Terrorist, der der Geiselnahme im Moskauer Dubrowka-Theater glücklich entkommen war, wurde unglücklicherweise bei einem „Autounfall“ in Tschetschenien getötet, nachdem er von Anna Politkowskaja als Agent Provocateur entlarvt worden war. Stephen Curtis war der Anwalt des Ölkonzerns Yukos, dessen nagelneuer, als äußerst sicher geltender Helikopter beim Landeanflug auf den Flughafen Bournemouth 2004 abstürzte.

Die vierte Liste versammelt alle Kritiker von Wladimir Putin und dessen Kumpanen, die unter dubiosen Umständen ums Leben kamen: 2000 wurde Antonio Russo, ein italienischer Journalist, der ebenfalls der Geschichte von Putins unehelicher Abstammung auf der Spur war und unabhängig davon Kriegsverbrechen der russischen Armee in Tschetschenien dokumentierte, auf einer Straße unweit eines russischen Militärstützpunkts tot aufgefunden. Er war gefoltert worden, und einige seiner Videobänder waren verschwunden. Boris Beresowski soll sich 2013 angeblich in seinem Haus bei Ascot in Berkshire erhängt haben, aber niemand, der ihn gut kannte, glaubt das. 2017 erlag der Reporter Nikolai Andruschenko seinen Verletzungen, nachdem er von unbekannten Angreifern in Sankt Petersburg brutal zusammengeschlagen worden war. Er war ein langjähriger Kritiker des Herrn im Kreml, seit der Zeit, als er, Andruschenko, Lokalpolitiker in der zweitgrößten Stadt Russlands und Putin Vizebürgermeister dort war. Er hatte gesagt, Putins Politik drehe sich nur um Geld und sonst nichts. 2018 wurden drei russische Journalisten, die über die Söldnergruppe Wagner in der Zentralafrikanischen Republik recherchierten – Kirill Radtschenko, Alexander Rastorgujew und Orchan Dschemal – bei einem angeblichen Raubüberfall ermordet. Nur, dass aus ihrem Wagen nichts Wertvolles entwendet wurde. Im selben Jahr starb General Igor Korobow, der Leiter der GRU und Boss der beiden Giftmörder von Salisbury, im Alter von zweiundsechzig Jahren nach langer Krankheit. In Moskau sagt man, nach dem böse gescheiterten Einsatz in Salisbury habe er Putins Zorn auf sich gezogen.

Eine fünfte Liste umfasst jene Menschen, die aus Fenstern stürzten: Der russische Journalist Iwan Sawronow, 51, fiel 2007 aus einem Fenster seiner im fünften Stock liegenden Moskauer Wohnung. Er hatte über verdeckte russische Waffenverkäufe an den Iran und Syrien via Belarus recherchiert. Der Herausgeber der russischen Wirtschaftszeitung Kommersant , für die er gearbeitet hatte, sagte: „Ich möchte keine Gerüchte in die Welt setzen, aber eines kann ich mit Sicherheit sagen: Ich habe ihn gut gekannt, und er war bestimmt nicht selbstmordgefährdet.“ Die russische Journalistin Olga Kotowskaja stürzte 2009 aus ihrer Wohnung im vierzehnten Stock eines Hochhauses in Kaliningrad. Scot Young, der britische Helfer vor Ort von Beresowski, stürzte 2014 aus seiner Wohnung im vierten Stock im Londoner Viertel Marylebone. 2018 fiel der russische Journalist Max Borodin in Jekaterinenburg aus einem Fenster seiner Wohnung im fünften Stock. Im nächsten Kapitel lege ich die Geschichte hinter der Geschichte von Borodins Fenstersturz dar.

Natürlich könnten alle diese Todesfälle reiner Zufall sein. Vielleicht aber auch nicht.

Sehen wir uns zum Beispiel nur die Giftopfer, die einen britischen Pass hatten, an: Alexander Litwinenko, Sergei Skripal, Detective Sergeant Nick Bailey, Dawn Sturgess und Charlie Rowley. Wie kommt es, frage ich Chris Donnelly, dass die britischen Behörden keinen Zusammenhang zwischen all diesen Zufällen hergestellt haben?

„Keine Ahnung, wirklich. Ein Grund könnte sein, dass, wenn sie es täten, sie das Problem eingestehen müssten. Und das wäre peinlich und unangenehm und würde der Stadt London womöglich finanziell schaden, die großen Einfluss auf die Regierung hat und der große Summen russischen Geldes zufließen.“

Nun, da Russland die Ukraine überfallen und versucht hat, Kyjiw einzunehmen, müsste jedem klar sein, dass der Westen mit dem Kreml im Krieg ist. Aber ich glaube, Chris Donnelly hatte tatsächlich recht damit, dass wir schon seit fast zwanzig Jahren im Krieg mit Russland sind, ohne es zu wissen. Oder, schlimmer noch, unsere politischen Führer wussten es, aber sie sahen weg, weil Wladimir Putin sie mit etwas Kaltem, Glänzendem, Dunklem versorgt.

Moskauer Gold.

Ein paar Tage nachdem Theresa May den russischen Geheimdienst der Giftanschläge von Salisbury beschuldigt hatte, platzierte der Gasriese Gazprom erfolgreich eine Anleihe an der Londoner Börse. Die russische Botschaft in London mokierte sich in einem Tweet über Großbritannien, indem sie verkündete, die Nachfrage nach den Anleihen sei „dreimal höher gewesen als die Ausgabe [750 Millionen Euro]. Business as usual?“

Ein äußerst seltener Moment von Ehrlichkeit der Kreml-Gesandten in London.

Und absolut auf den Punkt gebracht.