W ie wird das enden? Wie wird ein wie immer auch erreichter Friede aussehen? Was wird die Ukraine akzeptieren? Und wie sähe ein letzter Akt aus, mit dem Wladimir Putin leben könnte? Oder wird es zu der viel beschworenen fatalen Schlussszene kommen, in der ein mit dem Tode ringender Mann den roten Knopf drückt?
Das vom Kreml produzierte Schmierentheater läuft jeden Abend im russischen Staatsfernsehen. Vorgeführt wird eine Kakofonie von Stimmen, die miteinander streiten, manchmal sogar leidenschaftlich. Aber nie sagt eine dieser Stimmen, Putin sei ein Ganove und Giftmischer; nie fällt der Name Nawalny. Es ist ein streng kontrolliertes Varietéprogramm, das der Zirkusdirektor aus dem dunklen Hintergrund aufmerksam verfolgt. Er wartet darauf, dass einer der Clowns den Narrenwagen gegen die falsche Wand fährt oder dass eine Trapezkünstlerin einen nicht eingeplanten Schrei ausstößt, wenn sie hart auf dem Boden aufschlägt. In manchen Momenten, wenn das Scheinwerferlicht auf die richtige Stelle fällt, eröffnet die Zirkusvorstellung einen unscharfen Blick durch ein vereistes Fenster in Wladimir Putins Seele. Die Chef-Knallcharge ist Wladimir Solowjow, das Schwein Schwatzwut aus Orwells Farm der Tiere , nur ohne dessen Charme. Mit Vorliebe zitiert Solowjow Aussagen Putins aus einem Interview, das er 2018 mit ihm geführt hat: „Welchen Sinn hätte eine Welt, in der es kein Russland gäbe?“ Garniert mit einem weiteren Putin-Zitat aus demselben Jahr: „Wenn sie einen Atomkrieg beginnen, werden wir reagieren. Aber wir, die wir rechtschaffene Menschen sind, werden direkt in den Himmel kommen, während sie nur abkratzen werden.“
Abkratzen. Man beachte den Gangstersprech. Hut ab übrigens vor Masha Gessen für eine brillante Karikatur des vom Kreml veranstalteten Medienvarietés in der Mai-2022-Ausgabe des New Yorker . Oder vor Martin Amis, der ein schönes Stück geschrieben hat über Gewalt – wie die Person, die sie ausübt, genau weiß, dass du dieses Spiel nicht mitmachen willst, dass jeder anständige menschliche Instinkt dich drängt davonzulaufen. Das ist es, was Putins Schwein Schwatzwut von uns allen erwartet. Die Ukrainer haben keine Wahl. Sie können nirgendwo anders hinlaufen.
Borodjanka gewährt uns einen guten Einblick in die tiefe Kluft zwischen der ukrainischen Demokratie und dem Schmierentheater des Kremls. Die Kleinstadt liegt rund 65 Kilometer nordwestlich von Kyjiw, und um ins Zentrum zu gelangen, mussten wir im Slalom zahllose Autowracks umkurven, von Artillerie zerfetzt trotz der gut lesbaren Aufschrift „djeti“ („Kinder“) auf den Frontscheiben: Kriegsverbrechen auf Kriegsverbrechen auf Kriegsverbrechen.
Vier Wohnblocks umsäumen den Hauptplatz des Städtchens. Ein Block ist von einer von einem Kampfjet der russischen Luftwaffe abgefeuerten Rakete in Schutt und Asche gelegt worden, schon in der Anfangsphase des Krieges, als die Invasoren aus dem theoretisch neutralen Nachbarland Belarus durch die radioaktiv verstrahlte Sperrzone um Tschernobyl Richtung Kyjiw vordrangen. Borodjanka lag auf dem Weg dahin – oder, besser gesagt, stand im Weg.
Liza Kozlenko, Mike Weiss, Alex Zakletsky und ich schlendern über den Kinderspielplatz, ohne richtig wahrzunehmen, was wir mit eigenen Augen sehen. In einem zweiten Wohnblock ist ebenfalls ein Geschoss eingeschlagen und hat ein großes Loch gerissen, doch ist das Dach irgendwie intakt geblieben, sodass das Gebäude ein bisschen wie ein Rettungsring aussieht. Ein sowohl obszöner als auch auf makabre Weise faszinierender Anblick: Wie zum Teufel konnte dieses Dach standhalten? Feuerwehrleute schauen zu, wie ein Schaufelbagger große Betonbrocken aus dem Trümmerschutt zieht. Sie warten darauf, dass weitere Leichen zum Vorschein kommen. Letztlich werden sie um die vierzig Tote bergen. Es war ein Wohnblock, jetzt ist es ein Massengrab.
Unter unseren schuldlosen Füßen ist der Spielplatz mit dem Krimskrams gewöhnlicher außergewöhnlicher Menschen übersät, von russischen Sprengkörpern 75 Meter durch die Luft katapultiert: ein Kindertagebuch, ein Preis, der einer Schülerin namens Julia für die Bestnote in einer mündlichen Englischprüfung an der örtlichen Schule verliehen wurde, ein Zettel mit der Bitte, Milch einzukaufen.
Zwei der vier Wohnblocks sind beim Angriff der russischen Luftwaffe nicht in Schutt und Asche gebombt worden. An ihnen haben Soldaten des russischen Heers ihre Plünderlust ausgetobt, haben Geld und Schmuck mitgenommen. In einer der Wohnungen hängt an der Kühlschranktür eine rührende Liebeserklärung eines Mannes an seine Frau, davor hat jemand einen Bademantel auf den Boden gelegt und draufgekackt. In einem anderen Stockwerk stößt Mike auf eine Tür mit einem Sperrsiegel am Schloss und der Warnung, die Wohnung dahinter sei vermint. Liza findet eine Katze – verdreckt und mit einem Antlitz, das sowohl Ruhe ausdrückt als auch Traumatisierung nach dem nie da gewesenen Schrecken, den sie erlebt hat. Die russischen Truppen scheren sich so gut wie gar nicht um die Regeln der Kriegführung, um die Gebote zivilisierten Verhaltens und einfachen menschlichen Anstands. Einen Waffenstillstand auszuhandeln mit einer Streitmacht, die Wohnblocks mit Raketen beschießt, Zivilisten massakriert, schutzlose Frauen vergewaltigt und Privatwohnungen ausplündert, wird nicht einfach sein.
Hat Wolodymyr Selenskyj den Nerv, seinem eigenen Volk einen Friedensvertrag mit einem Killer zu verkaufen? Er ist clever. Frage: Wie veranstaltest du eine Pressekonferenz in deiner Hauptstadt, wenn du weißt, dass du das Zielobjekt Nummer eins der gesamten russischen Marschflugkörperflotte bist? Antwort: Du hältst sie in einem U-Bahnhof ab, hundert Meter oder mehr unter Straßenniveau, wo die Mobiltelefone von Hunderten Journalisten nichts über deinen Aufenthaltsort preisgeben. In seinen „Kampfanzug“ aus olivgrünem T-Shirt und graubrauner Hose gekleidet, schlendert er zu seinem Stuhl, nimmt vor der in Kyjiw versammelten Weltpresse Platz, dankt uns allen für unser Kommen und für unsere Arbeit und bittet um Fragen. Hat er Angst, getötet zu werden? Er schmettert das ab – zu viele Menschen sind schon gestorben, zu viele setzen im Kampf ihr Leben aufs Spiel, als dass er sich darüber Gedanken machen könne.
Hin und wieder rauscht während der Pressekonferenz ein U-Bahn-Zug vorbei, dann legt Selenskyj eine kurze Pause ein. Seine Leibwächter beobachten uns alle mit Wolfsaugen, aber das tun diese Leute ja immer. In Sarajevo erlebte ich 1993, als die Stadt sich bereits unter Granatenbeschuss befand, eine Aufführung von Warten auf Godot (in serbokroatischer Sprache) unter der Regie von Susan Sontag. Selenskyjs Pressekonferenz ist auf ihre Art ein noch dramatischeres Erlebnis, nicht so sehr wegen seiner Aussagen – die er mit einer tiefen Stimme, bedacht und beruhigend, vorbringt –, sondern einfach deswegen, weil er sie überhaupt veranstaltet.
Merken wir uns das: Zu Beginn des Krieges war es das Schwierigste für mich, mit dem klarzukommen, was gute Freunde in London und New York mir dringend rieten: Mach dich aus dem Staub, denn du bist ein bekannter Kreml-Gegner. Denselben Rat bekam Selenskyj, potenziert, aus der Downing Street und aus dem Weißen Haus, worauf er erwiderte: „Wir brauchen Munition, keine Mitfahrgelegenheit.“
Das war – ist – seine größte Stunde.
In der Pressekonferenz stand ich eine ziemlich lange Zeit mit meinem hochgereckten Papierschildchen mit der Aufschrift Jewish Chronicle da und hatte die Hoffnung, mit einer Frage an die Reihe zu kommen, fast schon aufgegeben, als Liza mich ins Blickfeld von Selenskyjs Pressemann schob. Ich bat den Präsidenten um eine Botschaft an die russische Opposition, an die jungen Leute, die in Moskau gegen den Krieg demonstrieren und von der Polizei die Zähne eingeschlagen bekommen, an den Mann, der verhaftet wurde, nur weil er ein Exemplar von Tolstois Krieg und Frieden hochhielt, an Nawalny. Selenskyj antwortete, er sei diesen Menschen dankbar, denn „Worte sind genauso mächtig wie Bomben“.
Einfach um es noch mal festzuhalten: In Russland bin ich praktisch kaltgestellt – es gibt keine Pressekonferenzen. Der Kommandeur der Privatarmee des Kremls hat sich SS -Runen eintätowieren lassen. In der angeblich von Nazis unterwanderten Ukraine habe ich, freier Mitarbeiter einer jüdischen Zeitschrift, die Freiheit, den Präsidenten (der Jude ist) auf einer Pressekonferenz (wenn auch 150 Meter unter der Erde) auf die guten Russen anzusprechen, die gegen den Krieg sind, und er spricht ihnen seinen Dank aus. Der Historiker Timothy Snyder hat zur Charakterisierung dieses Phänomens – der Dämonisierung der Ukrainer als Nazis durch die Kreml-Propaganda – den Begriff „Schizo-Faschismus“ geprägt: Faschisten werfen ihren nicht faschistischen Opfern vor, Faschisten zu sein.
Kurz vor meiner Abreise aus Kyjiw Anfang Mai ging ich mit den Journalisten und Filmemachern Oz Katerji und Emile Ghessen frühstücken. Über drei vollen ukrainischen Frühstücken bissen wir drei Freischaffende uns die Zähne an der Frage aus, wie es weitergeht. Wir alle hatten dasselbe Gefühl: dass Russland dabei ist, den Krieg zu verlieren, und die Ukraine gute Aussichten hat, ihn zu gewinnen; dass die schweren Waffen – insbesondere die reichweitenstarken Artilleriegeschütze aus US -Produktion – das Blatt zugunsten der Ukraine wenden würden; und dass die einfachen Ukrainer mit Russland und dem russischen Volk abgeschlossen haben; sie haben in den letzten Monaten zu viele Barbareien gesehen (oder davon gehört und gelesen), als dass sie noch bereit wären, einen Verhandlungsfrieden mit Wladimir Putins Mordmaschine hinzunehmen. Wir hatten für die Haltung der Ukrainer mehr oder weniger Verständnis, pflichteten ihr mehr oder weniger bei. Meine persönliche rote Linie war überschritten, als eine Einheit der russischen Armee den mit Flüchtlingen vollgepackten Bahnhof von Kramatorsk mit zwei Raketen des Typs Totschka-U zerbombte.
Mit ballistischen Boden-Boden-Raketen wie der Totschka zu schießen, ist so ähnlich wie Golf spielen, eine endlos durchexerzierte Übung in kartesischer Geometrie. Ein Sport, bei dem es auf äußerste Genauigkeit ankommt. Filmaufnahmen des Bahnhofs Kramatorsk, vollgestopft mit vor dem Kriegsgeschehen im Donbass fliehenden Frauen und Kindern, waren allgegenwärtig. Der kommandierende Offizier musste wissen, dass das Zielobjekt voll mit zivilen Flüchtlingen war. Mehr als fünfzig Menschen starben. Unter den Überlebenden waren eine Mutter und ihre Zwillinge. Fotos aus einer Krankenstation zeigten die drei: Die Tochter hatte beide Beine verloren, die Mutter eines, der Sohn keines. Die russischen Streitkräfte hatten bei dieser Trainingseinheit in kartesischer Geometrie im wahrsten Sinn des Wortes Knochenarbeit geleistet.
Und dann ist da noch Mariupol.
Weiß Gott, wie viele Zivilisten die russische Armee in der Hafenstadt am Asowschen Meer auf dem Gewissen hat. Es kursieren Geschichten über Krematorien auf vier Rädern, die Leichen zu Asche verbrennen. Auf Satellitenbildern sind immer mehr Massengräber zu erkennen. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Bevölkerung der Ukraine einem Verhandlungsfrieden zustimmt, der Teile ihres Landes unter permanenter russischer Kontrolle belassen würde, ist gleich null oder doch so nahe bei null, dass es müßig wäre, sich darüber Gedanken zu machen. Selenskyj wird es nicht darauf ankommen lassen. Der Krieg läuft, um es noch mal zu sagen, nicht gut für Russland, auch weil die Kampfmoral der russischen Truppen dürftig ist. Ihre Logistik ist miserabel, von oben bis unten; ihre Befehlshaber sind schlecht in der doppelten Bedeutung des Wortes: schlecht im Sinne von inkompetent und schlecht im Sinne von böse.
Nach meiner Überzeugung wird also die russische Armee früher oder später die Waffen strecken, und Wladimir Putin wird seine ultimative Demütigung erleben.
Wird sich die Rachsucht des Zaren aller Zombies nicht nur gegen die Ukrainer richten, sondern gegen uns alle? Kurz bevor ich die Ukraine verließ, um etwas Zeit mit meiner Familie zu verbringen – im Juni geht es zurück nach Kyjiw –, schmiss ich eine Abschiedsparty. Mein letztes Domizil in Kyjiw war schick, hatte aber eine unsinnige Drei-Türen-Konstellation, die bewirkte, dass man, wenn man auf dem Klo oder in der Besenkammer war und jemand die Vordertür öffnete, nicht mehr rauskam. Semen Hlusman, der Psychiater, war einer der ersten Gäste, die zu der Party kamen. Jemand steckte im Klo fest, deshalb bugsierte ich den fünfundsiebzigjährigen Semen kurz in die Besenkammer und schloss deren Tür, um die Haustür öffnen zu können, woraufhin sich eine ganze Horde ukrainischer Gäste mit Händen voller Geschenke und britischer Gäste mit Bierdurst ins Haus ergoss. Ich hechtete in die Küche und schenkte Getränke ein, bis in einer Sekunde, in der das Stimmengewirr nachließ, jemand sagte: „Wer klopft da?“
Ich hatte einen der weltweit bedeutendsten Psychiater in meine Besenkammer gesperrt. Ich ließ ihn heraus, und er sagte mit einem schiefen Lächeln: „Das ist nicht ganz so schlimm wie die Strafarrestzelle im Gulag.“ Das schreiend Komische an der Sache war, dass praktisch alle Gäste, ganz sicher die britischen, den Rat eines Seelendoktors nötig gehabt hätten. Stattdessen war er der, der weggesperrt wurde.
Wieder auf freiem Fuß und mit einem Glas in der Hand, antwortete Semen auf meine Frage, ob er Putin immer noch für zurechnungsfähig halte: „Ja. Er ist ein Psychopath, aber er ist zurechnungsfähig.“
Das ist die eminent gute Nachricht. Ein zurechnungsfähiger Mensch, auch ein rational denkender Psychopath, wird nicht die Erde in die Luft jagen. Der Krieg in der Ukraine ist eine Katastrophe für viele unschuldige Menschen in dem Land, aber auch eine Schmach für den Herrscher im Kreml. Er beschloss, mit einer rund 200000 Mann starken Armee in der Ukraine einzufallen. Die Mathematik der Kriegführung ist simpel: Wenn du der Angreifer bist, brauchst du mehr Soldaten als der Angegriffene. Drei zu eins ist eine gängige Quote. Die Ukraine hatte in ihren Streitkräften 200000 Mann unter Waffen, dazu weitere 100000 bei den militarisierten Polizeitruppen, in Summe also 300000 Mann. Russland hätte demzufolge 900000 aufbieten müssen, besser noch eine Million, um die Ukraine zu überrollen. Stattdessen marschierten sie mit 100000 Mann weniger ein, als die Ukraine unter Waffen hatte. Putin hatte wohl erwartet, dass die Ukraine – gespalten, verzagt, geschwächt durch Schwulenrechte und anderen westlichen Unsinn – zu Staub zerfallen würde.
Da täuschte er sich gewaltig.
Der ukrainische Kampfgeist, die Traktorfahrer, die Leidenschaft, die hinter dem Hohn und Spott lodert, all das bestärkt mich in der Überzeugung, dass die Drei-zu-eins-Quote in diesem Fall zu niedrig angesetzt ist, dass Putin eine Sieben-zu-eins-Überlegenheit gebraucht hätte, mehr als zwei Millionen Soldaten unter Waffen. Er hat nur ein Zehntel davon aufgeboten und die Schlacht um Kyjiw verloren.
Die Schlacht um den Donbass ist noch nicht entschieden, während ich dies Anfang Juni 2022 schreibe. Der Fleischwolf der russischen Armee verbucht Gewinne. Die russische Armee verfügt über stark überlegene Artillerie. 10000 ukrainische Soldaten sind umgekommen. Außerdem starben 30000 russische Soldaten, aber das kümmert Wladimir Putin nicht. Er hat reichlich Frischfleisch, das er in den Kampf schicken kann. Von frommen Wünschen mal abgesehen, hat der Westen der Ukraine bis jetzt nicht genug schwere Geschütze geliefert, um die Russen zu besiegen. Also bluten die Verteidiger langsam und grauenhaft aus, mit 100 toten Soldaten pro Tag.
Genauso schlimm ist die Blockade der ukrainischen Schwarzmeerhäfen durch die russische Marine. Also der Häfen, die sie nicht schon in Schutt und Asche gelegt haben. Ukrainisches Getreide ernährt einen großen Teil des Mittleren Ostens und Afrikas. Sollte der Westen nicht gegen die Blockade vorgehen, wird Putin einen Hunger-Krieg gewinnen.
Vlad Demchenko, der Soldat, der mich am zweiten Tag des Krieges verhaftete, weil er mich für einen russischen Spion hielt, ist heute Leutnant beim Freiwilligen-Korps der ukrainischen Armee. Auf dem Reservestützpunkt seines Bataillons, während seine Kameraden versuchten, ein beschädigtes Maschinengewehr aus einem russischen Schützenpanzer zu reparieren, erklärte er mir, warum viele Ukrainer die russischen Soldaten „Orks“ nennen: „Das kommt alles von diesen Tolkien-Filmen. Und Mordor. Wir haben Russland Mordor genannt, weil die Ukraine an ein grünes Hobbit-Land erinnert, mit friedlichen Bewohnern, die einfach nur tanzen, Bier trinken und das Leben genießen wollen. Und dann sind da diese Kreaturen, die einfach nur Gewalt wollen.“
Vlad glaubt, dass die Ukraine am Ende siegen wird, und ich stimme ihm zu. Wenn der Westen endlich aufhört, zu zaudern und den Ukrainern das ganze schwere Geschütz liefert, das sie brauchen, wird die russische Armee anfangen zu zerbrechen. Ökonomisch, moralisch und, drücken wir die Daumen, militärisch wird Wladimir Putin den Krieg im Endeffekt verlieren. Der Westen kann es sich nicht leisten, ihn gewinnen zulassen.
Russland hat eine eher kurzatmige Toleranz für Fehlschläge. Ich habe das Gefühl, dass Wladimir Putin den Maschinenraum des Kremls nicht mehr so souverän steuert wie noch Anfang 2022. Und dass die Kreml-Maschinerie ihrem Herrn und Meister nicht mehr so gehorcht wie früher. So langsam wirkt er wie der Zauberer von Oz. Wir warten nur noch darauf, dass der kleine Hund den Vorhang wegzieht und alle Welt den zum Zwerg geschrumpften Hochstapler erblickt, wie er in sein Megafon kräht.
Falls Wladimir Putin je den Befehl erteilt, den roten Atomknopf zu drücken – etwas, das Semen Hlusman ihm nicht zutraut –, glaube ich nicht, dass der Befehl ausgeführt würde. Das Schmierentheater im Kreml wird weiterhin mit dem nuklearen Inferno drohen, aber es ist wichtig zu verstehen, dass das Spiegelfechterei ist. Wir hier im Westen können auch auf eine für den Kreml ungemütliche geopolitische Realität verweisen: China ist eine im Aufstieg begriffene Macht. In einem der kriegerischen Planspiele, die im Pentagon durchexerziert werden, tut sich die US Army mit Russland zusammen, nachdem ein nach Wasser und Erdöl dürstendes China in Sibirien einmarschiert ist. Weshalb sollte der Westen Russland gegen seinen großen Nachbarn China beistehen, wenn Russland seinen sehr viel kleineren Nachbarn Ukraine mit so ungerechtfertigter Brutalität angreift? Viel zu lange hat der Westen gezittert, wenn Putin ihn angeknurrt hat. Die Courage der Ukrainer hat uns eine alte Erkenntnis neu vor Augen geführt, die wir zu unserem potenziell fatalen Schaden fast vergessen hätten: dass die Demokratie immer verteidigt werden muss, dass die Redefreiheit uns nicht frei Haus geliefert wird. Mit viel zu langer Verzögerung hat der Westen, so scheint es jedenfalls, die Lektion gelernt, und das ist kein gutes Omen für den Herrscher im Kreml und seine Spießgesellen.
Der letzte Romanow beging einen ähnlich gearteten Fehler wie Wladimir Putin heute: hoffnungslose Überschätzung der Kampfkraft der russischen Streitkräfte und der Bereitschaft ihrer Zwangsrekrutierten, für eine Sache zu sterben, die ihnen niemand in einem Satz erklären kann. Nikolaus II . wurde im Juli 1918 mitsamt seiner ganzen Familie im Keller des Ipatiew-Hauses in Jekaterinburg erschossen.
Ich traue mir die Voraussage zu, dass Wladimir Putin nicht mehr viel Zeit auf dieser Welt verbringen wird. Noch wird der Rubel von den üppigen Finanzreserven Russlands aufgepumpt, aber wenn die westlichen Sanktionen erst einmal richtig greifen, wird die russische Wirtschaft in die Knie gehen, und dann wird das russische Volk sich erheben. Wieder einmal. Oder einer von Putins Generälen wird vorher zur Pistole greifen. Oder einer seiner Ärzte wird dafür sorgen, dass Putin nach einer Operation nicht mehr aufwacht. Oder er stirbt an einem Tumor, gemästet von einem Übermaß an Steroiden.
Dass Putin am Ende sich selbst ein tödliches Gift verabreichen könnte, wäre ein Schlussakt, der Shakespeare alle Ehre machen würde.
Wie sein alter Narr, der König, sagte: Schicksal, schieb das Glücksrad an!