Kapitel achtzehn

Gift in der Unterhose

I m August 2020 fliegt Alexei Nawalny von der sibirischen Stadt Tomsk nach Moskau. Während des Fluges steht er auf, um zur Toilette zu gehen, doch in diesem Moment versagen seine Beine den Dienst, er stürzt zu Boden und schreit gellend auf. Er schreit wie im Todeskampf. Und es ist nicht nur Nawalny, hier höre ich den Todesschrei der Demokratie in Russland.

Dann geschehen drei Wunder in der richtigen Reihenfolge und retten Nawalny das Leben. Das erste Wunder: Der Pilot des Flugzeugs begreift, dass der Anführer der russischen Opposition wirklich im Sterben liegt, und leitet eine Notlandung in Omsk ein. Das zweite Wunder: Ein Notarztwagen nimmt Nawalny mit, nachdem er aus dem Flugzeug gebracht wurde, und die Sanitäter spritzen ihm Atropin, dasselbe Mittel, das schon die Skripals in Salisbury gerettet hat. Und das dritte: Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel greift zum Telefon, ruft im Kreml an und bittet um die Erlaubnis, Nawalny zur Behandlung nach Deutschland ausfliegen zu lassen. Nach langem Zögern, während sich das Krankenhaus in Omsk bereits mit seltsamen Fremden in billigen Anzügen füllt, stimmt Putin der Evakuierung nach Deutschland zu. Dort machen sich die Ärzte an die Arbeit, führen Tests durch und stellen fest, dass Nawalny mit Nowitschok vergiftet wurde, dem Nervengift, das man auch beim Anschlag auf die Skripals verwendet hat und mit dem aus Versehen Dawn Sturgess getötet wurde.

Hauptverdächtiger ist der Herr des Kremls.

Ein paar Monate später, im Dezember 2020 identifizieren Christo Grosew vom Recherchenetzwerk Bellingcat und The Insider die Attentäter: Es sind Mitarbeiter des FSB .

Die ganze Recherche ist ein Beispiel für Open-Source-Journalismus auf höchstem Niveau. Nicht nur konnte festgestellt werden, wer Nawalny vergiftet hatte, sondern man konnte auch die Bewegungen der Verdächtigen nachvollziehen und so herausfinden, dass die entsprechende Abteilung des FSB Nawalny bereits seit drei Jahren verfolgte und vermutlich ebenso lange darüber nachdachte, wie man ihn umbringen könnte. Nawalny selbst, der sich zu dem Zeitpunkt in Deutschland von dem Anschlag erholte, sagte gegenüber der spanischen Tageszeitung El País : „Es fällt mir schwer, genau zu verstehen, was in [Putins] Kopf vorgeht … Zwanzig Jahre an der Macht verderben wohl jeden Menschen und treiben ihn in den Wahnsinn.“

In diesem Dezember unternahm Nawalny selbst einiges, um Wlad noch etwas wahnsinniger zu machen. Man stelle sich vor, es ist mitten in der Nacht, und man selbst ist ein kleines Licht beim FSB , ein Militär-Chemiker mit Namen Konstantin Kudrjawzew, und jetzt ruft auf einmal irgendein hohes Tier an und fängt an, einen anzuschnauzen. Natürlich erzählt man da alles, was man weiß.

Hohes Tier: Konstantin Borissowitsch?

Kudrjawzew: Ja, ja.

Hohes Tier: Ustinow hier, Maxim Sergejewitsch, Mitarbeiter von Nikolai Platonowitsch Patruschew. Ich habe Ihre Nummer von Wladimir Michailowitsch Bogdanow bekommen. Entschuldigen Sie den Anruf zu dieser frühen Stunde, aber ich brauche Sie ganz dringend für zehn Minuten.

Alles Fake, in Wirklichkeit ist Nawalny selbst am Telefon. Der Anruf findet bei Tagesanbruch statt, und der dusselige FSB -Schafskopf plaudert tatsächlich alles aus. Nawalny, die coole Socke, spielt das hohe Tier „Maxim“, der wissen will, wie die Jungs Nawalny vergiftet haben. Nach ein bisschen Vorgeplänkel geht das Gespräch weiter.

Nawalny (in seiner Rolle als hohes Tier): Und welchen Stoff hatten Sie da im Auge? Welches Kleidungsstück hatte den höchsten Risikofaktor?

Kudrjawzew: Die Unterhosen.

N: Die Unterhosen.

K: Was meinen Sie mit Risikofaktor?

N: Wo konnte man es [das Nervengift Nowitschok] am höchsten konzentrieren?

K: Ja, in der Unterhose.

N: Innen oder außen?

K: Also, wir haben es innen aufgebracht. So haben wir es gemacht.

N: Gut, stellen wir uns mal eine Unterhose vor. Welchen Teil davon haben Sie behandelt?

K: Innen, im Schritt.

N: Im Schritt?

K: Ja genau, im Schritt. Da gibt es ein paar Nähte, wir haben es auf die Nähte gegeben.

N: Moment mal, das ist wichtig. Wer hat Ihnen die Anweisung gegeben, den Schritt der Unterhose zu behandeln?

K: Das haben wir uns selbst ausgedacht. Man hat uns nur gesagt, wir sollen es auf die Innenseite tun.

N: Ich notiere: auf die Innenseite. Okay … Erinnern Sie sich noch an die Farbe der Unterhosen?

K: Blau. Aber ganz sicher bin ich nicht.

N: Und sie sind noch heil, ich meine, theoretisch könnten wir [der FSB ] sie zurückgeben? Das werden wir nicht tun, aber sie sind unbeschädigt, alles ist okay damit?

K: Ja, ja, sie sind sauber.

Nawalnys Nachbohren machte noch etwas klar: Wladimir Putin war der Unterhosenvergifter. Er hat Nawalnys Unterhose natürlich nicht selbst mit Nowitschok behandelt, aber nur er hatte die Macht, den Giftmord an dem zweitmächtigsten politischen Akteur Russlands zu befehlen.

HBO und CNN haben einen Film mit dem Titel Auf den Spuren von Nawalny gedreht, der seinen Krieg gegen den Kreml zum Thema hat. Sehr sehenswert!

Ich habe ein Gespräch mit Dr. Ben Noble geführt, er ist Associate Professor für russische Politik am University College in London und Co-Autor des Buches Nawalny: Seine Ziele, seine Gegner, seine Zukunft (deutsch 2021 bei Hoffmann und Campe). Er beschrieb zunächst, auf welche Weise Bellingcat und The Insider die Täter gefunden hatten. „Durch Zugang zu verschiedenen Informationen, darunter Passagierlisten, die sie aus verschiedenen Quellen erhalten haben, kommen sie dahinter, dass es eine Gruppe von Leuten gibt, die Nawalny seit Jahren folgen, vor allem seit er 2018 bei den Präsidentschaftswahlen angetreten ist. Am Ende wurde seine Kandidatur abgelehnt, aber die Kampagne lief ja eine Weile.“

In Russland sind sämtliche Abteilungen der Regierung und jedes Wirtschaftsunternehmen so korrupt, dass man für die richtige Summe alles kaufen kann: Passagierlisten, Kfz-Zulassungsdaten, Passdaten. Der Widerstand gegen Putin nutzt die korrupten Praktiken des Herrschaftsapparats, um seine Todesmaschinerie offenzulegen. Das hat schon auch eine gewisse Schönheit an sich.

Ben fuhr fort: „Es gibt da also eine Gruppe von Leuten, von denen Bellingcat behauptet, sie seien die FSB -Attentäter-Einheit, die Nawalny verfolgt. Bellingcat stellt dann fest, dass diese Gruppe auch in andere Giftanschläge gegen Oppositionspolitiker in Russland verwickelt ist. Und sie untersuchen die Expertise dieser Gruppe in Bezug auf den Umgang mit Giften. Und irgendwann lassen sie die Informationsbombe platzen, die letztlich für viele Leute nur bestätigt, was sie ohnehin vermutet haben. Die Details, die Bellingcat dokumentiert, sind wirklich beeindruckend, aber das i-Tüpfelchen ist die Geschichte, dass Nawalny höchstpersönlich jemanden angerufen hat, der zu dieser Gruppe von Attentätern gehört. Man kann Nawalnys Mut nur bewundern, dass er da anruft und sich für ein hohes Tier beim Geheimdienst ausgibt. Er findet genau den richtigen Ton, die richtige Sprache. Nawalny bringt ein Mitglied vom ‚Team Giftmord‘ dazu zu sagen: ‚Na ja, wir haben das Gift in seine Unterhose gepackt.‘ Das ist ja schon ein außergewöhnliches Eingeständnis.“

Bellingcat und The Insider haben die Untersuchung weitergetrieben, haben die Gruppe, die Nawalny verfolgte, mit anderen Todesfällen in Verbindung gebracht – darunter die der Menschenrechtsaktivisten Timur Kujaschew im August 2014 und Ruslan Magomedragimow im März 2015 sowie den des Politikers Nikita Isajew im November 2019. Eine weitere gemeinsame Untersuchung brachte das Ergebnis, dass der russische Oppositionelle Wladimir Kara-Mursa von derselben Gruppe verfolgt wurde, bevor man im Mai 2015 und Februar 2017 vermutlich zwei Giftanschläge auf ihn verübte, die er jedoch überlebte.

Im Januar 2021 flog Nawalny zurück nach Russland – wohl wissend, dass ihm Verhaftung, Verurteilung und Lebensgefahr drohten. Doch der tapfere Mann sah keine Alternative. Er wusste, wenn er im Exil bliebe, könnte er Putin nie aus dem Kreml vertreiben. Unmittelbar nach der Landung in Moskau wurde er verhaftet und anschließend vor Gericht gezerrt. Dort saß er in einem Glaskäfig, und als man ihn abführte, um ihn in die Strafkolonie zu bringen, machte er mit den Fingern ein Herzzeichen für seine Frau Julia. Das war ein schöner, romantischer Moment, ein Zeichen von Anmut unter Druck und eine weitere Erinnerung daran, dass ein anderes Russland möglich ist.

Nawalny hatte aber noch ein weiteres Ass im Ärmel. Sobald er hinter Gittern saß, ließ er einen Film auf YouTube hochladen, einen extrem komischen Film mit dem Titel Putin’s Palace . Man sieht den mindestens 1 Milliarde Dollar teuren Palast am Schwarzen Meer, den Putins Kumpane bezahlt haben und der von Putins Präsidentengarde bewacht wird. Nawalnys Anti-Korruptions-Stiftung war dort, hat Drohnen über den geheimen Ort fliegen lassen, nutzt Fotos aus dem Inneren und zeigt die Architektenpläne, um zu dokumentieren, welche obszönen Summen für dieses Projekt ausgegeben wurden. Nachdem der Film veröffentlicht war, taten Putin und die von ihm gesteuerten Medien ihn als unbedeutend ab, aber bis heute haben ihn mehr als hundertzwanzig Millionen Menschen gesehen, darunter viele Russen. Man erinnert sich an die bereits erwähnte 700 Dollar teure goldene Klobürste, an die Aqua-Disco – was auch immer zum Teufel das sein mag. Und an Nawalnys etwas grobschlächtigen Sidekick Georgi Alburow, der alle Checkpoints an Land austrickste, indem er in einem Schlauchboot mit starkem Außenbordmotor so nah an der Küste des Schwarzen Meeres entlangfuhr, dass er eine Drohne über den Palast fliegen lassen konnte. Das ist investigativer Journalismus, für den man wirklich Eier braucht.

Nawalny sitzt nach wie vor im Gefängnis, aber er ist am Leben. Warum in aller Welt bringt der Kreml ihn nicht um?, werde ich manchmal gefragt. Die Antwort ist ganz einfach: Wenn Nawalny, ein fitter Sechsundvierzigjähriger, in der Haft stirbt, werden die besten Menschen von Moskau und Sankt Petersburg auf die Straße gehen, um zu protestieren. Davor hat der Herr des Kremls eine geradezu morbide Angst. Und es gibt noch etwas, vor dem er sich krankhaft fürchtet: vor dem Sterben.

Darin liegt eine gewisse Ironie, denn es gibt Hinweise darauf – wenn auch undurchsichtige, schließlich reden wir von Russland –, dass ihm genau das bevorstehen könnte.